Tag 1 Einschiffung
„Ich wünsche euch viel Erholung, macht euch keine Sorgen, ich schaffe das schon. Ich hab euch lieb“, der Facebook-Eintrag von unserer Katzenpflegemutter Nicki ist ganz ehrlich, aber sie kann noch nicht wissen, dass die Erholung erst einmal mit Stress beginnt, weil der Bus am Samstag nicht um 5.30 Uhr kommt. So warten wir etwa eine halbe Stunde, in der meine beginnende Erholung und gute Laune auf den Nullpunkt sinkt. Wir sind vergessen und ich sehe mich schon jammernd den Rest des Urlaubs auf Balkonien verbringen. Gott sei Dank taucht ein Bus unserer Reisegesellschaft auf, der uns zwar nicht mitnimmt, aber dessen Reiseleiter sich um uns kümmert. Dann geht alles ganz schnell. Ein Taxi wird bestellt, das uns 30 km weiter zum wartenden Bus bringt. Unsere Papiere hatten die falsche Uhrzeit. Die Reiseleiterin war aus irgendeinem Grund froh, uns doch noch im Bus zu haben. Irgendwie hatten wir nicht nur falsche Unterlagen, sondern die Reiseleiterin hatte auch falsche Telefonnummern von uns. So begann die Reise mit einer kleinen Aufregung und unsere Nicki hatte recht, die Erholung konnte beginnen. Wir sitzen im Bus, die Sonne scheint, es geht nach Warnemünde zur Costa Fortuna und dann in die norwegischen Fjorde. Erholung pur, Nicki wir lieben dich auch und unsere beiden Kater hoffentlich auch. Ich bin zufrieden, höre Pink Floyd und schalte ab. Klack. Ich denke an nichts mehr…
Um 11 Uhr kommen wir in Warnemünde an, viel zu früh, um 13 Uhr ist Einschiffung. Wir beschließen, uns ein wenig in der Stadt umzusehen, was mit dem Handgepäck gar nicht so einfach ist. Es lässt sich nicht schultern, enthält meine Technik und ist sehr schwer. Wir finden keinen Platz, wo wir es abstellen können, und so muss ich es schleppen, was meiner Laune nicht gerade zuträglich ist. Also versuchen wir erst einmal, den ess- und trinkbaren Inhalt zu reduzieren, haben aber nicht den richtigen Hunger. Dafür hat meine Kamera umso mehr Hunger und ich bin schon auf der Jagd nach Motiven für meinen Reisebericht. Eine Gruppe von Punkmusikern ist ein anachronistisches Detail inmitten der doch so maritimen Umgebung. Überhaupt laufen hier viele Typen aus der Szene herum, deren Outfit interessant, aber irgendwie abgerissen wirkt. Mir fällt eine Frau mit Kind an der Hand und Mann dazu auf, eigentlich nichts Besonderes, wäre da nicht ihr T-Shirt. „Gesocks und Assi aus…“, wahrscheinlich aus ihrem Heimatdorf. Die Kleidung ist dunkelschwarz bis blau, die Haare seltsam bunt und der Mann hat eine Seite komplett abrasiert und wirft die überdimensionale Strähne vom Scheitel nach hinten. Alles wirkt ein wenig lächerlich, aber irgendwie glücklich. Der Kanal hinter dem Bahnhof ist voll von Imbissbuden aller Art, und an den Kais hängen alte Schiffe in den Tauen. Motive gibt es genug. Nach den vielen Fotoshootings zu Hause mit den Mädels ist das eine willkommene Abwechslung.
Zum Abendbrot bekommen wir einen Tisch mit unserer Reisegruppe. Leider sind die uns zugeordneten Leute nicht nur alt, sondern auch mundfaul. Endlich aber kommt noch ein Ehepaar, die mitteilungsbedürftiger sind und schon bald haben wir ein gemeinsames Thema; Katzen. Na bitte, geht doch. Ich sehe meine Katzenpflegemutter zu Hause auf dem Boden krauchen auf der Suche nach unserem ängstlichen schwarzen Katers und muss unwillkürlich über das Bild lachen.
Der Tag war doch sehr stressig und so fallen wir schon um 21:00 Uhr ins Bett und schlafen sofort ein.
2. Tag – Kopenhagen
Kopenhagen hat sich in einen Wolkenmantel gehüllt und wir stehen schon früh an der Reling, um die Ankunft zu filmen. Im Frühstücksraum ist ein riesiges Gedränge, heute stehen Ausflüge in und um Kopenhagen auf dem Programm. Wir selbst haben uns vorgenommen, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden, denn auf der Fahrt nach St. Petersburg haben wir bereits an einer Stadtführung teilgenommen. Doch noch hängen wir beim Frühstück unseren Gedanken nach und ich lausche dem Stimmengewirr, aus dem ich ein paar Fetzen aufschnappe. „Gott sei Dank, das Schiff schaukelt nicht…“, „Du musst nicht dauernd ein Getränk bestellen, das ist teuer…“, „Die Kellner können kein Deutsch, das kann ich nicht leiden…“, „Walter, kannst du mir bitte ein Stück Kuchen holen, ja und die Gabel ist nicht sauber, ich brauche eine neue und vielleicht etwas Wasser, ein Brötchen wäre auch schön…“. Walter blieb bei jedem Befehl stehen und nickte, ich sah ihn nie wieder, wir waren früher fertig.
Ein Shuttlebus für 20 Euro, den wir erst nach langem Suchen (und nur dank unserer Englischkenntnisse) fanden, brachte uns in die Innenstadt von Kopenhagen zu einem von Kanälen durchzogenen Platz. Wir hatten kein Geld gewechselt, wollten nichts essen, sondern begaben uns auf Fototour. Auffallend waren die alten Hansehäuser, die unzähligen Fahrräder und die roten Briefkästen. Mit Hilfe eines Stadtplans und unseres Navigators machten wir eine Sightseeing-Tour, besuchten die Amalienburg, den Botanischen Garten und einen anderen schönen Park, in dem einige Obdachlose schliefen. Dort hatte eine Gruppe Jugendlicher eine mobile Musikstation, aus der laute Technoklänge dröhnten. Ich konnte nicht widerstehen und tanzte ein paar Rhythmen mit, sehr zur Belustigung der Gruppe, die mir zuwinkte. Manchmal ist man jünger als man denkt. Was wussten sie schon von meiner Discozeit, wo ich stundenlang auf der Tanzfläche stand, damals noch mit längeren Haaren und ohne Bauch.
Die Fotos machten sich von selbst, denn die Stadt bot genug Motive. Nach zweieinhalb Stunden waren wir todmüde und fuhren mit dem Shuttle zurück, um nach einem ausgiebigen Mittagessen in die Kabine zu gehen und ein Nickerchen zu machen.
Nach der Pause beschloss ich, in die Bibliothek zu gehen und meinen Reisebericht zu schreiben. Obwohl der Raum sehr schön eingerichtet war, mit einem Globus und anderen maritimen Dingen, gab es zum Bedauern meiner Frau keinen Blick auf das Meer oder den Hafen. Also suchten wir uns einen anderen Platz, den wir auch schnell fanden. Kaum ein Mensch war zu sehen und das bei über dreitausend Menschen an Bord. Ich startete meinen Computer, der sich sofort beschwerte, dass seine Batterie zu schwach sei und zack, war er auch schon unten. Was für eine Pleite, ich war stinksauer. Schließlich musste ich lesen, dazu hörte ich Musik von Pink Floyd (nach über 20 Jahren endlich mal wieder), was meine Laune allmählich besserte. Meine Frau atmete auf, sie wusste, wie anstrengend ich sein konnte, wenn etwas nicht so klappte, wie ich es geplant hatte. 200 Seiten und einen Latte Macchiato später war es Zeit für das Abendessen, die Zeit verging wie im Flug und das Schiff war so ruhig wie nie zuvor. Obwohl es erst der zweite Tag an Bord war, tauschten wir schon Fotos mit der Familie aus. Die Frau fand unsere Katzen ganz entzückend, der Mann interessierte sich mehr für die Konsistenz seines Essens. Der Abend klang mit einer Show im dreistöckigen Rex Theater aus. Musikalisch und in sehr schönen Kostümen durchstreiften die Sänger und Tänzer die Jahrhunderte, von den Tieren der Savanne bis zum Biedermeier. Es gab seichte Melodien und schöne Frauen, Unterhaltung pur. Müde fielen wir ins Bett, nachdem ich noch ein paar Nachtaufnahmen vom Schiff gemacht hatte. Ich dachte kurz an meine Katzen und ihre beiden Pflegeeltern, die eine 76, die andere 16 Jahre alt, die eine pflegeerfahren, die andere gewissermaßen Auszubildende, beide gute Freundinnen von uns. Gute Nacht Kater Marlowe, gute Nacht Kater Milow, gute Nacht Nicki, gute Nacht Christa, gute Nacht Sylvia und Klack, ich dachte an nichts mehr…
3. Tag – Tag auf See
Eigentlich könnten wir heute ausschlafen, es ist ein Tag auf See. Aber Sylvia hat genug vom Frühstücksrummel und lässt sich lieber bedienen, als inmitten einer ständig plaudernden Menge am Buffet zu stehen. Ich bedaure es ein wenig, denn ich beobachte die Menschen um mich herum sehr gerne, aber eigentlich nervt mich das Gewusel doch ein wenig. Im Restaurant, das schon um 7 Uhr morgens öffnet (daher das frühe Aufstehen), ist es ruhiger und die Stimmung viel besser. Für einen Moment scheint es mehr Kellner als Gäste zu geben, doch nach und nach füllt es sich ohne Hektik. Dass ich morgens nur Milch trinke, ist für die Kellner etwas verwirrend. Irgendwie können sie nicht glauben, dass es solche männlichen Exoten gibt. Nachdem ich in bestem Englisch nachdrücklich meine Milch einfordere und kurz nach dem ersten Glas ein zweites bestelle, gibt mir der entnervte Kellner nach der dritten Bestellung prompt drei Gläser. Na bitte. Der Blick aufs Meer und ein Frühstück mit Ei und Schinken, was will man mehr? Es ist gar nicht so schwer, den Tag an Bord eines riesigen Luxusliners zu verbringen, wenn man weiß, was man will. Nach dem Frühstück ging es in den elften Stock auf eine Sonnenliege. Es war kühl, aber mit zwei Decken und blauem Himmel ließ es sich gut liegen. Dass kurz darauf Musik ertönte, war ja noch ok, aber als die Animateure anfingen, ihren Gymnastikwahnsinn vorzuführen, war es für mich genug. Sylvia blieb an Deck und ich brachte mich und meinen Bauch in Sicherheit. Wir beschlossen beide, uns ein ruhiges Plätzchen zu suchen und den Reisebericht zu schreiben, außerdem hatte ich noch ein paar Geschichten offen und wollte noch das Drehbuch für unseren Filmdreh in der Saline in Halle schreiben. Ich hatte also genug zu tun!
„Can I get one Cappuccino?“, fragte ich den Kellner, gab ihm meine Bordkarte und erhielt nach Abbuchung von 2,50 € und der Servicegebühr von 15 % (0,38 €) sofort das Glas. Die zusätzliche Servicegebühr auf alle Getränke war mir neu und ich hielt es für eine übertriebene Abzocke. Jeden Tag wurden uns schon 14 € Servicegebühr (früher Trinkgeld) ganz selbstverständlich abgezogen, und jetzt noch auf die Getränke, ein Bier kostet so schon 4,75 €, ein Drink in der Regel 6,75 € plus die piratenhafte Servicegebühr. Trotzdem schmeckte der Cappuccino und ich schrieb meine erotische Geschichte, eine Geschichte, die ich wieder niemandem erzählen kann. Wenn man keinen Namen hat und einen riesigen Roman mit mindestens 10 Seiten Erotik schreibt, ist alles, was man in dieser Richtung fabriziert, Schweinerei. Selbst die Nacktfotos meiner Modelle stoßen auf Unverständnis, oh, was der alles sieht, hat er wohl, hat er nicht, muss das sein, was sagt die Frau dazu. Ich habe ein unverkrampftes Verhältnis zu Erotik und Nacktheit, das nennt man Ästhetik, und wenn meine Bilder sogar Frauen erreichen, dann scheine ich etwas richtig zu machen. Und übrigens, nein, das hat er nie gemacht und würde er nie machen, denn das wäre das Gegenteil von Ästhetik. Die erotische Geschichte ist die eines Mannes, der in einer Kneipe eine Begegnung der besonderen Art hat, bei der es gar nicht um Körperlichkeit geht, sondern um Sprache und Fantasie. Feuchtgebiete im Kopf, wobei das Ende der Geschichte doch etwas merkwürdig ist.
So sitze ich an einem großen Tisch, schreibe meine Texte, genieße die ruhige See, der Horizont ist mit riesigen Wolkenbänken bedeckt, schwach erkennt man das Land – Norwegen. Über uns blauer Himmel, in den Ohren die harten Rhythmen eines Hardrock-Titels, der so gar nicht passen will: „Sabbath Bloody Sabbath“. Ich bin zufrieden, höre auf zu schreiben, schaue aufs Meer, lege die Beine hoch und träume vor mich hin. Schön ist das Leben.
Irgendwann ist Mittagszeit. Im Restaurant sitzt ein Ehepaar, das schon mehrere Kreuzfahrten gemacht hat. Wir schwelgen in Erinnerungen und Erfahrungen. Irgendwann erfahren sie von meiner Lehrtätigkeit und scheinen von meinen Ansichten über das Schulsystem nicht unbedingt begeistert zu sein. Außerdem haben sie noch nie einen Lehrer getroffen, der seinen Beruf liebt. Das Gespräch plätschert in der Computersprache vor sich hin. Ich bin froh, wieder einmal provoziert zu haben und bereue nichts. Es ist sowieso Zeit für ein Mittagsschläfchen, meine Seele beruhigt sich, ich denke gar nicht mehr an die Katzen.
Eine Lautsprecherdurchsage, die in allen möglichen Sprachen zum Bingo aufruft, weckt uns; Kaffeezeit und ein Schock. Meine Servicekarte, das wichtigste Dokument an Bord, ist weg. Der Wecker funktioniert nicht. Wir stellen das Zimmer auf den Kopf, reflektieren die letzten Minuten und rechnen die Euros hoch, die ein Ersatz kosten würde. Nach dem Mittagessen drehen wir noch Szenen für meinen Film „Ich habe keinen Bock“, die ich später als Schnitte in den Film einbaue. Unter anderem bin ich gut hundert Meter durch den Flur vor unserer Tür gesprintet und vermute, dass ich dort die Karte verloren habe. Über den Fernseher kontrollieren wir, ob es in den letzten zwei Stunden eine illegale Buchung gegeben hat. Gott sei Dank nicht. Also auf zur Rezeption und hoffen, dass das Ganze nicht zu teuer wird. Der Steward an der Rezeption macht ein ernstes Gesicht und sagt auf Englisch: „Dann müssen Sie leider im nächsten Hafen von Bord gehen“. Ich bin fassungslos, Sylvia hat kein Wort verstanden. Mein Gesichtsausdruck muss so dumm gewesen sein, dass er lächelnd hinzufügt: „Das war ein Scherz. “Kein Problem, Sir, wir sperren die alte Karte und Sie bekommen eine neue. Das kostet hundert Euro.“ Mir fällt zum zweiten Mal die Kinnlade herunter und meine Frau hat es immer noch nicht verstanden. „Das war auch ein Witz.“ Der Witzbold versteht es, einem das Herz stehen zu lassen. Noch ganz aus dem Häuschen, suche ich mir einen Platz zum Schreiben. Vorher kommen wir noch am Kaffeestand vorbei, der eigentlich eine lange Theke mit Kuchen, harten Brötchen, Tee und Kaffee ist, an der die Menschenmassen hin und her wuseln. Es ist mehr los, als mir lieb ist. Ich schnappe mir meine Milch und suche mir ein ruhigeres Plätzchen. Da fällt mir ein schmaler Mann auf, der mitten auf dem Weg abrupt abbiegt. Er weiß etwas. Denn sein Weg führt eine Treppe hinauf, die kaum jemand sieht, und wir sind ein Stockwerk höher, wo kaum jemand ist. Ein idealer Ort zum Schreiben…
Eine Stunde später drängt meine Frau. Kapitänsempfang. Wir müssen runter in den 2. Stock, ca. 250 m den Flur entlang, uns in Schale werfen, heute ist Gala, und wenig später stehen wir mit unserem Begrüßungssekt im Theater Rex. Auf das Foto mit dem Kapitän haben wir verzichtet, aber auf dem Weg zum Theater wurden wir von einer Fotografin fast zum Posieren gezwungen. Normalerweise gebe ich bei meinen Modellen das Kommando, aber hier hat uns die Fotografin wie eine Knetpuppe in alle Richtungen gebogen. Ich machte mir einen Spaß daraus, mich immer wieder anders zu positionieren, die Posen zu übertreiben, aber sie war geduldig und lachte ständig über meine Späße. Im Theater begann die Vorstellung. Der Kapitän, ein junger Mann, unrasiert, begrüßte die Gäste in allen Sprachen, stellte seine Mannschaft vor, erhob das Glas und war kurz darauf verschwunden. Das Ankleiden und der Weg hatten länger gedauert. Immerhin, jeder von uns hat zwei Gläser Sekt getrunken. Ein kurzer Blick über die Reling und schon geht es zum Abendessen. Das fällt bei mir eher spartanisch aus. Ich bin einfach satt, eine Vorspeise und als Hauptgang Ente. Zu mehr kann ich mich nicht überwinden, den Hauptgang rühre ich später kaum noch an. Genug ist genug. Mit dem gekauften Getränkepaket müssen wir jeden Tag eine Flasche Wein und ein Wasser kaufen, damit es sich rechnet. Das Bier ist ein für mich ungenießbares Pils, was andere nicht davon abhält, ein Vielfaches davon zu trinken. Ich habe es satt und will mich nur noch ausruhen. Es ist 20:00 Uhr. Ich werde alt. Sylvia geht allein ins Theater, ich schaue mir den Film „Der Vorleser“ an, der mich fesselt und tief beeindruckt. Es ist dumm und etwas exotisch, auf einer Kreuzfahrt so früh einen Film in der Kabine zu sehen, während das Schiff noch vor Aktivität bebt, aber dieser Film belohnt mich reichlich, auch wenn er schwer verdaulich ist.
Bald kommt Sylvia und wir beide machen uns bettfertig. Gute Nacht Marlowe, gute Nacht Milow, gute Nacht Christa und Nicki, gute Nacht Sylvia, gute Nacht Micha und Klack, die Nacht nimmt mich gefangen.
4. Tag – Flam
Flam (sprich: Flom) ist ein winziger Ort inmitten der norwegischen Fjorde mit nur etwa 300 Einwohnern und 700.000 Touristen im Jahr. Trotzdem hat es einen beeindruckenden Hafen, in dem sogar unser Riesenpott, die Costa Fortuna, anlegen kann. Immerhin ist sie das größte Schiff der 26 Schiffe umfassenden Costa-Flotte. Von außen wirkt es wie ein gigantischer Fremdkörper mitten im Ort. Doch noch stehen wir auf dem obersten 12. Deck und blicken hinunter auf ein kleines, aus Holz gebautes Hotel. Auf dem Balkon steht ein Ehepaar und schaut mit gesenkten Köpfen zu uns herüber. Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen und würde gerne wissen, was sie jetzt denken. Für tiefgründige Gedanken bleibt mir keine Zeit, das Klicken der Kameras ruft auch mich auf den Plan und so tue ich, was jeder Kameraträger tut, knipsen was das Zeug hält, in der Hoffnung, dass sich dieser schöne Augenblick, diese atemberaubende Kulisse von himmelwärts strebenden Felsen tief einprägt und noch eine Weile nachklingt. Dann hat man seine Fotos; “Weißt du noch…”, “Guck mal, was ist das…”, “Wo war das noch mal…”. Ich sehe schon den Spazierstock in der Hand ….
Unser erster Ausflug startet gleich nach dem Frühstück. Er ist mit 69,- Euro der günstigste und für uns auch der interessanteste, da wir mit dem Schiff durch die Fjorde fahren. Es gibt aber auch Ausflüge für 134,- Euro und sogar Buchungen für über 390,- Euro für Individualreisen. Natürlich kann man auch ohne Ausflug vom Schiff aus starten, aber Flam ist sehr überschaubar und reicht für einen 30-minütigen Spaziergang. Wir werden in Busse verladen und unser Reiseleiter erklärt uns auf der folgenden dreiviertelstündigen Fahrt ausreichend die Geschichte und Wirtschaft Norwegens. Endlich verstehe ich, warum Norwegen nicht der EU beigetreten ist. Öl ist ihr dominierender Wirtschaftsfaktor, ein Rohstoff, der sogar die astronomischen Alkoholpreise (Bier 10,- Euro, Wein ab 70,- Euro in der Kneipe) diktiert, weil diese Industrie die Arbeitslöhne unnatürlich in die Höhe treibt. Sogar die Wirtschaft ist durch ein Konsortium für eine gewisse Zeit nach dem Ausbluten der Ölfelder gesichert. Beeindruckend dieses Zukunftsdenken, die deutschen Politiker sollten hier ein Zwangspraktikum machen, vor allem im Bildungssystem, wo Norwegen am meisten von der DDR-Bildung profitiert und die Rosinen einfach kopiert und weiterentwickelt hat. Gut, ich bin im Urlaub und solche Gedanken sind der gesuchten inneren Ruhe eher abträglich, aber der Reiseführer lenkte die Gedanken dorthin, bis wir in Stalheim ankamen. Ein malerischer Ort mit einem Hotel hoch oben auf dem Berg, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf das Fjordtal hatte. Bei einem Tee atmeten wir tief durch, blinzelten in die Sonne und ließen die Seele baumeln. Im Souvenirladen dachte ich an unseren Hausmeister in der Schule und kaufte ihm einen Flaschenöffner. Ich steckte einen 10-Euro-Schein ein, bekam 25 Kronen zurück und Sylvia quittierte das Geschäft mit einem langen Vortrag, warum ich nicht auf sie gewartet hätte, sie hätte Kleingeld, wir bräuchten die Kronen nicht, warum ich nicht nachdenke… und so weiter. Ich konnte all ihren Wenn und Aber, Hätte und Sollte nicht wirklich folgen, weil es mir einfach egal war. Froh, wieder im Bus zu sein und das Thema für den Moment abgehakt zu haben, fuhren wir plötzlich steile Serpentinen hinauf. 18% Steigung und die Gäste ganz hinten waren 2,50m höher als wir ganz vorne. Wir blickten hautnah auf die steil abfallenden Hänge, der Bus schlängelte sich am äußersten Rand nach Thale, so dass Teile davon schon über den Abgrund ragten. Der Reiseleiter versicherte uns, dass Busse (so hieß der schwedische Fahrer wirklich) nach diesem bestandenen Test seinen Führerschein bekommen würde. Haha, sehr lustig.
Nach der zwölften Kurve und einem kurzen Stopp an zwei regenbogenfarbenen Wasserfällen, bei dem die Kameras einfach rechts und links getauscht wurden, weil wir den Bus nicht verlassen konnten, kamen wir wohlbehalten unten an und konnten wenig später an Bord gehen. Ein kleiner Katamaran steuerte uns durch die Fjorde, die jemand mit denen der Donauüberquerung am Eisernen Vorhang verglich. Sicher, auf den ersten Blick konnte man darauf kommen, aber diese Berge waren anders, die Fjorde breiter, von den Felsen flossen unendlich viele Bäche, manchmal sogar breite Wasserfälle. Das kleinste Dorf bestand aus einem einzigen Haus, das nur über eine Leiter zu erreichen war. Es dauerte 40 Jahre, bis es fertiggestellt war und stand dort, wo nicht einmal Gott sich seinen Wohnsitz gebaut hätte. Andere Dörfer waren nur im Sommer bewohnt und nur über einen Trampelpfad zu erreichen. Was treibt die Menschen in diese Einsamkeit?
Zwei Stunden später hatten sich unsere Augen an die Naturpracht gewöhnt, manchmal gab es Robben- und Schweinswalalarm, aber ich konnte keines der Tiere sehen. In der Kabine saßen tatsächlich Menschen, die die ganze Fahrt verschlafen hatten. Diese Ignoranz hat mich fassungslos gemacht. Ich würde doch nicht so viel Geld ausgeben, um die schönsten Momente zu verschlafen. In der Ferne tauchte die Costa auf, ein riesiger Stachel im Fleisch der Natur und gerade deshalb besonders beeindruckend. Ein paar Fotomomente später waren wir an Land, klapperten die Souvenirläden ab und ich lenkte Sylvia auf einen niedlichen Troll: „Für unseren Balkon, kostet nur 25 Kronen“. „Oh ja“, jubelte sie und übersah geflissentlich mein teuflisches Grinsen, endlich die 25 Kronen losgeworden zu sein. Mit manchen Gegnern hat man es eben leicht.
Schnell noch ein kleines Mittagessen mit viel Obst und dann ein kurzes Nickerchen, bevor uns die Kaffeezeit wieder an Deck lockt. Vorher noch etwas Stress, weil mein MP3-Player nicht auffindbar war. Nach dem Karten-Desaster wieder etwas verloren. Aber auch diesmal ging es glimpflich aus. Ich hatte ihn aus unerfindlichen Gründen in meinen Anzug für den Galaabend gestopft, obwohl es völlig sinnlos war. „Deshalb konnte ich mich nicht daran erinnern“, argumentierte ich vorsichtig.
Der gleiche Ort, fast die gleiche Zeit, der Blick in die wildromantische Natur, ich schreibe auf, was mich bewegt, was ich sehe und warte auf das, was kommt.
Das Abendessen fällt für mich ungewöhnlich kurz aus. Ich verabschiede mich bald, das ewige “Gegesse” hat mir auf den Magen geschlagen, ich fühle mich elend. Sylvia muss wieder allein ins Theater, ich brauche meine Ruhe und döse vor mich hin. Etwas regt sich in mir und ich beschließe, morgen vorsichtiger zu sein. Wir schlafen früh ein, es knallt schneller als ich dachte.
5. Tag – Bergen
Hallo Marlowe, hallo Milowe, Nicki lasse ich hier, sie ist 16 und hat Ferien, sieben Uhr ist noch zu früh, hallo Christa, hallo Syl…. aha, sie ist schon aufgestanden und geduscht, in einer Stunde geht unsere Tour los, Zeit zum Duschen, Frühstücken und fertig machen für die Tour. Obwohl es verboten ist, Getränke mit an Bord zu nehmen, da man 0,35 l für 2,75 € selbst verkaufen möchte, nehmen wir unsere Flasche Wasser aus dem Getränkepaket mit. Schließlich haben wir es schon bezahlt.
Bus Nummer 7 bringt uns mit einem Troll durch Bergen zur Seilbahn. Der Troll ist unser Reiseleiter, der durch eine dreiteilige Knubbelnase auffällt, die er zwar nicht tragen kann, aber ich bin im Urlaub und muss meine Sensibilität nicht herauskehren, zumal ich es nur denke. Immerhin ist der Troll alt und freundlich, spricht gut Deutsch und unterhält uns bestens. So erfahre ich viel über die Hansezeit Bergens, was mich als Mittelalterfilmer natürlich besonders interessiert. Bis zu 1000 deutsche Männer, und nur Männer, waren hier in hölzernen Behausungen, in denen kein Feuer gemacht werden durfte. Man schlief zu dritt in einem Bett, wegen der Wärme. Wenn ein Deutscher mit einer Norwegerin ein Kind zeugte, musste er zur „Strafe“ 100 Liter Bier bezahlen. Das war nach Meinung der Zeitgenossen zu wenig. Verständlich im Winter und mit drei Männern im Bett. Der Troll zeigte uns die engen Gassen und die nachgebauten Holzhäuser, man bekommt nur eine dunkle Ahnung von den Verhältnissen, es fehlt der Dreck und der Gestank, es wurde hauptsächlich mit Fisch gehandelt. Fließendes Wasser und Toiletten waren bis 1950 in der Innenstadt unbekannt.
Wir besuchen ein Museum, dessen Inhalt wir durch die Glasscheiben betrachten können. Mit gesenkten Gesichtern, die Hände schützend vor die Augen gelegt, lauschen einige den Ausführungen unseres Trolls, der sich alle Mühe gibt, das Museum quasi von außen zu führen. Das spart den Eintritt, den wir hoffentlich noch nicht bezahlt haben. Dann geht es durch geschichtsträchtiges Gelände zur Bergbahn, wo wir geduldig warten und brav im Takt der fahrenden Züge gehen, bis wir einsteigen dürfen. Ich versuche im Waggon zu fotografieren, kann mich aber kaum drehen, das Objektiv ist voll und ich gebe das Unterfangen entnervt auf. Oben auf dem Berg gibt es vor lauter Menschen kaum ein Kamerafenster, trotzdem gelingt mir ein Panoramafoto, bei dem ich zu Hause die 10 oder 20 Leute noch retuschieren muss. Aber die Aussicht ist atemberaubend. Bergen liegt uns zu Füßen und gibt mit Hilfe der Erklärungen unseres Trolls noch ein paar Geheimnisse preis. Interessant ist die Geschichte von dem Schiff, das in die Luft gesprungen ist. Gemeint ist natürlich ein gesprengtes Schiff nach dem Zweiten Weltkrieg, das fast die Hälfte der Insel zerstörte. Es war ein Unfall, sagt man heute. Kaum haben wir die Schönheit des Ausblicks begriffen, marschiert der Troll zur Seilbahn, die uns hinunterbringt.
Kaum verschnauft, sitzen wir schon wieder im Bus und besichtigen die Stavkirche aus dem 10. Jahrhundert, die sich bei näherem Hinsehen als Nachbau aus dem 20. herausstellt, weil ein Satanist meinte, sie anzünden zu müssen. Trotzdem wurde sie originalgetreu wieder aufgebaut. Geduldig warten wir fast 30 Minuten, bis wir auf das Gelände und in die enge Kirche gelassen werden. Mehr als die erlaubten 60 Personen passen nicht hinein, wir sind 45 und drängen uns schon ein wenig. Stav bedeutet Stamm, und tatsächlich ist die Kirche auf vier mächtigen Stämmen gebaut, und auch im Inneren tragen Stämme, die mit Wurzelbögen verbunden sind, die ganze Konstruktion. Die Leprakranken, von denen es in Norwegen und Island viele gab (der letzte starb 1955 in Bergen), hatten draußen einen Gang um die Kirche herum und konnten durch ein winziges Fenster den Worten des Pfarrers lauschen. Die Kirche hatte auch ein hölzernes Dach, in dessen Mitte ein Turm stand. Natürlich war auch die abgebrannte Vorgängerkirche nicht original, sondern eigens hierher versetzt worden, weil die Eigentümergemeinde die Stavkirche abreißen wollte. Nach Originalfotos stand der Turm noch außen. Da aber die meisten Stavkirchen einen Turm in der Mitte hatten, ließ der ausführende Architekt den Umbau durchführen und zerstörte damit die Einzigartigkeit gerade dieser Kirche. Künstlerische Freiheit, Historizität oder Kulturvandalismus, immerhin hat er dazu beigetragen, dass eines der 30 noch existierenden Exemplare gerettet wurde und uns Costa-Urlaubern einen schnellen Durchgang ermöglicht. Jedenfalls habe ich mehr Fotos gemacht, als ich anschauen konnte.
Die Rückfahrt verlief ohne große Überraschungen. Wir hielten am Schiff an und konnten uns nicht einigen, wie es weitergehen sollte. Ich wäre gerne in der Stadt geblieben, Sylvi wollte im Restaurant essen. Ich hatte keine Lust auf die Wartezeiten im Restaurant, das sie als gemütlich bezeichnete, sie hatte keine Lust auf die Selbstbedienung, weil sie das Schweinefleisch nicht mochte. Nach einem kurzen Wortgefecht, im Volksmund auch leichter Ehekrach genannt, einigten wir uns auf ein Schnellrestaurant mit eigener Ecke und anschließendem Landgang zum berühmten Fischmarkt.
Eine knappe Dreiviertelstunde später ging es durch die alte Festung Bergens in Richtung Altstadt. Wir besuchten einige Souvenirläden und stockten den Atem bei den Preisen für norwegische Pullover. 150,- € war die Kategorie Ausverkauf. Der Fischmarkt war bombastisch, Walfleisch, Krabben in allen Größen und Formen, Brötchen ab 6,- €, Mittagessen, Bratfisch mit Pommes 20,- €. Wir probierten Walfleisch, das eine sehr dunkle Farbe hatte und für uns nach nichts schmeckte, auch nicht nach Fisch. Endlich konnten wir uns dazu durchringen, Kaviar zu kaufen; 6 Gläschen mit rotem, schwarzem und weißem Kaviar für 40,- €, wobei wir den weißen Kaviar zuerst probierten, er hatte nicht den bekannten Salzgeschmack, war also milder und ganz nach dem Geschmack meiner Frau. Der Hafen war voller Schiffe und Menschen und wuselte mit einer Geschäftigkeit um uns herum, die etwas nervös machte. Bergen platzt aus allen Nähten, die Häuser kriechen die Berge hinauf, immer auf der Suche nach neuen Plätzen. Es wird eng in den Bergen und in den Wäldern. Den Bäumen geht die Luft aus.
Zurück an Bord verzichten wir entgegen unserer Gewohnheit auf das Mittagsschläfchen, genehmigen uns zwei Getränke für 15,99 €, setzen die Kopfhörer auf. Bei mittelalterlicher Musik sitze ich über meinem Reisebericht und lutsche genüsslich den Drink aus Rum, Wodka, Lemon, Ice Tea.
Es ist wieder Essenszeit, das lange Sitzen an fremden Tischen mit Menschen, die man einmal trifft und dann nie wieder. Man unterhält sich unverbindlich, ist höflich und dann ist die Reise zu Ende, ohne dass man sich weiter umeinander kümmert. So ist das Leben. Ich unterhalte mich gerne, aber manchmal möchte ich auch allein sein, während Sylvia die Geselligkeit liebt und diese Abende sehr genießt. Der Abend neigt sich dem Ende zu und wir beschließen, noch ein bisschen zu bummeln und einen Remy Martin zu trinken. So sitzen wir nach dem Abendessen noch eine Weile in einer Bar und ich beobachte die wuselnden Kellner. Es ist wie in einem Ameisenhaufen. 8 Kellner in blauen Jacken schütteln, rühren und mixen, sprinten zur Bar, geben die Quittungen und obwohl es im ersten Moment so aussieht, als wäre das Chaos ausgebrochen, scheint sich nach einer Weile doch eine gewisse Struktur einzustellen. Die Müdigkeit kommt heute erst spät, gegen 23:00 Uhr. Ich wälze mich noch eine Weile im Bett, Gute Nacht Marlowe, Gute Nacht Milow, Gute Nacht Nicki, Gute Nacht Christa, Gute Nacht Sylvi und Klack, aber irgendwie klackt es erst eine ganze Weile später. Ich denke an dies und das und stelle mich auf ein langes Wachbleiben ein… Aber da klopft schon Morpheus an meine Tür.
6. Tag – Stavanger
Der Morgen und das Aufstehen sind früh. Zu früh für mich, ich bin wohl zu spät eingeschlafen. Trotzdem lasse ich die übliche Prozedur über mich ergehen, duschen, rasieren, Zähne putzen, anziehen, warten, bis Sylvia endlich fertig ist. Nach dem Frühstück sind wir mit vielen anderen Ausflüglern auf einem Katamaran und mit 28 Knoten geht es in die Fjorde. Was uns dort erwartet, fordert alle Sinne heraus. Schroffe, steil abfallende Felsen im Lysjefjord, der seinen Namen dem hellen Gestein verdankt (Lysje=hell/Licht). An jeder Attraktion hält das Schiff ein paar Minuten und kommt den Wasserfällen so nahe, dass man die Gischt im Gesicht spürt, wenn man einen Platz ganz vorne ergattert hat. Auf einem mit Gras bewachsenen Felsvorsprung grasen 3 Ziegen. Der Katamaran nähert sich und lässt den Steg herunter. Ein Besatzungsmitglied und ein kleiner Junge füttern die Ziegen unter dem Beifall der Menge mit Brot. Plötzlich springt der Ziegenbock, ein stattlicher Kerl mit riesigen Hörnern, an Bord und rennt auf die Menschen zu. Panik. Schreie. Ich springe dazwischen und packe den Bock zusammen mit dem Besatzungsmitglied an den Hörnern. Der Bock ist ganz lieb, lässt sich streicheln und auch dirigieren. Am liebsten würde er weiter auf das Schiff laufen, aber das können wir mit etwas Kraft verhindern. Das Schiff wird etwas zurückgedrängt, muss neu manövrieren und wir können den Bock durch gemeinsames Ziehen und Schieben wieder an Land hieven. Ich rieche bis zum Schluss nach Ziegenbock, grinse aber zufrieden über das Erlebnis, das Sylvia genüsslich filmt. Der Himmel ist von Regenwolken bedeckt, durch die hier und da das Licht wie riesige Scheinwerfer bricht. Für die Kamera ergeben sich grandiose Landschafts- und Stimmungsbilder. Wir fahren vorbei an einsamen Landschaften, wo hin und wieder ein Bauernhof oder ein Haus steht, und man fragt sich unwillkürlich, wie die das Material herbekommen haben, wie sie die Scheiben auf den Berg geschleppt haben und warum gerade diese Gegend, wo oft kilometerweit nichts ist. Wir fahren an der Kanzel vorbei, passieren bei schöner Musik einen Felseinschnitt und lauschen den Geschichten von Liebe, Leid und Leidenschaft, die uns der Kapitän erzählt und die Landschaft mit dem Leben verbindet. Wir erinnern uns noch an den armen Heinrich, der, weil er verbotenerweise Alkohol braute, seine Sikke verlassen musste, in seine Heimat abgeschoben wurde und arm bis zu seinem Tod in den weiten Felsen wartete, aber schon sind wir wieder im Hafen. Die Kamera hat viele Bilder für uns in ihren Speicher gebrannt, und zu Hause machen wir uns auf den Weg nach Sikke, um ihr ein spätes Denkmal zu setzen. Schöne neue Welt.
Ich habe Sylvia versprochen, im Restaurant zu Mittag zu essen, und ich halte mein Versprechen, sehr zu meinem Leidwesen, denn wir sitzen an einem ungünstigen Platz und außerdem sind unsere Tischnachbarn Italiener. Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber es scheint einen Generationskonflikt zwischen Mutter und Tochter mit Sonnenbrille zu geben. Der Vater mischt sich nicht ein, will sich mit uns unterhalten, scheitert aber an seinem mangelnden Englisch, das eigentlich gar nicht vorhanden ist. Wir tauschen ein paar Städtenamen aus und beenden das Gespräch.
Bis auf die Tatsache, dass ich mein Mittagessen doppelt bekomme, passiert nichts weiter und wir können uns zur gewohnten Mittagsruhe begeben.
Um 16:00 Uhr erwartet uns im Theater eine Informationsveranstaltung über das Schiff und seine Besatzung. Es ist schon fast unheimlich, wie diese riesige Stadt funktioniert, was alles im Verborgenen abläuft. 8-9 Monate ist das Bordpersonal an Bord, arbeitet sieben Tage die Woche, ohne freien Tag oder Urlaub. Jeden Tag Wäsche waschen, Zwiebeln schneiden, Betten machen, Arbeiten, die kein Harz 4 Empfänger freiwillig machen würde. Die Deutschen sind ein faules, bequemes Volk geworden. Das ist Fluch und Segen zugleich. Natürlich kann man mir sofort die Kreuzfahrt entgegenhalten, aber im Alter des Personals (zumindest einiger) habe ich auch in der Halberstädter Würstchenbude stupide Arbeiten verrichtet und immerhin zwei Berufe erlernt, bevor ich das gute Geld unseres verkorksten Bildungssystems einstreichen durfte. Ich bin gerne Lehrer, das sei ausdrücklich betont, aber das Bildungssystem ist doch marode und verkommt zur bloßen Beherbergung von mehr oder weniger willenlosen Schülern. Bildung findet längst woanders statt. Ich reiße mich aus meinen trüben Gedanken, ich habe Urlaub. Wir gehen Kaffee trinken und finden unseren gewohnten ruhigen Platz, an dem ich bis zum Abendessen in aller Ruhe meinen Reisebericht schreiben kann. Die norwegische Küste zieht an uns vorbei, wir sind auf dem Weg nach Oslo, 320 Seemeilen entfernt, der letzten Station unserer Reise. Wie es wohl Marlowe und Milow geht?
Nach dem Abendessen und dem üblichen Smalltalk geht es wieder in die Einkaufspassage. Wie auf jedem Schiff finde ich wieder eine Uhr, diesmal von Fossil. Die wollte ich schon immer unbedingt haben. Nach kurzer Diskussion mit Sylvia über das Design wähle ich eine besonders schöne mit blauem Zifferblatt, weißen Zeigern und schwarzem Metallarmband. Der Preis ist moderat und akzeptabel und ich bin glücklich. Auf das Abendprogramm, ein Konzert, verzichten wir, nicht aber auf zwei Glennfiddich und zwei Remy Martin, das gibt die nötige Bettschwere. Gute Nacht Marl…, das war ein Whisky zu viel, es macht klack.
7. Tag Oslo
Regenschwere Wolken hängen über der Ostsee und Tropfen bilden immer wieder neue kleine Wellenringe, unendlich viele hier im Hafen von Oslo. Das Frühstück schmeckt trotz des Regens, es ist der letzte Tag unserer Reise, morgen gehen wir in Warnemünde von Bord. Dann geht es nach Hause, die Schäden unserer Katzen begutachten, eventuell die Asche wegräumen, manchmal hat man schon komische Gedanken, alles geht gut. Ich vertraue Nicki, unserer Katzenmama Nummer eins, obwohl ein Lehrer keinem Schüler seiner Schule trauen sollte, das ist ein ehernes Gesetz. Aber sie ist in der Mittelaltergruppe, mit der ich arbeite, meine Hauptdarstellerin und eigentlich etwas ganz Besonderes. Sie hat mich und uns noch nie enttäuscht, ich kenne ihre Eltern und eigentlich ist sie ein ganz liebes Mädchen, fast zu lieb, was wiederum misstrauisch macht. Sogar Sylvia hat sie ins Herz geschlossen, was an sich schon ein Wunder ist. Christa, 76 Jahre, ist eine Witwe mit einem bewegten Leben und kümmert sich seit Jahren um unsere Tiere. Ihr Herz macht manchmal Probleme und dann muss der Notarzt kommen, deshalb habe ich Nicki mit ins Boot geholt. Na ja, man macht sich so seine Gedanken und ich gehöre zur Kategorie „sehr sensibel“.
Heute gönne ich mir zwei Eier, obwohl ich das mehr oder weniger die ganze Woche mache, denn es gibt Rühreier, Omeletts und andere Eierspeisen, denen ich kaum oder gar nicht widerstehen kann.
Da unsere Führung mangels Beteiligung abgesagt wurde, haben wir uns entschlossen, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Das Schiff ist so groß, dass wir das Schloss gegenüber gut sehen können und auf eine Besichtigung verzichten. Es wird viel fotografiert und schon haben wir den ersten Ausflug hinter uns, ohne uns groß zu bewegen. Das ist toll. Oslo ist eine moderne Stadt, so dass die wenigen Sehenswürdigkeiten schnell umrundet sind. beeindruckend ist das riesige Rathaus, besonders bemerkenswert die alte riesige goldene Uhr. Überall begegnen wir Denkmälern von Persönlichkeiten, Politikern, Dichtern, Komponisten, Ibsen ist für die Deutschen immer noch einer der bekanntesten. Wir besichtigen den Königspalast und seinen Park und freuen uns, die Wachen in Bewegung zu sehen. Ich ernte böse Blicke von Sylvia, als ich den heiligen Park entweihe, wo es doch keine Toiletten gibt!
Bald haben wir unseren kleinen Stadtplan abgearbeitet und sind anderthalb Stunden später wieder im Hafen, bewundern die Segelschiffe, die auch für Passagiere bereit liegen. Unsere Costa Fortuna überragt alles bei weitem. Inzwischen habe ich sie von allen Seiten fotografiert, auch von innen sind die meisten Winkel fotografiert. Bisher habe ich 1200 Bilder gemacht. Nur die wenigsten werden für eine Diashow in Frage kommen. Aber diesmal habe ich viel Wert darauf gelegt, aus verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren und nicht nur zu schießen. Die Bilder, die ein Fotograf von Sylvia und mir gemacht hat, waren so gestellt, dass man sich fast schämen musste. Dieses blöde Kopf an Kopf lehnen, die Füße unnatürlich gedreht, die Hände komisch übereinander gelegt, da wurde ein komisches Paar fotografiert, das nichts mit uns zu tun hatte. Wenn man Menschen fotografiert, sollte man ihre Seele fotografieren und nicht nur Hochglanzfotos machen, wo der halbe Anzug noch zerknittert ist von den seltsamen Posen. Die Bilder, sieben an der Zahl, hervorragend belichtet, waren ihren Preis von 29,99 € bei weitem nicht wert, hätte man das Geld dafür ausgegeben, könnte man sie als Lehrbeispiel für schlechte Fotografie verwenden. Ich will nicht überheblich sein, aber Sylvia und ich waren uns einig, wir können es besser.
An Deck der Fortuna gehen wir auf Menschenjagd. Ich versuche, ungewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Posen zu fotografieren, da ist die hübsche Schwarze in der Reihe mit den Möwen, da ist der Glatzkopf, den ich von oben fotografiere, da ist der junge Mann, der in Decken gehüllt auf der Liege liegt, obwohl die Sonne durchbricht. Da ist der Pfeife rauchende Mann, ganz nachdenklich, die dicke alte Frau, die so einsam auf einer Bank sitzt, da ist der kleine Junge, der den ganzen Pool für sich hat, der Page, der mit den Decken der Gäste kämpft, es sind so viele Details, so viele Geschichten, die ich in Sekundenbruchteilen einfange. In der Diashow wird sie nur für diesen Bruchteil sichtbar sein und fast gesichtslos wieder in ihrer Geschichte und in ihrem Leben verschwinden. Was wissen wir schon, was weiß ich schon?
Irgendwann ruft das Mittagessen, ich muss nicht ins Restaurant, ich kann an der Theke auswählen. Sylvia schmeckt es nicht, heute ist selbst mir das Fleisch zu trocken, wir entschädigen uns mit Eis und einer großen Portion Garnelen, für mich gibt es noch Muscheln und Tintenfischbabys. Lecker. Sylvia verzieht das Gesicht und bestellt ein zweites Glas Wein. Nach dem Mittagsschlaf bereiten wir uns schon auf den Abschied von der Costa vor. Im Theater werden wir in den Ablauf der Ausschiffung eingewiesen. Eigentlich nichts Neues für uns. Wir sind schon fast zu Hause. Marlowe, Milow wir kommen. Noch sind wir unterwegs, die See wird leicht stürmisch, das Schiff schaukelt, was uns kaum stört. Ich sitze und schreibe in einem bequemen Sessel, Sylvia hat es sich auf der Couch gemütlich gemacht und lauscht ihrem MP3-Player, der Raum vor uns ist mäßig gefüllt. Wir sind noch im Urlaub.