Poesie und Lyrik

Ich fotografiere nicht nur gern, sondern schreibe auch Gedichte oder Geschichten. Es stellt für mich eine Art Seelenreinigung dar. Es handelt sich zwar um eine Fiktion, doch vieles ist tatsächlich geschehen, insbesondere die Schulgeschichten.

Dramatisches

Der Wind heulte gegen die Felswand. Seit Jahrtausenden, seit Jahrmillionen tat er das. Aber die Felswand stand ruhig und unerschütterlich. Der Hass konnte ihr nichts anhaben. Ihr schneebedecktes Haupt glitzerte in der Sonne wie Zuckerwatte. Nichts und niemand konnte sie bezwingen. Sie war wie eine alte Dame, die ihre Jungfräulichkeit eifersüchtig hütete und noch stolz darauf war. Und doch zeigten ihre Risse den alternden, müden Kampf der Felswand gegen die Natur. Manuel lächelte. Er würde diese greisenhaften Falten zu nutzen wissen. Fast zärtlich blickte er zurück auf das schlafende Dorf im Tal. Manuel pumpte sich frische Luft in die Lungen und leckte sich die salzigen Lippen. Bis jetzt war der Aufstieg ein Kinderspiel. Manuels Gesicht zeigte den Ausdruck eines zufriedenen Kindes, das von seiner Mutter Schokolade bekommen hat. Etwa 30 Meter hoch ragte die Felswand in das satte Blau, schätzte er mit einem Blick nach oben. Er würde es schaffen, ganz allein, ohne Seil, mit bloßen Händen. Die Männer in seiner Stammkneipe sagten: “Mach keinen Mist Manu, das Risiko ist zu groß. Bis jetzt hat es noch keiner bis zum Gipfel geschafft, ganz alleine. Alle, die es versucht haben, sind tot. Die Felswand ist stärker, sie lässt sich nicht bezwingen.“ Manuel hatte über die Alten gelacht. Feige waren sie. Er blickte zu seinen Füßen hinunter und glaubte für einen winzigen Augenblick, Blut zwischen den Steinen hindurchsickern zu sehen. Missbilligend schüttelte er den Kopf. “Alles Quatsch, gehen wir weiter”, murmelte er halblaut, “ich schaffe es, ihr werdet sehen.” Er wusste, dass die letzten zehn Meter das Schlimmste waren. Die Felswand war dort verdammt glatt und die Feuchtigkeit verwandelte den Stein in eine algenbedeckte Fläche. Aber er war bereit. Sein Innerstes war bereit. Er blickte noch einmal zum Dorf zurück und setzte seinen Aufstieg fort. Es war der ungleiche Kampf eines kleinen Mannes gegen einen Riesen. Schritt für Schritt tastete sich Manuel mit äußerster Vorsicht vorwärts, hielt inne, suchte den besten Aufstieg, die nächste Kante. Der Wind begann immer stärker an seinem leichten Kombi zu zerren und Manuel hatte das Gefühl, er müsse schreien, ja sogar stöhnen. Ein zufällig vorbeikommender Betrachter würde am Fuße des Berges denken, dass eine Ameise den zerklüfteten Bergrücken hinaufkrabbelt, aber ein zufällig vorbeikommender Betrachter würde Manuel gar nicht bemerken. Immer näher kommt Manuel dem Gipfel, der Wald in der Tiefe flüstert ihm unruhig etwas zu. Noch zwanzig Meter. Er hatte keine Angst und dachte an Marias unsinnige Angst. Schon lange hatte er vor, diese Steilwand zu bezwingen. Aber Maria wollte davon nichts hören. Sie fing sofort an zu weinen. „Tu das nicht“, flehte sie, „denkst du denn gar nicht an mich? Wir bekommen doch ein Kind. Es soll so früh ohne Vater sein.“ Manuel lachte leise in sich hinein, während seine Hände schon den nächsten Felsvorsprung ertasteten. Er hatte Maria geheiratet, weil sie jung, hübsch, voller Weiblichkeit und auch sympathisch war. Aber an eine Ehe aus Liebe mochte er nicht glauben. Immerhin konnte er sich mit ihr sehen lassen und mochte sie deshalb. Das ganze Dorf beneidete ihn um sie. Tatsächlich hatte er vor langer Zeit mit seinem Freund Joszef gewettet, dass sie sich auf der Stelle in ihn, Manuel, verlieben würde. Und er hatte verdammt noch mal gewonnen. Wie immer. Maria war anfangs begeistert von seiner Abenteuerlust. Einmal kletterte er auf eine 15 Meter hohe Tanne, um sie abzusägen. Kurz vor dem Aufprall sprang er ab und rollte sich blitzschnell zur Seite. Er hatte ein paar Schrammen und einen verstauchten Fuß, aber sonst war er ein echter Held. Und Maria liebte ihn noch mehr. Bald hatte er sie so weit, dass er Bedingungen stellen konnte: „Entweder du schläfst mit mir, oder ich hole mir eine andere.“ Maria tat alles, um ihn nicht zu enttäuschen. Die Sonne blendete. Die Haare klebten, der Schweiß lief in kleinen Rinnsalen und der Fels leckte die salzige Flüssigkeit auf. Manuel biss die Zähne zusammen und zog sich weiter nach oben. Plötzlich kam ihm Anna in den Sinn, seine vielleicht einzige wahre Liebe. Sie war eine sanfte, etwas herbe Schönheit, deren Augen in einem seltsamen Blau leuchteten. Aber ausgerechnet sie bekam er nie. Er war der beste Tänzer weit und breit, aber Anna tanzte mit Jonas, diesem dummen, zu dicken Loser, der nie eine Mutprobe machte. „Ich liebe das Leben“, sagte er immer. Aber was wusste er schon vom Leben, vom Mut, von der Ehre. Manuel brauchte die Gefahr, jeder Mensch braucht sie. Nur die Stärksten überleben. Für Anna umrundete er das Schulgebäude im dritten Stock auf dem 25 Zentimeter breiten Sims. Alle blickten bewundernd zu ihm auf, während die Lehrer verzweifelt durcheinander liefen. Aber Anna ließ das kalt. Sie war wohl die Einzige, die ihn keines Blickes würdigte. „Nun, wie war ich?“, stellte er sich ihr nach der Heldentat herausfordernd in den Weg. „Wenn dein Geist so hoch fliegen würde, wäre ich beeindruckt“, erwiderte sie. Es dauerte lange, bis er den Satz verstand, und noch länger, bis er den Inhalt verinnerlicht hatte. Die Worte drangen in sein Herz und vergifteten es. Verbissen kämpfte Manuel gegen den Stein der Felswand, der ihm immer wieder zu entkommen versuchte. Doch es half nichts, Manuel fand immer wieder die alten Falten im zerfurchten Gesicht der alten Jungfrau. Anna. Heute ist sie mit Jonas dem Wal verheiratet, der sich um alles und jeden im Dorf kümmerte, der Kummer hatte. Er, Manuel, brauchte die Hilfe eines solchen Frauenverstehers nicht. Und Anna gründete einen Frauenverein. „Frauen sind zum Vögeln da, verstehst du, zum Vergnügen nach der harten Arbeit“, hörte er die schapsgeraute Stimme seines Vaters, „wir Männer herrschen, die Frauen dienen uns. So war es immer, und so ist es gut. Wir sollten Gottes Welt nicht auf den Kopf stellen.“ Die Mutter gehorchte ihrem Mann bedingungslos. Wenn Manuel etwas wollte, stampfte er mit den Füßen, und die Mutter gab es ihm. Noch 12 Meter. Manuel jubelte innerlich. Unten im Tal schlief das Dorf wie seit Jahrhunderten um diese Zeit. Auch der Berg war daran gewöhnt und ließ zornig Steine rollen, weil ein Menschenkind diese Gewohnheit durchbrach. Manuel konnte gerade noch ausweichen, sonst hätte ihn mancher Stein hart getroffen. Er dachte an Maria, die um diese Zeit in ihr weißes Bett ging. Erst gestern Abend war sie zu ihm gekommen und hatte ihn auf die Stirn geküsst. „Du wirst es nie versuchen, versprich es mir“, ihre Stimme, ihre Lippen, ihre Hände, alles an ihr schien zu bitten. Manuel öffnete ihr wortlos die Bluse. Bereitwillig ließ sie es zu und sah ihm prüfend in die Augen. Ihr sanfter Blick verwirrte ihn für einen Moment, bevor er ihre Brüste sanft küsste. „Ich liebe deinen Körper“, flüsterte er. „Dann geh bitte nicht“, ihre Worte verschluckten seinen Kuss. Manuel trug sie aufs Sofa, schmiegte sich eng an sie, seine Hände fanden den Weg in ihr Mieder…

Für einen Moment schloss er genüsslich die Augen und atmete die raue Bergluft ein. Jetzt erst recht. Er musste ihr beweisen, was noch in ihm steckte. Er würde den Felsen für sie einnehmen, er würde dem alten Berg seine verdammte Jungfräulichkeit entreißen, ein für alle Mal. Für immer. Erstaunt hielt er inne und lauschte seinem Echo. Noch zehn Meter, das letzte Stück. Manuel blickte hinunter zum Dorf. Es jubelt ihm zu. Feierlich schreitet Bürgermeister Jonas auf ihn zu, Maria weint vor Freunden, kniet am Wegesrand nieder… Doch plötzlich murmelt das Dorf unheilvoll: „Für wen? Warum?“ Manuel schüttelt unwillig den Kopf. Was wollen die? Er tut es für sich, für Maria, für sein Kind. Alle würden es um seinen Vater beneiden, schon jetzt, obwohl es noch gar nicht geboren ist. Die letzten 5 Meter. Die Hände schmerzten, jeder Meter kostete immer mehr Kraft, der Wind riss an ihm, als wolle er ihn vom Fels reißen. Sein linker Fuß hatte plötzlich keinen Halt mehr. Manuel stöhnte. Langsam fand er wieder Halt. Die alte Jungfrau war hartnäckig. Er bekam Angst, wahnsinnige Angst. Vorsichtig blickte er die steile Wand hinunter und kniff die Augen zusammen. Bald würde die Nacht vorüber sein und Maria würde aufstehen. Vorsichtig lugte die Sonne schon am Horizont hervor und hielt für einen winzigen Moment erschrocken inne. Niemand sah diesen Augenblick, niemand fühlte ihn, die Welt hatte ihn nicht bemerkt, nur Manuel. Eine unheimliche Sehnsucht nach Wärme überkam ihn, nach der Wärme Marias. Seine Hände zitterten leicht und krallten sich schmutzverkrustet in den erbarmungslos kalten Fels. Immer wieder rutschten sie an den algenbewachsenen Kanten ab. Manuel blickte nach oben und glaubte, in den Himmel klettern zu müssen. Mühsam schob er sich höher, sein Herz schien mit jedem Zentimeter schneller zu schlagen. Die Felsvorsprünge wurden immer kleiner und seine Hände kratzten verzweifelt am Fels.

Seine Kräfte schwanden. Er sah die Männer des Dorfes am Stammtisch sitzen. Sie schüttelten müde ihre Köpfe, die wie Granit aussahen. „Wir haben ihn gewarnt. Jetzt ist er tot.“ Manuel lachte irr. „Aber ich lebe.“ Verzweifelt zerrte er an der Wurzel, die ihn festhielt. Vater fuchtelte mit der Whiskyflasche vor seiner Nase herum: „Mein Junge, du kannst alles erreichen, was du willst. Du bist mein Sohn und kennst keine Angst. Das Volk braucht Helden…“ Die Mutter schluchzte neben ihm, „Du bist ein guter Junge. Der Vater hat recht. Sag mir, was du willst, mein Sohn, sag es mir…” …. Anna ging mit Jonas vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Hinter ihm tauchte Manuels Familie auf, ganz in Schwarz gekleidet. Auf den Schultern der ersten sechs Männer ruhte ein schwarzer Sarg ohne Deckel, und darin lag er, Manuel, auf einem weichen Samtkissen, den Kopf blutüberströmt. „Ich lebe“, schrie Manuel, als plötzlich Maria vor ihm am Hang stand. „Ich liebe dich“, sagte sie und entblößte ihre Brüste. Manuel wollte nach ihr greifen, sich an ihr festhalten. Maria lachte und ließ ihr Kleid fallen… Manuel schloss die Augen. Noch ein Stück, er war fast am Ziel. “Ich hab’s geschafft”, schrie er aus voller Kehle und spürte den Fall ins Bodenlose. Es beruhigte ihn. Er hörte sein Echo und spürte einen leichten Schlag, der seltsam leicht durch seinen Körper zuckte, dann tauchte er in tiefes Weiß…

Ein dumpfer Schlag schreckte die Eidechse auf und Staub wirbelte über sie hinweg. Noch bevor sie ganz verschwunden war, sickerte Blut zwischen den Steinen hervor. Der alte Adler betrachtete zufrieden sein Revier, in dem alles wieder in Ordnung war, und schmiegte sich an die alte Jungfrau in seinem Horst. Das Blut, das er roch, verwirrte ihn so hoch oben. Im Tal erwachte langsam das Dorf.

Am Himmel flog ein Adler und ließ seine majestätischen Schwingen ungläubig über die Landschaft gleiten. Er hatte in seinem Leben schon viel gesehen, aber noch nie einen kleinen Menschen, der an einem Stein klebte. Er roch die Angst und schien sich in der Rolle des Beobachters zu gefallen, die alte Jungfrau bot ihm Sicherheit, Nahrung und jetzt auch noch Vergnügen.

Für einen Moment schien Manuel den Flügelschlag des alten Adlers zu spüren und glaubte, in dem heiseren Schrei ein höhnisches Lachen zu hören. Ihm wurde schwindelig. Noch ein Meter, noch ein verdammter Meter. Jeder Zentimeter wurde zur Qual, die Risse in seinen erschlafften Muskeln, die scharfen Kanten, die in seine Haut schnitten. Manuel verfluchte sein waghalsiges Unternehmen, er verfluchte die Felswand, diese alte Jungfer, er verfluchte die Mutter, die ihn verwöhnte, er verfluchte den Vater, der ihm im Suff Ratschläge gab. Und Maria liebte ihn. Langsam glitten seine Hände über den Rand, fanden Halt an einer Wurzel. Manuel musste stehen bleiben, weil ihm die Kraft fehlte, sich hochzuziehen. Mit äußerster Anstrengung versuchte er, mit den Füßen Halt zu finden. Er wollte nur einen Moment ausruhen, einen winzigen Moment. Er fand einen Vorsprung unter seinen Füßen und konnte über den Rand schauen. Hinter einer verschwindenden Nebelwand sah er Maria in ihrem weißen Bett liegen, die Beine an die Brust gezogen. Ein Arzt stand vor ihr und drehte sich zu ihm um: „Sieh, das ist dein tapferer Vater. Schau ihn an und schrei. Schrei nach ihm, schrei um dein Leben.“ Manuel schrie, seine Stimme überschlug sich: „Maria, hier bin ich. Er hat einen Vater. Ich lebe, ich bin nicht tot.“ Tot, tot, hallte es durch das Tal. Der alte Adler wandte sich erschrocken ab. Maria sah Manuel mit erloschenem Blick an: „Manuel, wo bist du?“ „Hier, hier“, schluchzte Manuel.

Ja, er liebte seine Eltern, auch wenn sie manchmal mit ihm schimpften. Er war drei Jahre alt und gerade in den Kindergarten gekommen. Oft holte ihn der Papa ab, mit dem Fahrrad. Das waren die schönsten Tage. Da war der Junge ein kühner Fahrradkapitän, viel schneller als die anderen. Auch die Ampeln kannte er schon. “Bei Rot bleibst du stehen, bei Grün darfst du fahren”, hatte ihm der Papa immer erklärt.

Oft machte der Vater mit seinem Sohn einen Umweg, dort hinten bei den Bahngleisen. Manchmal schauten sie staunend auf die große schwarze Lokomotive, die viele Waggons zog. Fremde Menschen saßen darin und winkten den beiden Radfahrern zu. Begeistert ruderten Vater und Sohn mit beiden Armen zurück. Dann fuhren sie weiter, so schnell wie der Wind, dass die Haare nur so flogen. Es war so schön, mit Papa zu fahren. Wenn sie am großen Konsum vorbeikamen, kauften sie sich etwas. Der Vati – ein Bier, weil er schon groß war, eben ein richtiger Vati, und für den Sohn eine Limonade. Sie prosteten sich zu und der Vater stupste den kleinen Jungen auf die Nase und sagte: “Das machen die Arbeiter immer so“. Dann setzte der kleine Junge die große Eisenbahnermütze auf, die ihm bis über die Ohren reichte. “Ich werde auch ein richtiger Eisenbahner, so wie du.“ Beide lachten. Es war das helle Lachen einer Lerche und das dunkle Lachen eines Hirsches, wenn er röhrt. Es war das Lachen von Vater und Sohn.

Und dann gingen sie nach Hause zur Mama. Der Vater legte sich auf das Sofa und schlief ein, denn er war müde von der schweren Arbeit. Der kleine Junge ging mit seiner Kutsche und den zwei hölzernen Schimmeln auf die Wiese spielen. Er war der Kutscher und fuhr durch die Pusteblumen. Wenn die Sonne seine Nase kitzelte, musste er niesen. Oft wollte der Junge den goldgelben Eierkuchen haben. Aber das geht nicht, sagte die Mutter, die Sonne ist für alle Kinder da. Den Kindern, zu denen das Sandmännchen jeden Tag kam, wollte er die Sonne nicht wegnehmen. Alles war so schön und lustig, vor allem die kleinen roten Käfer mit den schwarzen Punkten, die so lustig über seine Finger krabbelten.

Eines Tages holte Papa ihn wieder ab. Aber diesmal machte er keine Umwege, keine Eisenbahn, kein Eis, keine Limo, sie fuhren schnell und leise nach Hause. Sonst hatten sie immer über die Radfahrer gelacht, die zurückblieben, sonst. … Es war plötzlich ganz anders als sonst.

Zu Hause durfte er nicht mehr auf den Hof, mit seinem Schimmelwagen, als Kutscher. Der kleine Junge sollte in der Küche spielen, aber er hatte keine Lust mehr. Was war nur mit Mama und Papa los? Heute hatten sie sich nicht einmal zur Begrüßung geküsst. Am Vorhang krabbelte ein Marienkäfer. Neugierig beobachtete der kleine Junge das Insekt. Plötzlich hörte er die Mama rufen und kurz darauf den Papa: „Das ist auch mein Kind“.

„Kinder in die Welt setzen, das kannst du. Aber sich um das Kind kümmern, das kannst du nicht. Nimm ihn mit und dann werde ich sehen, wie ich zurechtkomme.“ Der kleine Junge verstand nicht, warum seine Eltern schimpften. Wenn er etwas angestellt hatte, schimpften sie, aber so? Er stand immer noch am Fenster, als seine Mutter wütend auf ihn zukam. Wütend schrie sie den Papa an, der ihr folgte. Den kleinen Jungen, ihren Sohn, hatte sie vergessen: „Er ist ganz allein mein Junge. Du kannst deine Sachen packen und gehen, den Jungen bekommst du nicht“, schrie die Mutter wütend. „Und wer soll das Geld herbeischaffen?“, entgegnete der Vater, “nur ich. Wir werden sehen, wer den Jungen bekommt. Du erziehst ihn so, wie du bist, herrisch und hinterhältig.“

„Du hast mich betrogen. Meinetwegen kannst du in der Gosse verrotten, verlass mein Haus, der Junge wird dir nicht folgen. Willst du etwas Anständiges aus ihm machen?“ „Das war zu viel!“, keuchte der Vater und holte aus. Schützend schlug die Mutter die Hände über den Kopf, auf den die Schläge nun mit voller Wucht prasselten. Versteinert blickte der kleine Junge auf die herabfallenden Hände, die ihn so oft gestreichelt hatten, auf die wutverzerrten Lippen, die glanzlosen Augen, die sich in den gekrümmten, schreienden Leib der Mutter bohrten. Vergessen waren das Auto, die Lokomotive, die Radfahrer, die Pusteblumen, die Sonne, die Wiesen mit den roten Käfern, das helle Lachen und das tiefe Röhren, die so gut zusammenpassten. Der kleine Junge klammerte sich an die Jacke seines Vaters und rief: “Papa, nicht hauen, Mama aua! Nicht hauen, aua!“

Der Vater zuckte zusammen und schaute verwundert auf den kleinen Jungen, der tapfer mit den Tränen kämpfte und sich immer noch schluchzend an seine Jacke klammerte. Die blassen Lippen flüsterten wieder und wieder, kaum hörbar: “Bitte nicht schlagen. Aua.“ Der kleine Junge schaute flehend auf die Hände seines Vaters, die ihm so oft die Mütze über die Ohren zogen, dass ihm eine Träne zu Boden fiel. Der Vater blickte den kleinen Jungen zärtlich an und hob die Hand, um ihn sanft zu streicheln. Der Sohn zuckte erschrocken zusammen. Schweigend verließ der Vater das Zimmer. Die Mutter drückte den kleinen Jungen weinend an sich.

Der kleine Junge sah, wie der Marienkäfer im Zimmer umherflog und keinen Weg nach draußen fand. Da weinte der Sohn der Eltern, denn er liebte den Marienkäfer von ganzem Herzen, der in diesem Zimmer gefangen war und vielleicht sterben musste – ohne Sonne, ohne Wärme, ohne Liebe.

Er sprach kaum. Ein paar Worte, Mama, Papa, Essen und für andere Dinge erfand Thomas Worte, deren Sinn nur seine Mutter verstand. Es war einfach nichts zu machen, so sehr sie sich auch bemühte. Die Einschulung stand bevor und Martina wusste nicht weiter. Ein Arzt riet ihr, den kleinen Sohn noch ein Jahr zu Hause zu lassen. Sie war von ihrem jetzigen Mann schwanger, aber er schien nicht in der Lage zu sein, solche Familiengespräche zu führen. Tommy war ja auch nicht sein Sohn. Ihr Exmann hingegen war gewalttätig. Sie hatte sich vor mehr als einem Jahr von ihm scheiden lassen, weil er sie, jähzornig wie er war, geschlagen hatte. Ihr Sohn verstand sich gut mit seinem richtigen Vater, im Gegensatz zu Simon, der jetzt bei ihnen wohnte. Er begegnete ihrem fünfjährigen Sohn eher distanziert. Sie erinnerte sich, wie sie kürzlich mit Thommy im Keller Kartoffeln holte, als ihr jetziger Mann Simon auftauchte und etwas suchte. „Simon, da“, zeigte Tommy auf den Schraubenzieher, der auf dem Werkzeugtisch lag. Simon erstarrte, sah Martina an und verließ wortlos mit dem Schraubenzieher den Keller. Martina kniete sich vor ihren Sohn und versuchte sanft mit ihm zu sprechen: „Du sollst ihn nicht mehr Simon nennen. Er ist jetzt dein Vater. Du sagst ab jetzt Papa zu ihm. Hast du verstanden?“ Der Sohn sah sie verständnislos an und schwieg. Er wusste, es war ab jetzt Gesetz. Martina nahm sein Schweigen als Zustimmung. Von da an sprach Tommy überhaupt nicht mehr mit Simon, sondern folgte seiner Mutter auf Schritt und Tritt, selbst auf die Toilette.

Trotz der Warnungen hatte Martina ihren Sohn eingeschult, ohne ein weiteres Jahr verstreichen zu lassen. Inzwischen war ihr zweiter Sohn geboren, und sie hoffte, dass in der Schule unter den vielen Kindern vielleicht der Knoten platzen würde. Simon liebte seinen neugeborenen Sohn sehr und hielt ihn gerne im Arm. Tommy stand dann meist etwas hilflos daneben und schwieg. In der Schule dagegen blühte er auf und wurde innerhalb eines Jahres der beste Leser seiner Klasse. Die Schule machte ihm Spaß und er konnte sich selbst etwas beibringen. Zu Hause war er lange nicht so gesprächig, die Mutter freute sich, dass er wenigstens vernünftig sprach, für Simon war das eher eine Randnotiz. Er hatte Wichtigeres zu tun. Simon war oft auf Montage, da hatte die Mutter viel zu tun. Sie musste in der Waschküche waschen und Tommy musste auf seinen kleinen Bruder aufpassen. Der lag in seinem Himmelbett und mit ihm spielen ging noch nicht. Er lag nur da, griff nach seinen Füßen und sprach kein Wort. „Du musst sprechen, Jonas. Sag etwas“, forderte er das Baby auf. Manchmal versuchte er, ihm etwas vorzulesen, aber Jonas schrie nur. Das machte Tommy wütend. Er hatte wohl den Jähzorn von seinem leiblichen Vater geerbt. In solchen Momenten tat er unverständliche Dinge und schoss mit einer Ballpistole in das Himmelbett des Babys. Er wollte nur, dass Jonas aufhört zu schreien. Wenn die Tischtennisbälle verschossen waren, wusste er nicht einmal, warum er das tat. Einmal fand seine Mutter einen solchen Plastikball und stellte ihn zur Rede. Tommy verstummte daraufhin und das Babybett blieb im Schlafzimmer der Eltern. Tommy war sich seiner Schuld bewusst, aber er konnte sich sein Verhalten nicht erklären. Am liebsten wäre er weggelaufen. Er spürte, wie die Liebe langsam aus dem Haus wich.

Martina war eines Tages bei ihrer Mutter, als es dort klingelte. Zwei Männer standen vor der Tür.

Der eine war ihr Nachbar. Sie war so überrascht, dass sie nicht einmal grüßen konnte. Schließlich war es eine ganz schöne Strecke, die sie selbst mit dem Fahrrad in 20 Minten fuhr. Außerdem war es kurz nach 21 Uhr. „Martina“, ihr Nachbar wirkte etwas bedrückt, „dein Sohn ist beim Pförtner im Maschinenbau“. Martina verstand nichts. Tommy konnte das Haus nicht verlassen, sie hatte die Tür abgeschlossen. Er sollte ab und zu nach seinem kleinen Bruder sehen. Das hatte sie schon oft so gemacht. Tommy lag dann im Bett und las. Er las meistens Bücher auf einmal und war verrückt nach Büchern. Aber wie kam er zu Maschinenbau, der zwar nur ein paar 100 Meter entfernt war, aber zu dem er sonst keine

keine Beziehung hatte. „Martina“, der Mann griff ihr auf die Schulter, „deinen Sohn haben wir im Nachthemd vor eurer Wohnung aufgegriffen. Er ist aus dem Badfenster gesprungen. Im Nachthemd!“ „Woher wusstet ihr, wo ich bin?“, fragte sie völlig verwirrt und zog sich eilig ihren Mantel über. „Von Tommy“, sagte der andere Mann, „Gut, dass ihr im Erdgeschoß wohnt und nicht mehr passiert ist.“ „Wie geht es ihm?“, fragte Martina besorgt. „Er ist wie in Trance kannte aber die Adresse seiner Oma, sagt aber sonst nicht, wusste nicht warum er das tat.“ „Wir fahren mit meinem Trabbi“, entschied der andere Mann, „Tommy flüstert nur immer etwas, was wie Bootsmann klingt. Wissen Sie, was er meint?“ Martina schüttelte den Kopf, mit einem Bootsmann hatten sie nun wirklich nichts zu tun.

 

Endlich hatte Martina Tommy zu Bett gebracht. Aus dem Jungen war nichts herauszubringen. Es war, als wüsste er nicht einmal, was geschehen war. Als sie ihm das offene Badfenster zeigte und fragte, warum er gesprungen sei, sagte er nur kopfschüttelnd das er nicht gesprungen sei. Er hatte wohl nur geträumt. In seinem Zimmer lagen zwei Bücher herum. Einmal ein Trompeterbuch und ein kleineres mit dem Titel „Bootsmann auf der Scholle“. Es war eine Geschichte über einen kleinen Hund, der durch einen Zufall auf eine Eisscholle geriet und wegtrieb, wie Martina bis zur Hälfte des dünnen Buches las. Albträume, dachte sie und beschloss, das Lesen ihres Sohns zu beschränken. Das Bootsmann Buch versteckte sie vor ihm. Martina musste das Buch nicht zu Ende lesen, sie war überzeugt zu wissen, was geschehen war.

54 Jahre später bekam Tommy das Büchlein von Freunden wieder geschenkt. Er las es noch einmal und verstand die Freude des kleinen Hundes, der auf seiner Scholle dahintrieb und dann in die Arme von Freunden sprang, die gemeinsam nach ihm suchten. Tommy legte das Buch zurück und erinnerte sich an seine vielen Sprünge im Leben. Es waren Sprünge, die ihn oft zurückwarfen. Seine eigene Scholle schmolz mit den Jahren, ohne das er ankommen würde. Vielleicht sollte er noch einen Sprung wagen…

Es war in den letzten Monaten dieses schrecklichen Krieges. Ganze Städte wurden in Schutt und Asche gelegt und die entmenschte Erde röchelte aus ihren Wunden. Schlimmer als jedes Raubtier zerfetzte der Mensch sich selbst und bearbeitete mit einer seltsamen bestialischen Freude seine eigenen Artgenossen. Gegen sich selbst aber war der Mensch nackt und hilflos. – Und doch gab es immer wieder Lichtgestalten, die ihr menschliches Antlitz beibehielten.

 

Nahe dem Dorfe L. wurde im Februar 1945 ein versprengter Trupp faschistischer SS aufgerieben.

Die sowjetischen Soldaten, die durch den erbitterten Widerstand der SS erhebliche Verluste erlitten, machten nur zwei lebende Gefangene.

Einer der Gefangenen war, der in dieser Gegend als berüchtigter „Totengräber“ bekannt; Oberscharführer Ernst H. Der Andere, ein eher schmächtiges Bürschlein, ein heruntergekommener Gefreiter, schlotterte vor Angst, brachte kaum mehr als ein Stammeln heraus.

Im Quartier des sowjetischen Stabes bereitete ein Sergeant gerade die bei dem gefangenen faschistischen Offizier gefundenen Bilder aus, als Martha B. den Unterstand betrat.

Sie hatte die vor dem Zelt wartenden Gefangenen kaum eines Blickes gewürdigt und bemerkte deshalb auch nicht die verächtlichen Züge des Oberscharführers. 1938 war sie in die Sowjetunion emigriert, nachdem die Gestapo ihren gerade erst 18-jährigen Sohn verhaften ließ und folterte. Einmal sah sie ihn noch ganz kurz und in ihr prägte sich sein geschwollenes, blutunterlaufenes Gesicht ein. Einige Tage später erklärte ihr ein pausbäckiges Beamtengesicht höhnisch, ihr Sohn sei auf der Flucht erschossen worden sei. Marthas Entschluss stand in diesem Moment fest und auf gefahrvollen Wegen gelang ihr die Flucht nach Russland. Dort meldete sie sich bald darauf bei der Roten Armee und sorgte fortan als Krankenschwester für die Verwundeten. Sie hatte die übelsten Wunden gesehen und sehnte sich nach ihrer Heimat, ihrer hoffentlich noch lebenden Familie.

 

„Grauenhaft“, sagte Sergeant Pawel Petrowitsch gerade.

„Was ist grauenhaft?“, fragte Martha besorgt, auf Russisch, einer Sprache, die sie inzwischen perfekt beherrschte.

„Alles, was wir um uns herum an Leiden sehen, aber das hier …“, Pawel Petrowitsch tippte energisch auf die Fotos, „…das hier besonders.“

Martha kam näher und betrachtete die Bilder aufmerksam. Plötzlich ging in der Frau eine seltsame Veränderung vor sich. Die ansonsten vitale, stolz aufgerichtete Frau, sackte regelrecht in sich zusammen, ihre Lippen pressten sich zu einem schmalen Spalt fest aufeinander, sodass mit einem Mal alles Blut aus ihnen wich. Martha B. wurde blass und ihre Hände begannen fast unmerklich fast zu zittern. Pawel Petrowitsch konnte im letzten Moment die wankende Frau auffangen: “Masha, was ist mit dir, ist dir nicht gut.“ Er versuchte ihr die Bilder wegzunehmen, doch Martha klammerte sich daran fest und schrie den helfenden Sergeanten an: „Lass mich in Ruhe.“ Sie riss sich los und setze sich auf einen Stuhl, um die Bilder noch einmal zu betrachten. Schweigend blieb Pawel Petrowitsch neben ihr stehen. Dieser Mann, der in Schlachten mutig vorne wegstürmte, der mit bloßer Faust einen Mann töten konnte, dieser Mann war angesichts der kleinen kauernden Frau verwirrt und völlig hilflos.

Die Bilder waren in einem KZ gemacht worden. Sie zeigten einen jungen SS-Mann, eben jenen Oberscharführer, der lächelnd mit der MPI in der Hand vor einer Reihe nackter Frauen und Kinder stand. Das nächste Bild zeigte den Moment der Exekution. Eine Frau sank zu Boden, verzweifelt gestützt von dem kleinen Mädchen neben ihr. Die danebenstehende Frau umklammerte ein Stoffbündel. Das dritte Bild zeigte die Folterung einer jungen Frau; an den Brustwarzen waren mit Nadeln dünne Drähte befestigt. Sie schien entsetzlich zu schreien, die Augen waren irr verdreht. Es waren entsetzliche Bilder von Vergewaltigungen, Erhängen und der ganzen Palette menschlicher Leiden, die selbst die Hölle sich nicht ausdenken könnte. Das Schlimmste aber war, das auf jedem Bild der lächelnde junge Mann zu sehen war.

Martha betrachtete immer und immer wieder die Bilder. In ein Foto vertiefte sie sich besonders.

Es zeigte den jungen Mann vor der Leiche einer schwangeren Frau, den Fuß auf den angeschwollenen Bauch gesetzt. Tränen rannen über Marthas Gesicht. Plötzlich stand sie ruckartig auf, ging auf Pawel Petrowitsch zu, „Von wem sind die Bilder?“, sie blickte den Sergeanten fragend an. „Von dem Gefangenen, dem Oberscharführer. Er ist der Offizier auf den Bildern.“ Für einen Moment schloss Martha die Augen, sank auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Pawel Petrowitsch beugte sich zu der schluchzenden Frau hinunter und flüsterte betroffen ihren Spitznamen: “Manuschka, Manuschka.“ Als Martha in endlich anschaute, prallte er unwillkürlich zurück, ihr Gesicht war um Jahre gealtert und ihre ohnehin schon grauen Haare schienen weiß wie Schnee. Martha erhob sich schwer und ging stumm aus dem Unterstand in ihr Zelt. Dort ergriff sie ruhig ihre MPI, die sie inmitten der Verwundeten nur wenig brauchte. Mit langsamen Bewegungen lud sie die Waffe und hängte sie sich um. „Ich muss ihn vernichten. Das bin ich IHM schuldig“, murmelte sie in deutschen Worten vor sich hin.

 

In der Ecke des Gefangenenbunkers kauerte Oberscharführer Ernst H. Er wusste, dass er eigentlich tot war und klammerte sich doch an ein klein wenig Hoffnung. Seine Heimat erschien ihm wie ein fernes Märchenland, von dem er einst hörte, aber nie kennengelernt hatte. Als die alte Frau eintrat, rutschte er auf Knien, seinem letzten bisschen Würde, zu ihr und umklammerte angstvoll wimmernd ihre Beine. Angeekelt schüttelte sie dieses schlotternde Bündel Menschlein von sich. Unbewegt stand Martha in dem Erdbunker und betrachtete starr die vor sich zusammengekrümmte, wimmernde Kreatur. Vor ihren Augen entstand das Bild des desselben Mannes mit der Leiche der schwangeren Frau. „Steh auf“, forderte sie tonlos. Zitternd stand Ernst H. auf. Sie sah ihn durchdringend an. ‚Er erkennt mich nicht‘, dachte sie. ‚Er hat Angst, weiß er auch warum?‘. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Martha B. umklammerte fester ihre MPI.

 

Der Oberscharführer bemerkte dies und sein Gesicht verzog sich weinerlich. „Bitte nicht schießen, ich habe doch nur für mein Land gekämpft.“ Unbeschreibliche Angst machte sich in dem knabenhaften Gesicht breit. „Ich vergebe dir“, murmelte Martha und krümmte den Finger. Die Garben zerfetzten den Körper des Oberscharführers, der sich wie in Ekstase ein letztes Mal aufbäumte und schüttelte. Dann ließ sie die Waffe fallen, kniete neben dem zerschossenen Körper nieder und schickte sich an, die blutverschmierte schwarze Uniform von der Leiche abzureißen. Martha arbeitete wie besessen, bis der fast nackte Leichnam mit zahlreichen Einschusslöchern vor ihr lag. Jetzt packte sie den Leichnam unter die Arme und zerrte ihn ächzend ins Freie. Dort standen schon neugierig einige Sowjetsoldaten mit Pawel Petrowitsch. Er sah sie schweigend und durchdringend an. „Ich bin nicht verrückt“, sagte sie erst deutsch und wiederholte es auf Russisch. „Es ist mein Sohn.“ Pawel Petrowitsch hatte in seinem Kriegsleben viel gesehen, noch mehr gehört und nichts schien diesen Mann noch erschüttern zu können, doch plötzlich fühlte er für einen kurzen Moment  einen Schauer über seinen Rücken laufen  Ungläubig schaute er auf den leblosen Körper, aus dem noch frisches Blut floss. „Der Gefangene – dein Sohn?“, fragte er ungläubig. „Nein, nein“, Martha B. schüttelte energisch den Kopf, „Der Gefangene war ein Mörder. Er hat den Tod verdient. Das hier …“, und sie berührte fast zärtlich das unverletzte Gesicht, „…das ist mein Sohn – und der wurde einst von der Gestapo ermordet. Ich werde ihn eigenhändig begraben.“ Sie beugte sich nieder und drückte ihren Sohn die Augen zu. Pawel Petrowitsch hatte noch nie die Grausamkeit des gesamten Krieges an einem einzigen Ort gesehen.

 

 

Er trat aus dem großen, blauen Haus mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. In seiner Tasche klapperten die Autoschlüssel.

“ GX an XZ, GX an XZ. Objekt nimmt Stellung ein. Hologramm starten. Apparate laufen. Ströme werden gemessen. Test läuft. Ende. ”

“ XZ an GX. Gehe auf visuellen Empfang. Ende. ”

Renard klemmte sich hinter das Lenkrad. ‘Jetzt geht es los.’ dachte er böse. ‘Es wird schön sein. All das rote Blut. Tote sind etwas herrliches.’ Er gab Gas und ließ unendlich langsam die Kupplung kommen.

“Ich mache da nicht mehr mit.” Goodrey stand auf und zündete sich eine Zigarette an. “ Die Öffentlichkeit wird davon erfahren.” Eugen Goodrey strich sich mit beiden Händen über das Gesicht und betrachtete seinen Raum. Dicke Schaumgummiwände umgaben ihn, mit Porno Bildern und Poster mit Mord und Totschlag. Er holte eine kleine Ampulle aus der Tasche und stellte sie auf den Tisch. “ Das ist mein Leben” murmelte er leise vor sich hin, um sie im gleichen Augenblick mit einer abrupten Bewegung wieder in seine Tasche zu stecken.

“GX an XZ. Nummer Acht hat negative Position. Bei der nächsten Fahrt eliminieren. ”

Allmählich steigerte der Wagen seine Geschwindigkeit. Unaufhaltsam stieg die Tachonadel. 100,120,140,160,180 Meilen in der Stunde. Die Straße verlief schnurgerade. Renards Erregung wuchs von Minute zu Minute. Bald mussten sie auftauchen. Der Asphalt flimmerte. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf die gelbe Linie in der Mitte. So konnte Renard die blauen, kleinen, quaderförmigen Blöcke links und rechts der Straße im Abstand von 1 Meile nicht sehen.

“XZ an GX. Gehirnfrequenz des Probanden steigt auf Maximum. 0.89. Bei 1 rotes Licht. Beginn des Hologramms.”

Renard war glücklich. Endlich, davorn war das Pärchen. Arm in Arm eng umschlungen schlenderten sie nichts ahnend die Straße entlang. ‘Die bring ich um.’ Er riß den Lenker herum und steuerte direkt auf die Beiden zu. Seine Augen blickten starr, der Mund stand halb offen, seine Hände verkrampften sich. Unmerklich und zäh vergingen die Sekunden bis zum Aufprall, der schnell und heftig war. Renard hörte ihn deutlich und sah die Beiden merkwürdig verrenkt durch die Luft fliegen. Er trat mit einem Ruck auf die Bremse. Er wußte, dass er nicht aussteigen konnte. Solange er nicht zurück im blauen Haus war, blieben die Türen geschlossen. Glücklich, wie ein kleines Kind wendete Renard den Wagen und fuhr langsam an den Beiden vorüber. Sie lagen noch immer eng umschlungen in einer Lache voll Blut zusammen. Rebnard hatte sein Ziel erreicht, seine Augen glänzten. Er gab Gas und fuhr entspannt den Weg zurück nach Haus.

Einige Minuten später lösten sich die beiden Körper auf. Die Straße war blank und sauber, als wäre niemals etwas geschehen.

“ GX an XZ. Versuch beendet. Objekt 12, Ankunft in ca. 5 Minuten. Ende. ”

 

Zufrieden kehrte Renard in sein Zimmer zurück und steckte sich eine Zigarette an. Die Tür ging auf und eine nackte Frau stand vor ihm. “ Komm rein Carol. ” forderte Renard sanft. “ Ich habe dir etwas zu erzählen. Es war einfach herrlich.” Die Frau legte sich auf sein Bett und spreizte leicht die Beine. Renard knöpfte sich die Hose auf…

Turner betrachtete fassungslos den Bildschirm. Täuschten ihn seine Sinne? War das nur ein Film oder etwa…? Ungläubig schüttelte er den Kopf. Er war doch nicht wegen eines Films hier. Turner blickte verständnislos den Professor an. “ Was war das denn?” fragte der Journalist.

“ Ein Experiment!” der Professor lächelte gleichmütig. Turner schluckte.

“ Aber was ist mit den zwei toten Menschen?” fragte er erregt. “ Mein lieber Mr. Turner, wir sind doch bitteschön keine Unmenschen. Haben sie schon mal etwas von räumlichen Fotos gehört, so genannten Hologrammen. Nun wir haben die Technik etwas verfeinert. Das Ergebnis konnten sie eben bewundern. ‘Ich glaube ich werde verrückt.’ dachte Turner “ Haben Sie einen Whiskey, um Gottes Willen ich brauche einen Whiskey. ” beschwor er fast den Professor. Dieser erhob sich arrogant lächelnd und ging zu einem Servierwagen. “ Ich sehe, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.” Der grauhaarige, stämmige Mann machte eine Pause, goss Scotch in ein Glas und reichte es Turner. “ Sie zittern ja” bemerkte der Professor zufrieden. Lassen Sie uns erst anstoßen, dann erzähle ich Ihnen eine nette kleine Geschichte. ”

Kurz nach meiner Promotion zum Professor für Psychologie bekam ich vom wissenschaftlichen Rat des Pentagons einen bedeutsamen und natürlich geheimen Auftrag. Damals war gerade der Krieg in Vietnam von großem nationalen Interesse. Es wurden immer neuere Waffen entwickeln, die die Vietcong aber nicht sonderlich beeindruckten. Es wurde sogar erwogen, die Atombombe einzusetzen, doch aus Imagegründen verworfen. Aber ich schweife ab.

Meine Forschungsgruppe setzte sich aus Genetiker und Psychologen zusammen. Eine seltsame Kombination, nicht wahr. In der Nevada Wüste entstand eine Viehfarm und darunter in 16m Tiefe unser geheimes Forschungslabor mit dem Projekt “Lucky Fruits” – Glückliche Früchte. Einer meiner Mitarbeiter war dieser Renard, den Sie eben bei seinem Auftritt bewundern durften. Er war damals ein ehrgeiziger, aber auch äußerst skrupelloser Mann. So einen brauchten wir. Wir standen kurz vor der Fertigstellung eines gewissen Mittels zur psychologisch-genetischen Kriegsführung, da lernte er diese verdammte Jane kennen. Sie war klug attraktiv, ehrgeizig, skrupellos, kurz das weibliche Gegenstück zu Renard, nur mit einem Haken. Sie war engagierte Kriegsgegnerin. Sie wickelte ihn einfach um ihren kleinen Finger und vögelte ihm den Verstand raus. Verzeihen Sie diesen vulgären Worte, aber es entsprach den Tatsachen. Renard schrieb Tagebuch und konnte sich Details nicht verkneifen. Wie auch immer, eines Tages musste Renard in einen abgesicherten Bereich. Er vergaß seinen achtlos auf den Schreibtisch hingeworfenen Kittel, den ich für ihn wegräumen wollte. Dabei fiel mir ein Büchlein heraus – sein Tagebuch. Es war in einem solchen Projekt strengstens verboten Tagebuch zu führen und ich gab es unserem Vorgesetzten weiter. Seine Liaison mit dieser Person, die uns gefährlich werden konnte, war mir schon die ganze Zeit ein Dorn im Auge.

Es geschah erst einmal nichts und Renard ging in Urlaub. Als er wieder zurückkam, ahnte niemand was er vorhatte, angeblich hatte er mit Jane Streit und sich von ihr getrennt. Zwei Tage später stand in der Zeitung mit großen Lettern “ Sexy Antikriegsheldin setzte ihrem Leben durch Drogen ein Ende.” Ich las es im Auto auf dem Weg zur Farm. Wir waren noch gut eine Meile entfernt, als wir eine fürchterliche Explosion aus dieser Richtung hörten. Ich weiß weder, wie er es geschafft hat, noch warum er nicht rechtzeitig wegkam, fest steht die Ursache der Explosion war eine von Renard simpel hergestellte TNT Anlage ohne elektrischen Zünder, um den Alarm zu umgehen. Er hatte den Eingang zum Fahrstuhl und das Labor gesprengt. Die Schäden am Fahrstuhl waren relativ gering, hingegen waren die Unterlagen und das gesamte Equipment des Labors vollständig zerstört. Das hergestellte Material, wir nannten es Lucky Fruits Saft” war nicht mehr aufzufinden. Teile davon wurden bei der Explosion zerstäubt. Aus den Trümmern bargen wir 27 Verletzte und Schwerverletzte, unter ihnen Renard, sowie einige Tote. Wir pflegten sie in einem isolierten, abgeschotteten Bereich. Zu unserem Erstaunen gesundeten sie sehr rasch, man konnte förmlich zuschauen, wie die Verletzungen verschwanden. Und dann geschah es, in einer Nacht fielen sie über ein ander her und brachten die Schwächeren um. Am nächsten Morgen sahen wir das Blutbad. Sechs nun vollständig Gesunde blutverschmierte Leiber schliefen ruhig und zufrieden in ihren Betten, während der Raum eine einziger Schlachthof war, es war unbeschreiblich. Einige Wachen übergaben sich sofort.

Zuerst begriffen wir rein gar nichts von dem Geschehen, bis es uns dämmerte. Der Saft war die Lösung. Es wirkte oder besser veränderte die Psychologie des Menschen. Sie empfinden alles Lebendige um sich herum als Bedrohung und haben einen inneren Drang zum Töten. Ansonsten waren sie normal, hatten nur für komplizierte Dinge, wie zum Beispiel Wissenschaften kein Speichergedächtnis mehr. Durch die Zerstäubung der Infektion bekamen sie mehr oder weniger von dem Saft damals ab. Ich begriff, dass wir hier durch Anschlag oder Zufall, wie auch immer, ideale Versuchspersonen hatten und wir beschlossen die Tests auszuweiten. So können wir die Auswirkungen ausgezeichnet kontrollieren.

Zufrieden schnaufte der Professor und schenkte sich einen Martini ein. Turners Gedanken kreiselten. ‘Wieso erzählt er mir das ?’  dachte er. “ Gibt es denn kein Gegenmittel, keine Hoffnung für diese Menschen. “ fragte er erschüttert.” Es sind Mörder.” erwiderte der Professor ungerührt. Sie brachten 21 Menschen um und würden jeden Töten, wenn wir sie nicht isolierten. Sie wären längst schon in der Todeszelle, so aber sind sie unserm Land wenigstens noch von Nutzen.” Turner presste die Lippen zusammen. “ Der Vietnamkrieg ist doch zu Ende, oder?” “ Stimmt, aber der nächste Krieg kommt auch, spätestens, wenn die Ölreserven zu Ende gehen. Und dann bedeuten gute Waffen Macht. Das ist von größtem nationalen Interesse. Freilich haben wir ein Gegenmittel. Wir müssen uns vor unseren eigen Waffen ja schützen können.” Turner richtete sich mit einem Ruck auf. “ Das wird die Welt erfahren, Herr Professor.” Der Professor erhob sich bedächtig und lächelte. “ Glauben Sie im Ernst, ich erzähle Ihnen, der uns schon lange versucht hinter das Geheimnis zu kommen, so einfach mir nichts, dir nichts Projekte mit höchster Geheimhaltungsstufe und sie können hier herausspazieren und losplaudern? Sie haben den Scotch schon ausgetrunken, wie ich sehe. ” Erschrocken wich Turner vor dem süffisanten Lächeln zurück. “ Sie haben… den Saft…” Ihm wurde seltsam zumute. Aus weiter Ferne hörte er den Professor. “ Ja, das war das Mittel. Lucky Fruits. Wir brauchen noch Versuchspersonen und da kommen uns solche Schwätzer gerade recht. Ich musste Sie nur etwas beschäftigen. Dann werde Sie zum Mörder und wissen von nichts mehr. Ihr Persönlichkeit geht verloren. Sie wollen sich nur noch paaren und töten. ” Turner gaffte den Professor irre an, seine Augen begannen sich zu weiten. Er wollte sich auf den Professor stürzen und empfand eine Gier nach Blut. Ihn packten vier Arme und zwei muskelbepackte Männer schleiften ihn in eine Zelle. Auf der Pritsche lag eine nackte Frau. Turner wurde ganz ruhig und begann sich auszuziehen.

Goodrey wußte, gleich musste er an der Reihe sein. Im Bett schlief die arme Cecile. Wie viel Psychopharmaka hatte sie wohl in sich? ‘Bald wirst auch du erlöst sein, armes Mädchen.’ dachte er. Goodrey ging hinaus und stieg in das Auto. “ Ich muss es schaffen, mich von hier befreien. In Gedanken ging er den Fluchtplan durch. Plötzlich bemerkte er, wie sich ein Teil der 3m hohen glatten Mauer um sein Heim bewegte. Eine ihm unbekannte Tür öffnete sich und eine Gestalt löste sich vom Hintergrund und trat auf sein Fahrzeug zu. Bevor Goodrey noch begriff, was geschah, zog die Gestalt einen Polizeirevolver und feuerte auf seinen Kopf. Die Gestalt feuerte die Trommel ab und verschwand. Der Spalt in der Mauer verschloss sich fugenlos.

Der Professor wählte eine Nummer. “ Friendly Farm. Professor Lanley. ”

“ Hier ist die Polizei von Cosrey. Einer ihrer Farmarbeiter wurde tot in seinem Wagen gefunden. Erschossen. Er heißt Eugen Goodrey. ”

 “ Ach der Arme. Er war einer unserer besten Farmer. Haben Sie schon den Täter. ”

“ Nein, aber wir haben eine Vermutung. War bei Ihnen nicht ein Journalist namens Jerome Turner. ”

“ Ja, aber nur kurz, er wirkte etwas überspannt und hat kaum etwas gefragt, war etwas abwesend. Sollte dieser nette., junge Mann… ”

“ Das wissen wir nicht, aber wir fanden auf den Beifahrersitz einen Teil seiner Jounalistenakreditierung und Haare von ihm, laut unserem Labor. Es scheint wohl Streit gegeben zu haben. ”

“ Das ist ja schrecklich…. ”

“ Wir schicken einen Beamten zu Ihnen wegen Goodreys Papiere. ”

“ Ja, natürlich, wenn ich helfen kann. Meine Frau macht gerade Kaffee…”   

  1. – 28.11.1980

Ich, Renate Richau, geborene Meywald, wurde am 20.10.1938 in Taucha bei Leipzig geboren. Es war das Jahr, in dem Hitler den Krieg vorbereitete, dessen Ende ich noch erleben sollte. Fast drei Jahre später, 1941, kam mein Bruder Peter in diese scheinbar noch friedliche Welt. Eine Woche später überfielen deutsche Truppen die Sowjetunion.  Doch in der Haizinger Gasse 5 in Wien, wohin wir nach seiner Geburt zogen, erlebten wir vorerst eine glückliche Kindheit, die ich hauptsächlich in der Wohnung verbrachte. Wenn ich raus durfte, verließ ich trotz Verboten den Hof. Es zog mich einfach hinaus in die Welt oder auch nur zum nahe gelegenen Parkteich. So war ich eines Tages plötzlich verschwunden, als meine Mutter nach mir rief. Eine Nachbarin kam ihr zu Hilfe und fragte: „Suchen Sie Ihre Tochter? Am Teich um die Ecke ist ein kleines Mädchen mit einer weißen Schleife im Haar und einer Puppe im Arm“. Meine Mutter seufzte: „Ja, das ist sie. Sie ist schon wieder weggelaufen. Es sollte nicht das letzte Mal sein. So war es kein Wunder, dass ich noch ein weiteres Mal durch die Straßen lief, bis mich ein Polizist aufgriff und mit aufs Revier nahm. Als mein Vater mich abholen wollte, wollte ich das nicht. „Nein“, protestierte ich, „es ist so schön hier.“ Schließlich waren die Polizisten nicht nur nett, sondern spielten auch mit mir, was ich sehr genoss.

Zu Hause mussten wir durch das Wohnzimmer gehen, das links eine große Flügeltür hatte. Durch diese gelangten wir in unser Kinderzimmer, das zum Spielen viel zu klein war. Immerhin hing am Türrahmen eine Schaukel. Also suchte ich mir zum Entsetzen meiner Eltern einen anderen Spielplatz. Es war die Fensterbank im ersten Stock. Ich schaute mir die Welt von dieser Fensterbank aus an und ließ meine Beine nach außen baumeln. Unser Arzt, ein Nachbar, sah das von der Straße aus und klingelte bei uns. Als meine Mutter öffnete, legte er den Finger auf ihre Lippen: „Seien Sie leise und bleiben Sie hier im Flur“. „Was ist denn los?“, fragte meine Mutter irritiert. Doch schon war der Arzt an ihr vorbei, schlich ins Kinderzimmer und holte mich von der Fensterbank. Wenig später war das Fenster vergittert, mein Lieblingsspielplatz gesichert und mir versperrt. Daraus entwickelte sich bald meine Leidenschaft, Spielsachen aus dem Fenster zu werfen. Es drängte mich nach draußen und ich wollte wohl auch die Aufmerksamkeit der Passanten auf mich ziehen.

Eines Tages kamen meine Eltern aus dem Kino und bemerkten die hell erleuchtete Wohnung. Ratlos fragten sie sich, was wieder geschehen war. Schnell öffneten sie die Tür und fanden mich, meinen Bruder und meine Schwester Gisela, Jahrgang 1943, damals noch ein Baby, friedlich schlafend im Ehebett. Aber was war hier geschehen? Nun, wir waren allein und meine Gisela schrie wie am Spieß. Also nahm ich sie kurzerhand und legte sie in die Ehebetten meiner Eltern. Dann holte ich meinen Bruder, der inzwischen auch durch das Geschrei aufgewacht war.  Ich legte ihn auf den Boden und da er mir zu schwer war, zog ich ihn kurzerhand über den frisch gebohnerten Boden zu meiner Schwester. Er war natürlich ganz schmutzig und das Bett auch. Warum ich meine Schwester nicht einfach in mein Bett gelegt hatte, blieb ein ungelöstes Rätsel? Aber die Welt war nicht immer einfach. Schon gar nicht 1944 in Wien. Es war die Zeit der ständigen Bombenalarme in der österreichischen Hauptstadt. So auch am 10.09.1944, als ein Angriff stattfand. Es gab den üblichen Sirenenalarm und wir mussten in den Luftschutzkeller. Meine Mutter ging mit zwei Kindern auf dem Arm voraus und ich trödelte hinterher. Plötzlich fielen die ersten Bomben. Lärm, Schreie, Explosionen, ich bekam Angst und schrie nach meiner Mutter. Ein Stein traf mich. Ich war kurz benommen und wurde in den Luftschutzkeller gezogen. Er war klein und dunkel, draußen krachte es, Steine flogen gegen die Tür. Nach der Entwarnung konnte die Tür nicht geöffnet werden, weil sie zugeschüttet war. Verzweifelt suchten die Menschen nach einer Lösung und fanden sie – in mir. Ich war klein und passte durch die Öffnung eines zerbrochenen Fensters. Endlich draußen, musste ich viele Steine wegräumen, während mir die Eingeschlossenen durch das Fenster Anweisungen gaben. Irgendwann zwängte sich ein Erwachsener durch den Türspalt und konnte nun auch die anderen befreien. Bald war auch meine Mutter wieder bei mir, und wir gingen nach Hause. Plötzlich wurde mir bewusst, was um mich herum geschehen war. „Hier liegen Menschen“, rief ich erstaunt. Meine Mutter reagierte barsch: „Schau nicht hin, räum die Steine vor unserer Haustür weg.“

In unserer Wohnung erwartete uns das Chaos. Im Schlafzimmer muss eine Bombe eingeschlagen sein. Die Tür hing in den Angeln und die Möbel, oder was davon übrig war, standen im Erdgeschoss. Mama konnte in den Himmel sehen, weil es keine Fenster mehr gab. Einige Möbelstücke schienen überlebt zu haben, zerfielen aber sofort bei Berührung. Nur der Sanitärkasten hing ironischerweise noch an der Schlafzimmerwand, als wäre nie etwas passiert. Im Hof unserer Wohnung lebte eine angekettete große Schildkröte, die wie durch ein Wunder den Bombenhagel an diesem schicksalsschweren Tag überlebt hatte.

Uns blieb nichts anderes übrig, als eine neue Bleibe zu suchen, und so zogen wir im Herbst 1944 nach Zittau. Mein Vater fand dort eine neue Arbeit und ich musste ihm immer das Mittagessen bringen. Einmal verspätete ich mich und lief einfach durch den Schlagbaum. Ich wusste nicht, wie gefährlich das war, denn auf dem Gelände waren auch Häftlinge.

Meinen Eltern war das alles zu unsicher und so verließen wir Zittau schon Anfang 1945 in Richtung Schwerin zu meinem Großvater, der dort eine Waldgaststätte besaß. Zuerst aber gingen wir zwischen zwei Bombenangriffen zu Fuß durch Dresden. Während eines Angriffs wollten wir in einem Luftschutzkeller Schutz suchen, aber eine Frau leitete uns in einen anderen Bunker um. Das war unser Glück, denn der ursprüngliche Bunker wurde getroffen und völlig zerstört. Als wir wieder auf der Straße waren und die Nachricht hörten, bekreuzigte sich meine Mutter, was ich seltsam fand, weil ich das bis dahin nicht kannte. Sie blickte in den Himmel, aus dem die Bomber gerade verschwunden waren, und seufzte: „Gott sei Dank, wir leben noch“. Für uns war es die Hölle. Als einer ihrer Söhne Jahre später in einem Museum Bilder von den Bombennächten betrachtete, sagte er betroffen: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was du erlebt hast“.

Wenige Tage nach diesem Inferno waren wir in Halberstadt. Unser Zug wäre nur nach Hannover gefahren, also entschied mein Vater: „Wir bleiben hier.“ Immerhin wohnte mein Onkel Alfred in der Spiegelstraße und wir bekamen eine Unterkunft auf dem Boden. Aber auch hier holten uns die Sirenen und die Bombenangriffe ein. Am 8. April 1945 trafen die Bomben Halberstadt und die ganze Altstadt ging in Flammen auf. Nach dem Fliegeralarm flüchteten wir in die Malachithöhlen, die den Nazis noch als Flugzeugteilewerk gedient hatten.

Später wohnten wir in einer Baracke in der Nähe. Eines Tages kamen amerikanische Soldaten und durchsuchten alles. Sie kamen mit Gewehren, schrien und richteten sie auf meine Mutter. Mein Vater versteckte sich in einem Schrank und wir standen davor. Alle haben geweint.

Nach dem Krieg, im Sommer 1945, bekamen wir eine anderthalbzimmer Wohnung in der Friedensstraße. Jedes Mal, wenn Soldaten vorbeimarschierten, steckte ich meine kleinen Hände durch das Gitter unseres Vorgartens und bettelte um etwas Schokolade. Manchmal bekam ich welche und war unendlich glücklich. Der Krieg war zu Ende, die Sirenen verstummten endlich. In Erinnerung blieb mir eine Efeuranke, die am Haus emporwuchs und mich in dieser Zeit ein wenig begleitete. Ein seltsames Symbol, das mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist.

Im September 1945 wurde ich in das städtische Gymnasium eingeschult. Später wurde daraus die Käthe-Kollwitz-Schule. Aber der Anfang war sehr schwer für mich. Jedes Mal, wenn es klingelte, wollte ich nach Hause laufen, weil ich dachte, es sei Bombenalarm. Meine Mutter musste mich beruhigen und auch die Lehrerin. Sie sagte dann ganz ruhig: „Bleib! Das ist nur das Pausenzeichen.

Langsam kam ich zur Ruhe, auch wenn mich bis heute die Sirenen erschrecken und Erinnerungen wach werden.

Kaum war ich in die Schule gekommen, wurde im September 1945 meine Schwester Erika geboren. Oft musste ich auf sie aufpassen. Eines Tages spielte ich in den Trümmern. Bald war es Zeit, nach Hause zu gehen, als mich auf dem Weg plötzlich meine Spielkameradin anrempelte und fragte: „Hattest du nicht vorhin einen Kinderwagen bei dir?“ Erschrocken rannte ich zurück und holte ihn. Ich war unbeschreiblich glücklich, alles war gut. Der Frieden hatte mich eingeholt und mit ihm auch ein wenig Sorglosigkeit.

Im Oktober 1945 fuhr ich mit meiner Mutter nach Zittau, um unsere Möbel zu holen. Wir mussten zur Polizei, um die Erlaubnis zu bekommen, die Wohnung zu betreten. Ein Polizist begleitete uns zur Wohnung und befahl der Mieterin, uns einzulassen. Als sich die Tür öffnete und ich das Wohnzimmer sah, rief ich: “Oh, unsere Wohnung! Oh, unsere Wohnung“. So war die Sache schnell geklärt und meine Mutter konnte alles Nötige in die Wege leiten. Es war der 20. Oktober und ich saß inzwischen im Hotel. Mir standen die Tränen in den Augen. Jemand fragte mich, was los sei. Ich schluchzte und erzählte, dass ich heute Geburtstag hätte, meine Mutter beschäftigt sei und ich kein Geschenk bekäme. Man hatte Mitleid mit mir und gab mir eine Cola. Meine kleine Welt war wieder in Ordnung.

Die nächste Wohnung war dann in der Rudolf-Breitscheid-Str. 12. Dort hatten wir eine Art Flachdach mit Kaninchen. Zusammen mit Peter, meinem jüngeren Bruder, musste ich die Tiere oft füttern. Doch einmal vergaßen wir, die Stalltüren zu schließen, und unser Vater stand vor den vielen freilaufenden Kaninchen. Das hatte zu unserer großen Freude Folgen. Es gab einige Nachkommen. 1948 zogen wir in die Kantstraße. In der Nähe war das Sommerbad und ich entdeckte meine Liebe zum Schwimmen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir Kinder haben den Krieg trotz Bomben überlebt, nicht zuletzt dank meiner Mutter, die leider 1972 viel zu früh verstarb. Ich erinnere mich gerne und mit Hochachtung an sie.

Text: Renate Richau (meine Mutter)

Lustiges

Darf ich vorstellen Lothar. Ein rundlicher Typ, ein fantasievoller Typ, dem es immer wieder gelingt, in den Himmel aufzusteigen und eine Bruchlandung auf dem Boden zu machen. Bildlich gesprochen. Lothar wachsen manchmal eine Art Engelsflügel, die für andere Menschen wunderbar und praktisch sind. Ein wenig zupfen hier, ein wenig zupfen da und schon kann Lothar ein wenig steigen, aber auch schnell fallen. Bildlich gesprochen. Lothar macht bei einem Kreativverein mit. Dort gibt es so etwas wie aktive Freizeitgestaltung, also ein wenig hier und etwas da. Und da gerade keine so richtige Jahreszeit ist, sondern Corona, machen alle nicht viel. Verheiratet ist Lothar auch, schon seit Urzeiten. Mit seiner Frau und nicht ganz so lange mit Helena, seinem Computer. Und Lothar hat Ideen, ganze Wagenladungen voll. Die meisten liegen irgendwo herum und verbringen ihren Lebensabend in Schubladen oder lümmeln sich auf der Festplatte. Einige Ideen macht er mit der erwähnten Truppe. Die müssen sich die ganzen Sachen anhören, sind dafür oder verdrehen die Augen, stimmen lächelnd zu und lassen ihn machen oder helfen mit. So lebt es sich ganz gut in der Truppe. Das hätte bis zum Ende aller Tage weitergehen können, wenn Lothars Kopf nicht wieder mal so eine komische Idee ausgebrütet hätte, die verwegener war, als der sagenumwobene Ikarus. Der kam bekanntlich der Sonne zu nah und stürzte.

Daran dachte Lothar nicht beim Brüten, also beim Brüten der Idee. Immerhin die Weihnachtszeit stand kurz bevor und durch die erwähnte Pandemie war draußen nichts los, außer den vereinzelten Menschen mit Maske. Also dachte sich Lothar mal einen besonderen Weihnachtskalender aus. Er wollte jeden Tag per Internet ein Rätsel der Truppe schicken, die die Mitglieder lösen konnten. Dabei sollte es Punkte geben und am Ende für den Sieger eine Überraschung. Er überschlief die Sache, fand die Idee gut und hatte keine Ahnung von dem, was ihm bevorstand. Aber das wissen Menschen, die erst ein laues Lüftchen spüren auch nicht, wenn ihnen kurz darauf ein Sturm um die Ohren bläst und sie noch ein wenig später ihr Häuschen im Wirbelsturm verschwinden sehen. Nun ja, ein Wirbelsturm sollte es nicht werden, eine Katastrophe schon. Aber das wusste Lothar noch nicht und seine Truppe war guter Dinge, als sie von dem Plan erfuhren. Rätseln, Punkte, Klasse Idee. Also ging Lother frisch, fromm, fröhlich und frei ans Werk, programmierte über seine Internetseite das erste Rätsel, klopfte sich auf die Schulter und war zufrieden.
Bevor wir mit der Geschichte weitergehen, sollte der geneigte Leser wissen, dass Lothars Truppe aus seiner Frau besteht, also die, mit der er seit Urzeiten verheiratet ist und einer zusammengewürfelten Patchworkfamilie samt Anhang und Freunde. Also wie ein Clan im Fernsehen, aber weder schottisch noch arabisch. Schon deswegen begann ein laues Lüftchen zu wehen, aber noch spürte es keiner.

So öffnete sich am ersten Dezember das erste Türchen und alle machten sich ans Werk, um zu rätseln und ihre Punkte zu sammeln. Aber kaum geöffnet ging es schon los. Das Rätsel hatte mit Lothar zu tun und noch ganz leise und zart kam ein Pflänzchen ans Tageslicht, das den wunderschönen Namen „Bedenken“ hatte. Wie konnte man auch etwas übers Leben wissen und die 10 Fragen lösen? Trotzdem versuchten sich die Kreativen des Kreativvereins. Es war erst einmal für die nächsten Tage eine Art Beschäftigung, man rätselte so vor sich hin. Lothar konnte sich seine Flügel wachsen lassen und sonnte sich im strahlenden Lichte seiner Fantasie. Doch wie das so ist mit zarten Pflänzchen, sie wachsen heran. Im Laufe der nächsten Tage bekam er verdächtige Hinweise, wie er doch dieses oder jenes besser machen könnte. Außerdem ginge es gar nicht, dass er plötzlich auch mal Sonderpunkte irgendjemand gab. War das denn rechtens? In der Patchworkfamilie fing man an, vom Einzelnen zu einem ausgemachten Clanverhalten überzugehen. Man nannte die gegenseitige Hilfe. Das war anfangs gar nicht immer gleich klar. Eine der Frauen arbeitet mit ihrer Tochter zusammen, die plötzlich ein wenig aufmuckte, weil sie ein Rätsel eigentlich alleine löste und die Mutter die Punkte einheimste. Doch irgendwie, mit welchen Mittel auch immer, einigten beide sich und liefen fortan als Team. Lothar grinste ob diesem Treiben und merkte gar nicht, dass aus dem lauen Lüftchen jetzt etwas Wind wurde.
Seine Frau, begann schon ein wenig zu meutern: „Die lösen alles zusammen. Ich mache es alleine.“ Eine WhatsApp erreichte ihn, wo sich über die Dissonanz der Punktevergabe ausgelassen wurde. Das Pflänzchen „Bedenken“ bekam langsam einen Stamm. An den folgenden Tagen wurden die Rätsel gelöst, die WhatsApp Nachrichten mehr und man griff aktiv in die Punktevergabe ein. Der Wind entwickelte sich zunehmend. Aus der Rätselei begann bitterer Ernst zu werden, doch noch hatte Lothar die Kontrolle. Doch zunehmend musste er seine Engelsflügel beschützen, die ein wenig weniger zu wachsen schienen.

Lothar stand morgens vor dem Hahnenkrähen auf und suchte sich überall die Rätsel heraus, kaufte sich sogar ein Buch, denn die Truppe kämpfte verbissen um ihre Punkte, benutzte das Internet, beriet sich, lamentierte über schwere Rätsel, eine konnte nicht zur Arbeit gehen, Zeit hatte ohnehin keiner, und überhaupt war es viel zu viel Text. Manchmal dachte sich Lothar 10 Fragen auf einmal auf und man hörte das Stöhnen, ob dieser gewaltigen Menge durch das ganze Dorf.  Zwischendurch wurde für einen Moment ein anderes Rätsel auf WhatsApp mit in die Truppe eingeschoben, an dem sich der Clan untereinander etwas verbiss. Man konnte sich nicht einigen, ob das richtige nun falsch oder das falsche richtig war oder das Richtige nur falsch formuliert war. Es war verwirrend. In der WhatsApp-Gruppe wurden Informationen ausgetauscht jeder gab seinen Kommentar und die, die nicht weiterwussten, gaben irgendwelche Smileys. Kurzum, die Kommentare wurden verbissener, jeder wollte ein wenig und insbesondere sowieso recht haben. Der Sturm begann verdächtig größer zu werden, der Himmel zog sich mit Wolken zu. Lothars Federn lösten sich langsam aber sicher auf. Jetzt begann sich in Lothar Widerstand zu regen. Er versuchte zu beweisen, was nicht bewiesen werden sollte und ein scharfer Wind blies ihm um die Ohren. In wissenschaftlichen Kreisen nennt man das Altersstarrsinn. Damit war er ja jedoch nicht alleine.

Des Weiteren bemerkte er, dass man sich nicht nur untereinander austauschte, sondern gleich mal die Lösung eines anderen präsentierte. Die zu vergebenen Punkte gerieten in höchste Gefahr. Sein weihnachtliches Leben war plötzlich bedroht. Das konnte sich Lothar nicht bieten lassen. Schließlich war er der ausschließliche Punkteschiedsrichter. Dieses gnadenlose Vergehen ließ nun auch den Clan bröckeln. Es war zwar nur ein Spiel, aber mittlerweile hing daran die Stabilität der Truppe, des Weihnachtsfests und vielleicht der ganzen Welt dran. Verbissen arbeitete Lothar weiter an seinen Rätseleien, es ging langsam aber sicher auf das letzte Türchen zu. Mit den Lösungen der Truppe kamen immer weitere Beschwerde-nachrichten. Er solle doch nicht so lange Rätsel machen, es sind Kinder dabei, die nicht so viel wissen können, man kann mit dem Zeug doch nicht seinen ganzen Tag verbringen und überhaupt, die Punktevergabe sei eigentlich ganz mies. Lothar schrieb darauf einen langen Text, den ohnehin keiner las, weil er eben viel zu lang war und niemand den tieferen Sinn verstand, geschweige denn seinen ausgeklügelten pädagogischen Ansatz.
Schließlich ging es um den Spaß des ganzen Kreativvereins und nicht um seine Reflexionen, Gedanken und schon gar nicht um sein alleiniges Vergnügen. So weit kommt es noch. Das musste mal gesagt werden. Letztendlich sollte Lothar als Macher nun wirklich auch ein wenig Kritik verstehen. Seine Rätsel sind jedoch mal zu schwierig oder zu groß oder zu leicht oder man kennt sie, wie auch immer und welcher Tag nun gerade war. Basta!

Der Himmel verdunkelte sich, der Sturm kam näher. Lothars Frau hatte plötzlich keine Lust mehr, einige andere hatten keinen Bock auf die weiteren Rätsel, wiederum andere zerpflückten seine Rätsel, stellten die Antworten infrage und drohten offen mit der Verweigerung des Weihnachtsfests.
Aus Lothars Flügel begannen sich weitere Federn zu lösen, aus der Pflanze „Bedenken“ war ein beachtlicher Baum geworden, der nahende Wirbelsturm stand unmittelbar bevor.
Lothar saß weiter mit grimmigem Gesicht vor Helena, hämmerte die nächsten Rätsel hinein und war sich sicher, wieder einiges falsch zu machen. Seine Truppe faselte etwas von „er solle nicht alles auf sich beziehen und endlich die Punkte besser vergeben“. Inzwischen machte der Clan alles gemeinsam und alle bekamen dieselben Punkte. Das Kampfniveau des Einzelnen sank auf null. Schließlich ist man eine Familie und hilft sich, wie beim Abwasch und beim Reinemachen. Einer führt aus und die anderen schauen zu und freuen sich ihres Lebens. Lothar trug schon apathisch beim Einreichen der Lösung eines Einzelnen, für alle, die Punkte mit ein und musste sich nicht die Mühe des Kontrollierens machen. Die WhatsApp Nachrichten nahm er nicht zur Kenntnis, er rasierte sich kaum noch und jedes Türchen kostet ihm inzwischen ein, zwei oder mehr Kräuter.

Lothars Frau wurde es indes zu viel. Sie zog aus, wollte gemütliche Weihnachten haben. Zu ihrer Mutter, die Lothar ohnehin schon ein ewiges Rätsel war, sodass für ihn keine neue Situation bestand. Rätsel ist schließlich Rätsel.

Das letzte Türchen hatte er inzwischen programmiert, als der Wirbelsturm mit Macht zuschlug. Es war einen Tag vor Weihnachten und er streute sein letztes romantisches Rätsel unter die Truppe. Mit verheerenden Folgen. Ob er denn nicht wüsste, dass man zu Weihnachten so viel zu tun hätte, ob denn so ein großes Rätsel sein müsse, ob den Weihnachten nicht ein besinnlich ist, statt eines Rätsels, dass niemand lösen könne, ob denn das Rätsel so schwer sein müsse, dass alle sich die Gehirnwindungen verengten und die Weihnachtsgans im Ofen verschmorte. Das wäre doch ohnehin nur Quatsch, maulte die eine, die andere schrie, weil sie zu wenig Punkte hatte, obwohl man doch alles zusammen machte und überhaupt war die Idee nur eine Zeitverschwendung. Natürlich hatte man dies alles nicht so gemeint und nur der Stress war daran schuld.

Lothar nahm dies alles sehr sachlich zur Kenntnis. Er kippte die Milch für den Weihnachtsmann in den Ausguss, räumte die Wohnung ein wenig auf, schaltet Helena ab, nicht ohne den Bildschirm mit einem Lächeln zu streicheln und eine letzte WhatsApp an alle zuschicken.
„Des Rätsels Ende hab‘ ich nicht geschafft.“ Dann schnallte er seine Flügel ab, dachte daran, wie er als kleiner Junge mal aus dem Fenster in Parttere sprang, stellte sich auf die Fensterbank und sprang wieder mal, diesmal aus dem fünften Stock.

Seine Truppe las seine WhatsApp, erinnerte sich der vielen Rätsel, die doch eigentlich so schlecht nicht waren und irgendwie ein wenig Spaß gemacht hatten. Lothars Selbstmitleid wurde belächelt, man ja gewohnt. Die Truppe beschloss sich dem Weihnachtsfest in der Familie zu widmen, dass wie jedes Jahr voll mit guten Vorsätzen, vielen Puten und Enten war, lustigen Gesprächen und freute sich der Dinge, die kommen oder schon vergangen war. Dass plötzlich überall Federn auftauchten, war eigentlich komisch, aber wer weiß schon, was in der Welt passiert.

Lothars Flug war kurz. Er wunderte sich, dass er den Aufprall nicht fühlte. Wie sollte das auch gehen? Schließlich war er ja tot. Seltsam fühlte sich nur so ein komischer Druck auf seinem Bauch an. Da waren auch noch die Haare in seinem Gesicht, die nicht ihm gehörten. Er schreckte hoch und sah Cameo, seinen Kater, der ihn anmauzte. Irritiert blickte er sich um. Es sah weder nach den berühmten Himmeln voller Geigen, noch nach der Hölle mit Fegefeuer aus. Die Tür öffnete sich. Seine Frau stand im Schlafzimmer. „Los aufstehen, Frühstück ist fertig. Du musst das erste Rätsel noch machen.“ Lothar sah auf die Uhr an der Wand. Dort prangte in digitaler Leuchtschrift: 01.12.2020 6:25 Uhr. Das Telefon an seinem Kopfende meldete sich mit der „Jingle Bells“ Melodie, das Erkennungszeichen für die Truppe. In den WhatsApp Nachrichten kam die Meldung: „Wir sind gespannt auf die Rätsel.“

Lothars Frau öffnete das Fenster und ein ganz feiner Wind blies Lothar ins Gesicht. Von irgendwoher trieb eine Feder am Fenster vorbei.

Da ich demnächst Fotoshootings plane, hatte ich heute den Tag genutzt, meine umfangreiche technische Fotoausrüstung zu überprüfen. Neu in meiner Sammlung ist ein synchroner Zweitauslöser für Blitze mit Aufhellungsschirm. Außer das der Schirm ständig aufschnappte, aufgrund einer Fehlfunktion, ich nach dem dritten Fluch den Aufsteckmechanismus des Blitzes endlich begriff, mir bei der ganzen Schrauberei den Finger klemmte, mit einem Bein in der Fotolampe hängenblieb, sie aber noch retten konnte, der Blitz leere Batterien hatte, ich ihn falsch herum montiert, die verdammte Fotolampe noch einmal drohte umzukippen, die Kamera plötzlich weg war (ich hatte ein Tuch drüber gedeckt), und ich die Zimmer fluchend nach ihr durchsuchte, die Fotolampe zum dritten Mal zu stürzen drohte, geschah eigentlich nichts Bedeutendes, was man aufschreiben könnte.

Endlich stand alles zur Probe bereit. Ich wählte auf unserem Eichentisch ein geschnitztes Motiv und wollte mit Blitz fotografieren, dabei sollte der Synchronblitz ebenfalls auslösen und der Aufhellschirm das Licht verteilen. Da geschah es, das Marlow, einer meiner Katzen im Weg vor dem Motiv stand. Ich wollte ihn verscheuchen, beugte mich nach vorn, geriet aus dem Gleichgewicht, wollte die Kamera beschützen, verdrehte die Hand, das die Kamera zu mir zeigte und löste aus Versehen aus, den Kamerablitz und den Zweitblitz und beide in die Augen. Getroffen von dem doppelten Lichtschlag, wollte ich aufstehen und vergaß, dass ich durch den Fall mittlerweile unter einem schweren Eichentisch saß. Der Schlag war für meinen Kopf erschütternd. Ich taumelte nach hinten und setzte mich auf den Schwanz des andren schwarzen Katers – Milow. Der jaulte auf und jagte davon, nicht ohne die Fotolampe umzureißen. Sie zersplitterte. Kruzitürken noch mal, ich brauche dringend ein chinesisches Rezept für Katzen und eine neue Fotolampe.

Ich bin gerade dabei mich fertigzumachen. Schließlich habe ich heute eine wichtige Aufgabe und muss die elfjährige Tochter einer Freundin von der Schule abholen, um mit ihr ein wenig zu üben, wie fast jeden Dienstag. Als Lehrer ist man zwar nicht beliebt, aber in diesem Fall doch sehr willkommen. Ich bin noch am Überlegen, was ich mitnehmen muss, als das Handy klingelt. Genanntes Wunderwerk der Natur, von ihrer Mutter auch Prinzessin genannt, war am Apparat und fragte, wo ich denn bleibe, sie warte ja schon. Ich schaue verdutzt zur Uhr und bemerke süffisant, dass ich im Zeitlimit bin. Sie versteht das Wort Zeitlimit nicht und ist von der Warterei genervt. Nun gut, im Moment steht das arme Mädchen schon fünf Minuten vor der Schule und vergisst, dass meine maximale Stehzeit beim Abholen schon mal locker 40 Minuten betrug. Ich habe keine Zeit ihr das Vorzutragen und versichere in 10 Minuten da zu sein. Das gelingt auch, ein bisschen bei dunkelgelb über die Ampel, ein wenig die Geschwindigkeit höher und einen Bus etwas seltsam umrunden. Kleinigkeiten eben, um ein paar Sekunden schneller da zu sein. Nichts ist schlimmer als der strafende Blick einer Elfjährigen. Nach dem Einladen kommt der übliche Smalltalk, wo ich die Wehwehchen und den groben Tagesablauf der Heldin erfahre.

Zu Hause geht es an die Mathe Hausaufgaben. „Ich brauche deine Hilfe.“, säuselt sie. Übersetzt bedeutet das so viel wie; ich habe keine Ahnung und es wäre ganz nett, wenn du alles löst. Ich kehre den Lehrer heraus und lass sie allein rechnen. Die Heldin ist heute sehr gut drauf, mal quietschend unter den Tisch verschwunden, mal dann zappelnd sich ein wenig auf dem Stuhl drehend, um letztendlich aber die kleinen Kopfrechenaufgaben falsch zu rechnen. Ich versuche sie sanft an ihre schulische Pflicht zu erinnern und erschrecke sie mit der Drohung schlechter Zensuren. Ihre Mutter ist Gott sei Dank nicht da, sonst würde ich mir Vorträge über die Seele ihres Kinds anhören und dass man Kinder nicht unter Druck setzen sollte. Sie meint es ja gut, aber es ist schwierig, Freund und Lehrer, liebevoll und lehrend, bestimmend und nachgebend zu sein. So komme ich hier und da zu der unpädagogischen Einschätzung, dass ohne mein Wissen gar nichts mehr läuft und gebe die Lösung viel zu früh preis, um die Sache abzukürzen. Unsere Heldin hat heute wenig Lust und nutzt jeden Freiraum, den ich lasse, erbarmungslos aus, um meine Nerven zu strapazieren. Um die schriftlichen Aufgaben zu lösen, versucht sie perfekt zu sein, da wird sogar auf dem Schmierzettel gekillert, radiert und gnadenlos bis zum Ende gerechnet, obwohl das Ergebnis offensichtlich ist. So zieht sich eine 20 Minuten Aufgabe bis zu einer Stunde hin, wobei alle Utensilien benutzt werden, die es gibt und die eigentlich gar nicht nötig wären. Die Rechnerei wird begleitet durch stimmliche und körperliche Einlagen, die zwar einen Hauch von Kunst und Sportlichkeit geben, aber meine Geduld auf eine harte Probe stellen. Endlich hat sie Mathe geschafft und ist heilfroh. Aus einer fiesen Laune heraus zeige ich ihr einen Rechenzettel, wo so viele Übungsaufgaben draufstehen, dass ihr Blick starr wird. Das Grauen hat einen Namen – nämlich meinen. Ich versichere, dass nicht alles heute sein muss und sie erzählt mir von ihren Krankheiten, die sie gerade vor kurzem durchlebte. Nachdem ich ihre Medikamente und die Wirkung bis ins letzte kennenlernte, wenden wir uns dem Thema Spielen zu. Früher spielte man zu zweit, baute Burgen oder holte sich Spielzeug heraus, vom Kaufladen bis zur Eisenbahnanlage. Das ist heute ganz anders. Das Spielzeug war mein Computer, ich wurde mit denselben in ein anderes Zimmer bugsiert, bekam Kopfhörer mit Mikrofon an die Ohren geschraubt, die Tür wurde geschlossen und dann ging die Klötzchenbauerei los. Das Ganze nennt sich Minecraft und treibt mich seit 10 Monaten in den Wahnsinn. Minecraft ist ein Spiel, das weltweit Millionen in den Bann zieht. Aus Klötzchen mit unterschiedlichen Texturen werden Welten erschaffen mit Bäumen, Häusern, Bergen und Figuren. Selbst die Sonne besteht aus viereckeigen Klötzen und ebenso die Tiere, Monster und der Spieler. Man kann diesen Welten unendlich viele Mods (Autos, Accessoires, Möbel), die andere Spieler erstellt haben hinzufügen und so ziemlich alles modifizieren. Diese enorme Vielfalt ist kreativ, für mich eher aufgrund der Klötzenoptik grauenhaft. Unsere Heldin spielt nicht nur stundenlang mit wachsender Begeisterung, sondern schaut zudem wie gebannt die Filme über Minecraft in YouTube an, wo Spieler ihre Welten zeigen. Und natürlich will sie auch all die Accessoires haben, die dort gezeigt werden. Das stellt mich vor ungeahnten Herausforderungen, bei denen Mathe eigentlich ein Klacks ist. Das eine ist aber die Computereinrichtung, stundenlanges recherchieren, rumexperimentieren, das enttäuschte Gesicht der Kleinen, wenn ich etwas nicht hinkriege, die Einrichtung von Minecraft und anderen Details, das andere ist das Spiel, wo sie mir höchst unsensibel zeigt, was die sprichwörtliche Harke ist. Wir spielen ein Minispiel (also eine Welt, die von jemanden erstellt wurde). Sie ist voller Rätsel und besteht aus Lava, in der man zu verbrennen droht, findet man nicht den richtigen Weg. Erstmal begreife ich schon mal die Rätsel nicht, ich armes Computergenie. Doch bevor ich mich überhaupt einigermaßen zurechtfinde, hat sie schon die Hälfte der Rätsel gelöst. Ich höre sie schreiend juchzen, während ich ständig in irgendwelcher Lava versinke und getötet werde. Jedes Mal beginne ich von vorn, während sie ihre Rätsel komplettiert.

Ab und an kommt sie ins Zimmer gestürmt, haut auf den Tasten rum und zeigt mir wie es geht, wenn ich keinen Durchblick mehr habe. Das geht so schnell, dass ich kaum ein Wort mit ihr wechseln kann. Muss ich auch nicht, wir sind ja gleich darauf über Skype wieder miteinander verbunden und das über vier Meter Luftlinie. Endlich habe ich die Welt gecheckt und mich auch nicht von den stimmlichen Einlagen, die vom Singen über fauchen, kreischen, knurren, schrillen Tönen und seltsamen Geräuschen ein weites Repertoire haben, stören lassen. Jetzt kann es losgehen. Da plötzlich kommt der unwiderrufliche Befehl, ich möchte bitte die Welt ändern. Da ich in einem anderen Zimmer sitze, stelle ich für einen kleinen Wutausbruch das Mikrofon leiser und die Welt in Minecraft um.

Unsere gemeinsame Welt kenne ich gut. Das nützt mir nur wenig und so bekomme ich über Skype eine Führung durch ihr kleines Dorf mit Belehrungen, Ermahnungen und Forderungen. Fleißig sage ich ja und darf endlich an meinem Chaos weiterbauen. Ich habe Ruhe, wenn man von den genannten künstlerischen Einlagen absieht. Im Moment schimpft sie mit einem imaginären Dorfbewohner, dann besucht sie mich blitzschnell mit ihrer Figur, (keine Ahnung wie das ging), amüsiert sich köstlich, wenn sie mein Licht zerstört und ich deshalb aus der Welt falle.

Während meine Welten eher chaotisch und vom Urtrieb der Fantasy gelenkt sind, kommt bei ihr der saubere Deutsche heraus; mit gepflegten Gärten und einer Vielzahl von Aufgaben die ich lösen soll. Dazu muss ich eine Unmasse von Regeln über mich ergehen lassen, die ich weder verstehe noch behalten kann. Sicherheitshalber hat sie ihre Welt mit Schildern übersät, wo draufsteht, wer der Boss ist. Rechtschreibfehler zu korrigieren ist genauso sinnlos, wie einen Löwen mit bloßen Händen einzufangen, ihr „blühhender Weg“ muss mit zwei „H>“ geschrieben werden. Das ist ihre Welt, Lehrer hin oder her. Ich halte den Mund und nehme es hin.

Endlich kommt ihre Mutter und befreit mich aus dem Spielgefängnis, indem es mir, ich gebe es ungern zu, auch ein wenig gefällt.

Die Heldin verzieht sich in ihr Zimmer, um mit anderen weiterzuspielen, natürlich auch über Internet. Mit ihrer Mutter will ich die verbliebene Stunde noch einiges besprechen, was sich letztendlich als unmögliches Unterfangen herausstellt, da unsere Heldin keine Gnade kennt. Ständig steht sie neben uns, unterbricht durch laute Mutti Rufe oder mit ihrem Tablett unser mühseliges Unterfangen, auch nur irgendetwas zu Ende zu besprechen. Die Kontrolle einer einzigen Interseite zieht sich länger hin, als die Mathe Aufgabe selbst. Ich gebe der Fertigstellung unserer Projekte in Gedanken ein paar Jahre mehr als eingeplant.

Als ich gehe, schaut mich die Mutter an und sagte so etwas wie: „So ist das jeden Tag bei mir.“, was so viel bedeutet wie, du hast es gut. Nun ja, tatsächlich aber würde sie um nichts in der Welt tauschen und auch das gebe ich ungern zu. So langsam habe ich mich dran gewöhnt. Meine Couch zu Hause weiß das ein wenig später auch zu schätzen.

Es war an einem sonnigen Morgen, als Micha beschloss, sich ein hartgekochtes Ei zum Frühstück zu machen. Doch als er das Ei schälte, rutschte es unglücklicherweise aus seinen Händen und fiel zu Boden, zerbrochen in tausend Stücke. Panisch sah er sich um und bemerkte erleichtert, dass seine Frau nichts davon mitbekommen hatte. Ohne zu zögern, entsorgte er die Überreste des Eis.

Doch gerade als Micha sich wieder beruhigt hatte, wandte sich seine Frau ihm zu und fragte: “Wo ist das Ei, das du gerade essen wolltest?” Micha schluckte schwer und stammelte eine Ausrede, dass das Ei leider kaputt gegangen sei. Seine Frau sah ihn mit einem skeptischen Blick an und warf ihm vor, dass er die Lebensmittel verschwendet und nicht sorgsam damit umgegangen sei.

Von Schuldgefühlen geplagt und in Eile, um das Vertrauen seiner Frau zurückzugewinnen, beschloss Micha, das Ei aus dem Mülleimer zu holen und es trotz allem zuzubereiten. Mit zitternden Händen setzte er das Ei auf den Zeller und bereitete es zu, während seine Frau fassungslos zuschaute.

Als das Ei schließlich fertig war, reichte er es seiner Frau mit einem zögerlichen Lächeln. Doch anstatt sich zu freuen, war sie entsetzt über seine Handlungen und konnte nicht fassen, dass er das Ei wieder aus dem Müll geholt hatte. Micha sah sie mit Reue in den Augen an und versprach, in Zukunft besser auf seine Handlungen zu achten.

Und so endete die Geschichte von Micha und dem Ei, als Lektion darüber, dass, egal was du tust, es schwierig ist, einer Frau es recht zu machen.

Schulgeschichten

Es war Sommer. Es war warm. Die Lehrer der Heinrich-Heine-Schule in Feierlaune. Der Hausmeister grillte, Tische waren aufgebaut, die Ferien standen bevor und man saß zusammen, verabschiedete das Schuljahr, wie man es immer am Ende tat. Der Sekt floss, es wurde geredet, vor sich hingedacht, der Tag war schön. Ich bin nicht so sehr der Feierer, musste mich auch um unseren Minizoo in der Schule kümmern. Dort warteten Hasen, Meerschweinchen, eine Schlange, Papageien, Mäuse, Ratten und Hamster auf ihr Futter. In dieser tierischen Vielfalt war ich Mensch, dort konnte ich sein. Ich war das tierische von zu Hause gewöhnt, hatte doch auch dort allerlei Getier auf dem Balkon und in diversen Terrarien. Es war meine kleine Welt, die es heute so nicht mehr gibt, aber im Kopf noch immer frisch ist. Manchmal hatte man dann auch seine Erlebnisse, ob zu Hause oder in der Schule.

Unser Hausmeister dort war ein lieber Kerl. Den Minizoo betrachtete er mit skeptischem Auge. Das ganze Viehzeug war ihm nie geheuer, der Minizoomann wohl auch nicht. Es gehörte seiner Meinung nicht an die Schule. Er misstraute allem, was nicht mit ihm sprach. Und das traf seiner Meinung nach auf die Tiere zu.

Das wäre nicht so sehr bedeutsam gewesen, wenn bei ihm nicht auch eine gehörige Portion Aberglaube dazugehörte. Nun trug es sich zu, dass unser Minizoopfleger das Wunder der Geburt bei einem seiner Meerschweinchen an diesem Tag entdeckte. Die beiden kleinen Knäuel mussten den Tag zuvor geboren sein, waren trocken und rannten als Nestflüchter eiligst durch die Gegend. Wer solch kleine Knirpse mal sieht und ihre kuschelige Wärme spürt, weiß das Mutter Natur großartiges vollbrachte. Da ich normalerweise ein kommunikativer Mensch bin, wollte ich die beiden Geschwister unbedingt einer Kollegin zeigen, die Tiere sehr mochte. Also nahm ich die Kleinen vorsichtig an mich und brachte sie besagter Kollegin. Sie erschrak sich im ersten Moment ein wenig, als ich ihr die Wollknäuel unter der Nase hielt und juchzte wohl auf. Dann aber leuchteten ihre Augen. „Oh ist das schön“, entfuhr es ihr und sie streichelte sich über den Bauch, der sich schon sichtbar wölbte. Dieses Wunder der Natur teilte sie wohl bald mit der Welt, ebenso wie die Meerschweinmutter. Damit wäre eigentlich die Geschichte schon zu Ende, wenn da nicht unser Hausmeister mit großen Augen die Szene beobachtet hätte. Ich, der Minizootierpfleger ahnte nichts davon, noch weniger von seinen Gedanken und brachte die beiden Meerschweinchen zu ihrer Mutter zurück.

Ich setzte mich zu den Kollegen und sinnierte vor mich hin, als der Hausmeister zu mir trat. Er druckste ein wenig herum. „Warum hast du die Tiere Angela gezeigt?“, fragte er leise, fast im Flüsterton. Ich starrte ihn an. „…weil sie Tiere mag, ein bisschen schwanger ist…“ Sein Gesicht verfinsterte sich: „Eben.“ Ich verstand gar nichts und ließ ein gedehntes „Ja und“, hören. „Na das kannst du doch nicht machen,“ wurde er plötzlich lebhaft. „wenn schwangere Frauen sich vor Ratten erschrecken, bekommen die Kinder ein Mäusefell.“ Mahnend erhob sich sein Zeigefinger. „Das waren Meerschweinchen, keine Ratten und außerdem ist es Aberglaube“. Unser Mystiker ließ sich von meiner Bemerkung nicht beeindrucken und schilderte mir in allen Farben, was alles passieren könnte, wenn man Frauen mit Felltieren erschrickt. Ich war ob seiner plötzlichen Mentalität überrascht. Vor mir sah ich eine zerlumpte Gestaltung aus dem Mittelalter, im Hintergrund waren grollende dunkle Wolken, eine schwarze Katze lief von links nach rechts. „Du spinnst ja“, unterbrach ich seinen Redeschwall. Jäh brach das bedrohliche Bild des Mäusefelluntergangs zusammen und beleidigt zischte er: „Du wirst schon sehen.“

Später brachte die Kollegin ein gesundes Baby zur Welt, ohne Mäusefell. Ich sprach den Hausmeister darauf an und er zuckte nur die Schultern: „Hätte ja sein können.“ Gott war ich froh, dass Mutter Natur ein Einsehen hatte und für diese Kind kein Mäusefell vorgesehen hatte.

Es ist mehr oder weniger bekannt, dass ich in meiner Freizeit viel fotografiere. Für meine Lexika sind das Gebäude, Straßen, Kunstwerke usw., für meinen Verein mittelalterliche Orte, Theaterstücke, unseren Salzwinkel. Niemand stört sich daran, manche interessiert es, manche nicht, so ist das Leben in seiner Vielfältigkeit. Aber auch die Modelfotografie hat es mir angetan und ich habe mich da schon durch einige Sujets fotografiert, ob Porträt, Mode oder sogar Dessous- und Aktfotografie. Letzteres ist zwar nicht jedem bekannt, aber es gehört bei diesem Thema der Aufschrei: „Was Akt?“ wohl immer dazu.  Kaum einer, ich glaube aber eher keiner von meinen Kollegen hat je „solche“ Bilder gesehen und ich weiß sehr wohl, warum das auch in Zukunft nicht sein wird. Für die einen ist es moralisch nicht sauber, die anderen wollen mit so komischen Sachen nichts zu tun haben und manche Frauen denken wohl an Sodom und Gomorrha, andere fühlen sich bei dem Gedanken nicht wohl und schlimmer noch, einfach nur angebaggert. Es ist halt ein delikates Thema. Das diese Art von Fotografie seine Schattenseiten hat, ist unbestreitbar und das meine Figur zusammen mit nackten Frauen seltsame Assoziationen weckt, damit muss ich leben.

Mit Sinnlichkeit oder Erotik hat das alles hinter der Kamera eigentlich gar nichts zu tun. Man kann versuchen, das glaubhaft zu versichern. Es bringt aber nichts, weil sich so etwas niemand vorstellen kann. Männer rollen mit den Augen, weil sie „wissen“, was da läuft. Frauen rollen mit den Augen, weil sie glauben, was da läuft. Es „rollen“ eigentlich nur Körperflüssigkeiten – nämlich in Form von Schweiß, vom Scheinwerfer oder dem ständigen Umstellen des Lichtes. Von den Bildern wird keiner etwas im Internet finden, weil ich erstens Verträge habe, zweitens die Models bestimmen, was ich zeigen darf. Außerdem bin ich noch dazu Lehrer, da ist so etwas fehl am Platz, eben wegen vieler Kollegen, die mehr Fantasie als ich haben oder Schülern, die dies sehen könnten. Das wäre noch fataler. Also bleiben die Bilder Privat oder wandern in Ausstellungen weitab von Halle, wo ich so manchen Preis abfasste. Selbst bei harmlosen Dessousfotos bin ich vorsichtig geworden. Ich bin es leid, immer wieder dasselbe dumme Gequatsche oder die dieselben blöden Witze zu hören.

Manchmal bleibt mir aber bei einigen Absurditäten der Mund einfach nur offen stehen. So hatte ich mit einer Kollegin mal einige Wochen lang Aufsicht. Wir haben auch ein wenig geschwatzt und ich sprach über meine Hobbys, die halt vielfältig sind, unter anderem auch über die Fotografie. Ich zeigte ihr normale Modelbilder (also für mich waren sie normal) und sie zeigte sich interessiert an dem Thema. Als Model kam sie mir nicht mal annähernd in den Sinn, nicht weil sie nicht hübsch war (eigentlich weiß ich nicht so recht, was das heißt), sondern weil ich keine Frauen auf der Straße und erst recht nicht auf der Arbeit anquatsche. Geht gar nicht! Es war also nur ein Gespräch, um die Zeit totzuschlagen.  Bald darauf übernahm sie eine andere Pausenaufsicht. Ich vergaß unsere Gespräche, selbst der Name war mir nicht mehr geläufig, da wir uns so gut wie gar nicht über den Weg liefen.

Ein paar Monate später waren die Kollegen auf Weiterbildung. Dort bekam ich den Auftrag alle Kollegen zu fotografieren für eine Übersichtsseite im Lehrerzimmer. Ich zeigte natürlich vorher jedem ein Bild, um eine Vorstellung vom Endergebnis zu geben. Eine Kollegin fehlte mir irgendwann noch. Ich entdeckte sie, ging auf sie zu und sagte: „Ich zeige dir ein Bild, damit du sehen kannst, wie es im Endeffekt aussehen soll.“ Sie erstarrte und zeigte sich zutiefst bestürzt. Ich war verwirrt, hatte ich etwas Falsches gesagt? Plötzlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung, holte tief Luft und rief verzweifelt: „Aber bitte kein Aktbild!!!“

Ich war völlig konsterniert oder im falschen Film. Was war das denn? Jetzt wurde mir auch bewusst, dass es eben jene Kollegin war, mit der ich die Pausenaufsicht vor Monaten zusammen machte. Schlagartig wurde mir klar, was da wohl im Kollegium rumgegangen sein musste. Ich war fassungslos. Ich fand kaum Worte, sagte etwas von Porträtfotografie und Auftrag, machte mein Foto und sprach nie wieder ein Wort mit mir. Wofür hielt sie mich denn? Ich nahm mir vor nie wieder mit jemanden, der keine Ahnung hatte über dieses Thema „Aktfotografie“ auch nur annähernd zu schwatzen.

Ich mache auch Modelfotografie, mehr muss niemand wissen.  Man kann über alles reden, über Krieg, Mord und Totschlag, Frauen, eklige Witze erzählen, aber die Aktfotografie ist immer noch die höchste Unmoral. Welch seltsame Welt.

Tiere haben die Eigenschaft, permanent den Menschen auf seine Intelligenz zu testen. Sie versuchen ständig auszubrechen und finden jede noch so kleine Lücke oder Unachtsamkeit. So geschah dies auch kurz vor Weihnachten in der Heinrich-Heine-Schule. Die Schule hatte einen vielbeachteten Minizoo. Dort gab es unter anderem einen Goldhamster, dem die Natur zwar eine ungewöhnliche Leibesfülle, zu mindestens für einen Goldhamster, gab, dafür aber auch die Fähigkeit sich durch schmale Ritzen zu pressen. Hamster versuchen ständig ihre Heimgrenzen abzulaufen, selbst wenn man ihnen ein Heim von der Größe eines Zimmers baute, laufen sie stets an den Wänden entlang.
Eines Tages, einer jener Tage, an denen alles schiefgeht, hatte ich genug im Minizoo zu tun, füttern, sich beißen lassen, ein Terrarium zerschlagen und einen Wellensittich jagen, also die ganz normalen kleinen „Katastrophen“. Unseren Hamster fütterte ich zuletzt, etwas genervt, durch die schon beschriebenen Umstände und dadurch unachtsam. Ich schloss seine Terrarientür nicht ordnungs-gemäß und ging erschöpft nach Hause.

Mensch weg, Hamster da, zu mindestens in dem Gebäude, das ich Schule nannte. Unser Hamster „grubte“ und zerrte, kratzte, schabte, biss und setzte alle seine von der Natur gegebenen Werkzeuge ein um seine nicht ganz verriegelte Tür zu öffnen. Die Lücke war dann auch gerade groß genug, um sich durchzuzwängen. Wie er das trotz der Leibesfülle anstellte, blieb mir ein Rätsel.
Die Tür des Minizoos war dagegen nur eine geringfügige Herausforderung. Die Zähne geschliffen und sich durchgenagt, durch die Pappwände einer soliden DDR-Schultür, eine Kleinigkeit für unseren Hamster.

Im weiteren Verlauf seiner beginnenden Erkundungsreise wurde die Schule ausführlich begutachtet. Dabei bezwang er sogar einige Stockwerke, eine artistische Meisterleistung. Die Treppenstufen stieg er nicht herab, sondern überwand sie durch todesmutiges Herunterstürzen.
12 heruntergestürzte Stufen später, traf unser Hamster auf den gerade im Haus weilenden Direktor Herrn F. Beide schauten sich an, der Hamster eher gelangweilt, der Direktor etwas verdutzt. Da unser Hamster sich nicht als zulange langweilen wollte, brach er zu neuen Ufern auf. Es wurde im verwehrt durch einen seufzenden Direktor, der seinen Minizoo an der Schule kannte, die Tiere und den „Zoopfleger“ und seine „Katastrophen“. Also nahm er das kleine Pelzknäuel und verstaute es in der direktorialen Anbauwand in seinem Zimmer hinter Glas, da er nicht recht wusste wohin mit Fellknäuel.

Da ein Direktor viel zu tun hat, kam es nun, dass unser Hamster vorübergehend aus seinem Gedächtnis entschwand. Vier Stunden später kamen Eltern zur Elternsprechstunde. Nicht um den Hamster zu besuchen, sondern um mit dem Direktor diverse Probleme zu besprechen. Unser Direktor beantwortete brav alle Fragen und hob gerade zu einer längeren Rhetorik an, als er gewahr wurde, dass die Augen der Eltern aus seinem Blickfeld verschwanden und irritiert auf die Anbauwand starrten. Es dämmerte ihm allmählich, dass die Ursache der verwunderten Gesichter nicht sein Vortrag, sondern der hin- und herlaufende Hamster war. Ein Schuldirektor mit einem Hamster in der Anbauwand war doch etwas seltsam. Also seufzte unser braver Direktor wieder mal, erzählte von den kleinen „Katastrophen“ im Minizoo, den Tieren und dem Minizoopfleger.

Was sich die Eltern bei seinen Ausführungen dachten, ist nicht überliefert. Unser Hamster lebte nach diesem Abenteuer noch zwei Jahre, allerdings in einem speziell abgesicherten Terrarium. Der „Minizoopfleger“ hätte dies auch auf seine Mäuse anwenden sollen, um sich eine seltsame Verwandlung zu ersparen, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Der Schulclub der Heineschule war Anlaufstelle für viele Schüler aus der Umgebung. Dort gab es Spielautomaten, einen Kraftraum, einen Tischtennisraum und eine Art Treffpunkt mit Getränkeausschank. Natürlich gab es nur alkoholfreie Getränke. Man saß gemütlich zusammen, in der Woche meistens bis 16:00 oder 17:00 Uhr. In den großen Pausen war der Schulclub für alle Schüler geöffnet und man verpflegte sich dort.

So auch an diesem Donnerstagnachmittag gegen 17:00 Uhr. Unter den anwesenden Schülern war ein Typ, nennen wir ihn Chris, groß, schlank, gut gebaut und ein echter Mädchenschwarm. Er war in meinen Augen ein arroganter und überheblicher Typ, der meistens mehrere Freundinnen hatte und sie nach Strich und Faden betrog. Man hätte fast eifersüchtig werden können, aber sein Charakter war anerkannt fies. Die Mädels bekamen seine Seitensprünge mit, aber einige schienen ein sehr gutes Kurzzeitgedächtnis zu haben, denn sie vergaßen es kurz darauf und schmachteten ihn wieder an. Aber ich dachte an diesem Tag nicht mehr an ihn, denn ich war mit Aufräumen beschäftigt. Ich wollte endlich nach Hause. Langsam leerte sich der Schulclub und auch Chris ging mit einem Freund, ohne sich zu verabschieden. Aber das kannte ich ja von ihm.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass genau dieser Chris auf der B80 tödlich verunglückt war. Im Schulclub herrschte an diesem Tag Trauer. Die Mädchen weinten sich die Augen aus und beschimpften die Schlampe, die ihn überfahren hatte. Ich erfuhr, dass die Frau betrunken gewesen sein soll und Chris keine Chance hatte zu entkommen. Irgendwann tauchten Leute von der Bildzeitung im Club auf und wollten die Gruppe interviewen. Als sie im Club fotografieren wollten, lehnte ich ab. Sie gingen, aber nicht ohne eine Gruppe Jugendlicher hinter sich zu lassen. Zwei Tage später stand in der Zeitung ein Artikel über den tragischen Tod eines Jugendlichen, der von einer alkoholisierten Frau überfahren worden war. Auf dem Bild über dem Text knieten in großer, fast schreiender Aufmachung einige Mädchen weinend mit Blumen, um sie herum standen seine Freunde. Das besonders traurige Mädchen in der Mitte des Bildes sollte seine Freundin sein, mit der er angeblich Zukunftspläne schmiedete. Ich war erstaunt, denn ich kannte das Mädchen. Die angebliche Freundin war am Tag des Fotoshootings zufällig im Club. Eigentlich mochte sie Chris nicht einmal, weil er ihre Freundin schamlos ausnutzte. Das hatte sie mir ein paar Wochen vorher selbst erzählt. Ein paar andere Typen auf dem Foto mochten Chris überhaupt nicht, weil er ihnen die Mädels ausspannte. Da ich die Bild-Zeitung sowieso nicht mochte und ihre verdrehte Berichterstattung schon am eigenen Leib erfahren hatte, versuchte ich in den nächsten Tagen durch Gespräche herauszufinden, was wirklich passiert war.

Nach und nach ergab sich ein ganz anderes Bild. Chris war nach dem Clubbesuch mit seinem Freund Richtung B80 gelaufen, sie wollten noch etwas abhängen, hatten sich Bier gekauft. Meistens gingen sie zu den Kleinen Teichen. Da sie auf dem Weg dorthin schon einige Biere getrunken hatten, entschloss sich Chris zu einer Mutprobe. Er wollte die B80 nicht über die Brücke überqueren, sondern lief einfach über die Fahrbahn, obwohl Feierabendverkehr herrschte. Die junge Frau am Steuer hatte keine Chance. Sie fuhr die erlaubten 100 Stundenkilometer, war sogar noch darunter, als in der Dämmerung plötzlich ein sich drehender und Bier schwenkender junger Mann auftauchte. Obwohl sie sofort lenkte, wurde Chris schwer getroffen. Er starb wenig später an seinen Verletzungen. Seine Selbstüberschätzung brachte ihm den Tod und der jungen Frau einen Amoklauf durch die Presse. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch, wurde beschimpft und hatte allein durch den schlecht recherchierten Artikel keine Freude mehr am Leben.

Ich empfand Trauer, aber eigentlich mehr für die Frau, deren Leben zwar weiterging, aber mit großen Schuldgefühlen und falschen Anschuldigungen. Eine Woche später tauchte auch noch die beste Freundin im Schulclub auf und knutschte wild mit einem anderen Zukunftsplan herum. Wer war doch gleich Chris?

 

Unser Minizoo an der Schule existierte von 1987 bis 2009. 1989 kam ich an die Heine Schule und brachte meinen Minizoo mit mehreren Terrarien auf dem Handwagen aus meiner ehemaligen Schule (25. POS, Friedrich-Engel), mit, die heute nur noch ein Parkplatz ist. In dieser Schule war der Biologie Raum mein Reich. Kein Lehrer wollte in diesem Raum Unterricht oder Vertretung machen. Die gesamte Wand neben der Tafel hatte Regale mit Terrarien. Dort gab es Hasen, Meerschweinchen, Ratten, Mäuse. Die machten, was Tiere halt so machen, hoppeln, laufen, springen, quietschen, Möhren raspeln, Brot knuspern und nun ja, es roch nach Tier. Das waren Großstadtkinder und -lehrer nicht gewohnt. Einige Kollegen monierten den Geruch, einige die „ekligen“ Tiere, aber am schlimmsten empfanden die meisten das Gewusel. „Die Schüler gucken nur zu dem Viehzeug… Normaler Unterricht ist nicht möglich. Tiere gehören nicht in die Schule.“ Zu der Zeit ging es nicht um Naturschutz, sondern um die eigenen Bedürfnisse. Wie auch immer, ich setzte mich durch, hatte die Wand, meine Tiere, meine Ruhe und meine eigenen Schüler waren das durchaus gewöhnt. Wir sprachen halt darüber. Es waren fast alles Tiere, die schon ein gewisses Alter auf den Buckel hatten und teilweise ausgesetzt waren. Außerdem hatte ich eine AG „Tierpflege“, so wurde das ganze irgendwie doch toleriert. Beim Umzug in die heutige Heine Schule, war man über die Aufstockung des dortigen Minizoos begeistert. Man hatte schon zwei Jahre zuvor eine eigene Ecke eingerichtet, in die ich mich integrierte. In einen Klassenraum durfte aber kein Terrarium aufgestellt werden. Ein Aquarium konnte ich mir aber nicht verkneifen.

Doch nun zur Geschichte an sich, die sich kurz vor besagtem Umzug abspielte. Meine Mentorin, eine ältere Grundschullehrerin mit fast weißem Haar, die mich aus irgendeinem Grund ins Herz schloss, unterstützte mein Projekt an der alten Friedrich-Engels-Schule, wo ich seit 1985 den Schülern vorgesetzt wurde und besagte AG gründete. Ihre sanfte Art beruhigte mein wildes Ich und den Choleriker in mir. Sie schaffte es schnell mich auf Null zu schrauben, was nicht immer einfach war. Die Welt war halt ungerecht und ich mittendrin. Wie auch immer, passierte es damals, dass meine 8 Mäuse ausbrachen. Ich könnte jetzt behaupten, ich weiß nicht wie es geschah. Aber ich weiß eben auch, dass ich mich leicht ablenken lasse und so manches halt offenblieb. Irgendwas muss man ja mit seinen Schülern gemeinsam haben.

Am nächsten Tag meldeten mir Schüler aufgeregt, dass Mäuse durchs Schulhaus flitzten, so zehn bis zwanzig Stück, wie der Hausmeister meinte. Das war natürlich weit übertrieben, änderte aber nichts daran, dass meine Tierchen eben weg waren. Alle 8 Mäuse, mehr waren es nun mal nicht. Also log ich den Hausmeister wahrheitsgemäß an: „Meine können es nicht sein, ich habe nur acht!“ Aus irgendeinem Grunde glaubte er mir und kontrollierte nicht weiter. Meine Minizooleute hatte ich längst angewiesen, sie sollen heimlich Ausschau halten und die Viecher einfangen und keinem etwas sagen, sonst müsse der Minizoo geschlossen werden. Obwohl das meine zweite Sünde war und ich wieder log, konnte ich mich auf meine Truppe verlassen und sie hatte die ausgebrochene Bagage bald eingefangen. Sie ließen sich die absonderlichsten Sachen einfallen, um den Unterricht zu verlassen und auf Suche zu gehen. Eine musste zum Sekretariat und etwas Dringendes abholen, einem zweiten wurde wahnsinnig schlecht, ein Dritter hatte seine Mutter herbestellt. Ein weiterer hatte eine Maus in seinem Klassenzimmer gesehen, sie sich schnell gegriffen und in seinen Ranzen bugsiert. Eine ganze Mathestunde beschäftigte er sich heimlich mit dem Tierchen in der Tasche und teilte mit ihm sein Frühstücksbrot. Schnell hatten wir alle 7 eingefangen. 7? Ach du liebe Zeit, eine fehlte, eine wunderschöne weiße Maus. Der Hausmeister hatte sie aber inzwischen leider gesehen und verdächtigte mich natürlich. Welch absurde Idee! Ich zeigte ihm das Terrarium an dem stand „8 Mäuse (1,7)“, was bedeutete eine Männchenmaus und sieben Weibchenmäuse wohnten hier. Ich zählte sie ihm vor und da Mäuse sehr schnell sind, konnte ich eine Maus zweimal zählen. Also konnten logischerweise die von ihm gesichtete Maus nicht aus meinem Minizoo stammen. Gut das war die dritte Lüge und ich nahm, die Hölle in Kauf. Doch wo war nur die verflixte weiße Maus?

Inzwischen war Ingrid Z., meine Mentorin, mit ihrer fünften Klasse von einer Wanderung wiedergekommen. Die Kinder standen vor der Klassenraumtür und zappelten ein wenig herum. Mahnend hielt Ingrid den Zeigefinger in die Luft. „Wir müssen jetzt ganz leise in den Raum gehen“, sagte sie in ihrem typischen Grundschullehrerton. „Der Lauteste von euch verwandelt sich nämlich sonst in ein Mäuschen!“, sprachs, machte die Tür auf und starrte auf ihren Lehrertisch, wo eine weiße Maus brav saß und sich putzte.

Ingrid alarmierte mich und ich machte auf den Schreck eine Mäusestunde sehr zur Freude der Kinder. Sie nahm mich später ins Gebet, erzählte mir, dass ich sorgfältiger sein müsse, manche meinen Minizoo nicht so gut fanden und ich nicht all das Gute, was ich tat nicht mit dem Hintern einreißen sollte. Im Prinzip die üblichen Ermahnungen, die mich schon immer begleiteten. Doch bei Ingrid kam noch ein verschmitztes Lächeln hinzu und als ich ging, sagte sie noch: „Aber eigentlich bin ich der Maus dankbar.“ Mein weißes Mäuschen bekam an diesem Tag eine Sonderportion und ich sonnte mich bei diesem versteckten Lob.                       

Eine Delegation der Heinrich-Heine-Schule zu Halle/Saale besuchte im Januar 2011 die tschechische Bruderrepublik, um sich mit den Mysterien der dort ansässigen Erdschweine auseinanderzusetzen. Nachdem sie zu frostiger Stunde artig den Bus erwarteten, streiften sie kurz darauf den Fichtelberg und besetzten denselben. Nach eingehender Begutachtung des Geländes und diverser Getränke beschloss die zitternde Delegation von hinnen zu reisen und im weiteren Verlauf die Tschechei einzunehmen. In dem Städtchen wo die Geliebte Karls des IV. nach einer Nacht fragte: „Karlo wie war i“, zu Deutsch Karlovy Vary, bewunderten wir zuerst das sozialistische Denkmal des steinernen Hotels um hernach diverse Zigarettenstände zu begutachten und uns mit den Feinheiten böhmischer Küche vertraut zu machen. Ab und an ließ auch dieser oder jener ein Och und Ach, ob der schönen Gebäude hören, obwohl das Klappern der Zähne gemeinhin weitaus mehr hörbar war. 40 oder 50 legal erworbene Stangen Zigaretten und Oblaten weiter, kamen wir in Loket an.

Loket ist ein kleiner Ort, der sich in den Ellbogen des Egers eingekuschelt hat. Hier herrschten bei unserer Ankunft minus 5 Grad und ca. 3000 Einwohner. Das war nicht weiter schlimm, weil wir unser eigenes Hotel hatten und unser eigenes Essen. Dies war vor den Bewohnern in einer 3m tiefen Grube geschützt. Aus dem Leben des Schweines erfuhren wir nichts, aber viel bei einem 500 Meter langen Stadtrundgang. Nach diesem kulturhistorischen Genuss wurde das Erdschwein aus der Grube geborgen und unter Applaus zerteilt, um dann erst auf Tellern und dann in Bäuchen verteilt zu werden. Das Erdschwein hatte nur ein kurzes Leben und eine noch geringere Halbwertszeit. Die abschließende Dienstberatung konnte leider nicht zu Ende geführt werden, da der Walzer und andere sehr schöne Schlager den Vortrag durch Becherovka und Bier ersetzten. Trotzdem kamen noch diverse Klassenkonferenzauswertungen zum Tragen. Auch ein Bier und ein Schnaps können einen echten Lehrer nicht verdrängen. Nur der Hausmeister schwieg, er dachte wohl ans Nageln.

Nach der abendlichen Dienstbesprechung und weiteren Trinksprüchen ging es morgens zum gemeinsamen Frühstück. Die Männer servierten ihren Frauen Kaffee und hartgekochte Eier, was diesen sehr gut schmeckte. Das Frühstück verging wie im Fluge und wir machten uns auf den Weg zum Schloss. Inmitten von Gängen und altem Gemäuer wurde uns die mittelalterliche Zucht und Ordnung demonstriert und jeder wunderte sich, warum das nicht mehr der psychologische Ansatz der heutigen Schulpolitik sein sollte. Doch als frischgebackene Erdschweinesser fanden wir die eisernen Werkzeuge der Folterkammer dann doch zu hart, hatten noch ein Rendezvous mit seltenen Porzellanfiguren und dann ein Stelldichein am Bus, der uns belud und gen Heimat transportierte. Unterwegs trafen wir noch auf Franzisbad und diverse „Kleine Feiglinge“ und andere Liköre. In Eger wurde neben einer Stadtbesichtigung die Markthalle mit starkem Euro aufgekauft. Nach dem langsamsten Essen (Bestellzeit 50 Minuten) der Welt verabschiedeten wir uns von Chleb und zogen uns hinter die Grenze zurück. Diverse Schlager und andere Muntermacher mit sehr anregenden Texten wie „Komm unter meine Decke, du Schnecke“ begleiteten uns in die Heimat. Nachdem wir die Schnecke hinter uns gebracht hatten, konnten wir sagen: „Mann eh, war das schön“, stiegen in die Autos und danach zu Hause auf die Couch.

Es war kurz nach der Wende. Das Land krempelte sich um. Alte Strukturen gingen, neue kamen hinzu, es wendete sich unter dem Himmel in Halle-Neustadt an jeder Ecke. Manchmal ganz leise, manchmal auch ziemlich laut. Es war die Zeit, als man Direktoren aus dem Kollegium wählte. So auch Ingo, ein schlaksiger Lehrer, der einen guten Ruf hatte, dem man aber beim ersten Hinsehen eher einen Naturburschen mit Woodstockfeeling ansah. Wie dem auch sei, man machte ihn zum Direktor der Heine Schule. Wir kamen beide gut aus und er förderte meinen Minizoo und auch den Schulclub, der sich im Keller befand und den ich jede Pause und am Nachmittag bis 16.00 Uhr betrieb. Ab und an war er Gast da unten. Wir hatten dort eine Schülerbar, einen Tischtennisraum, einen Kraftsportraum und es trafen sich dort Schüler aus unserer und anderen Schulen. 4 Mädchen und zwei Jungen waren jeden Tag als feste Schulclubmitglieder mit dabei und halfen beim Verkauf oder der Betreuung in den Sporträumen. Das alles gibt es heute nicht mehr, der Schulclub ist heute einem Pausenverkauf gewichen. Alles ist in der Jetztzeit viel organisierter, bürokratischer und lehrerhafter.    

Eines Tages, ich hatte gerade eine Biostunde angefangen, riss Ingo die Tür auf. „Du musst sofort mitkommen, ich habe einen Anruf von Herrn R.“ Herr R. war der Direktor einer Schule im Osten Halle- Neustadts, Nahe der Feuerwache. Unsere Schuler nutzten dort im Fach Wirtschaft die Küche, weil wir selbst keine hatten. Ingo hatte schon eine Vertretung für mich im Schlepptau. Wir liefen eiligst zu seinem Trabant und meine erste Frage war: „Worum geht’s?“ „Die 10d“, zischte er und sein Blick verfinsterte sich. Ich ahnte Schlimmes. In der 10d befanden sich ein Grüppchen von 6-8 Jungen, die stark rechts eingestellt waren und die hatten heute Wirtschaft in der Schule von Herrn R. „Wir müssen die abfangen und zu uns zurückbringen.“

Kaum waren wir angekommen, bot sich uns ein seltsames Bild. Vor der Schule hatten sich mehrere (es waren mindestens 80) Schüler aufgestellt, mit Knüppeln bewaffnet. An verschiedenen Ecken standen Fotografen und warteten auf das, was da kommen würde. Polizei ward nicht gesehen. Ingo bahnte sich einen Weg zum Direktor, der hilflos in der Eingangstür stand und nicht wusste, was er machen sollte. Ich stand vor den Massen und war entsetzt. Die Gesichter sagten nichts Gutes aus. Endlich erblickte ich einen Jungen, den ich vom Schulclub her kannte. Ich ging auf ihn zu. „Worum geht es hier?“ „Die rechte Sau Stephan hat gestern die Mutter von ihm hier“, er deutete auf seinen Nachbarn, „dafür wird er büßen.“ „Wie jetzt zusammengeschlagen?“, bohrte ich. Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich am Abend zuvor eine Auseinandersetzung mit der rechten Gruppe gab. Das Zusammenschlagen der Mutter entpuppte sich allerdings als ein nicht gewollter Schlag von Stephan, weil die Frau unvermutet dazwischenging. „Ah ja und deswegen der ganze Pulk mit Knüppeln für einen Mann“, ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. Inzwischen hatte sich eine ganze Gruppe um mich und meinen beiden „Gesprächspartnern“ gescharrt, die durcheinanderschrien. „Der hat ja noch seine Faschos mit…Die kriegen eine auf die Labbe… Totschlagen das Gesocks…“ Es herrschte eine brodelnde, gefährliche Stimmung. Jeden Moment konnte auch die Jungensgruppe der 10 d auftauchen. Sie ahnten noch nichts von dem, was hier abging. Ingo kam dazu. „Nun beruhigt euch mal, ihr könnt hier nicht Krieg spielen.“, mahnte er. Vor ihm baute sich ein Typ mit einem riesen Knüppel auf. „Sagt wer?“ Warum ich daraufhin dem Typen den Knüppel wegkickte, weiß ich nicht, aber seltsamerweise wachse ich bei brenzligen Situationen über mich heraus. Das war schon in meiner Jugend so, als mich in der achten Klasse zwei Typen auf den Kicker hatten, mir nachstellten und auch mal ins Gesicht schlugen. Solange ich flüchten konnte war alles gut, bis auf das eine Mal, als sie mich auf dem Schulhof in eine Ecke gegen einen Holzzaun drängelten. Da war kein ausweichen möglich. In meiner aufkommenden Wut, bei der die Angst völlig von mir wich, brach ich eine Latte aus dem Zaun und schlug die Beiden in die Flucht. Dabei hatten sie noch Riesenschwein, da in der Latte noch 80iger Nägel steckten. Zum Glück hielt ich in der Raserei die Latte verkehrt herum. Seit diesem Tag gingen sie mir tunlichst aus dem Weg.

Der Typ, nun ohne Knüppel, starrte mich fassungslos an. Ich schaute ihm lange in die Augen und sagte ganz langsam und ruhig: „So jetzt lässt sich‘s vernünftig reden.“ Dann drehte ich mich zu dem Pulk und rief laut: „Ich schlage vor wir klären das in meinem Schulclub in aller Ruhe. Da kommen die Leute, die es betrifft und du“, ich zeigte auf den knüppellosen Typen, der immer noch vor sich hinstarrte, „dann der Stephan und da kotzen wir uns aus. Das was ihr hier veranstalten wollt, hilft niemanden, ist feige und hat auch bittere Konsequenzen. Und die Reporter“, ich sprach jetzt extra laut, schrie schon fast, „scheren sich keinen Deut um euch, die wollen nur ihre Story. Das ist genauso Schwachsinn.“ Ingo unterstützte mich, hielt auch eine kleine Rede und wir hatten uns nach einigem Hin und Her geeinigt. Der Pulk strömte langsam ins Schulhaus zurück, die Knüppel flogen in die Büsche, die Reporter sahen ein, dass hier nichts mehr zu holen war, als plötzlich unsere rechte Gruppe auftauchte. Ich begab mich sofort zu ihnen. Sie hatten aber die Situation schon gecheckt. ich sagte ihnen, was wir mit den Schülern vereinbart hatten und sie stimmten sichtlich erleichtern zu, natürlich nicht ohne ein paar blöde Bemerkungen über Zecken. Die Sache war erledigt, dachte ich, als plötzlich aus dem Nichts der Achte im Bunde um die Ecke bog und laut schrie: „Nieder mit den Zecken.“ Der Typ war einfach betrunken und kam deshalb zu spät. Mit einem gewaltigen blitzschnellen Lauf, den ich mir selbst nicht zugetraut hätte, lief ich auf den wild gestikulierenden Typen zu, riss ihn zu Boden, nahm ihm am Hals, hob die Faust und flüsterte ihm rasend vor Wut ganz nah ins Gesicht: „Solltest du nur ein Wort sagen, mache ich dich fertig. Atme nicht mal laut“ Seine Gruppe sammelte ihren völlig verwirrten Genossen auf und wir gingen gemeinsam zur Straßenbahn. Ingo hatte mich im Hintergrund abgesichert und ein paar Restschüler die erstaunt die Szene betrachten, auf Abstand gehalten. Meine rechte Gruppe war recht schweigsam und Stephan bezahlte mir die Fahrt zu unserer Schule. Im Schulclub verbrachten wir noch die Restzeit bis zur nächsten Stunde. Ich gab eine Cola aus und man setzte mich von den ganzen Vorfällen am Vortag in Kenntnis. Ich war erleichtert. Erst viel später wurde mir der ganze Ernst der Lage bewusst, als ich schweigsam allein im Schulclub saß und eine rauchte. Ich glaube, ich habe noch die nachfolgende Stunde einfach geschwänzt. Aber das war mir in diesem Moment völlig egal.

Epilog

Zu einer Aussprache kam es im engeren Sinne nie, aber man besuchte mich ab und an. Das war schon seltsam, Zecken (Linke) und Rechte zusammen in einem Gespräch, aber das sollte ich noch des Öfteren erleben.

Tiergeschichten

Das kleine Mädchen ging zum Vogelkäfig, „Hansi komm“. Der Vogel, ein Wellensittich, schaute sie aufmerksam an. Monika öffnete die Käfigtür. Im nächsten Moment flatterte er schon fröhlich schnatternd im Zimmer herum. „Hansi, Hansi, du bist mein bester Freund.“, rief Monika vergnügt. Hansi ließ sich auf der Gardinenstange nieder und beobachtete teilnahmsvoll Monikas wildes Treiben. Er schien es schon zu kennen. Jeden Morgen war sie so aufgeregt, wenn sie ihn sah. Monika streckte den Finger in die Luft. „Komm Hansi, komm“, lockte sie. Gehorsam flog der Vogel auf ihren kleinen Finger. Monika schnalzte vergnügt. Sie stupste Hansi mit der Nase an und strich ihm über das weiche Gefieder. Hansi war ihr bester Freund. Wie oft hatte sie mit ihm geredet. Am liebsten hätte sie ihn überallhin mitgenommen. Aber dann sagte die Mama zu ihr: „Der fliegt dir weg. Auch ein Vogel will frei sein.“ Monika wollte, dass es ihrem gefiederten Freund gut ging. Sie liebte ihn, ohne es sagen zu können.

Hansi saß zusammengesunken auf der Stange. Er war müde. Monika ging mit wehendem Nachthemd zum Käfig. „Gute Nacht, mein kleiner Hansi“, flüsterte sie. „Träum was Schönes von mir oder von deinen vielen bunten Freunden. Flieg mir bitte nie, nie weg.“ Monika faltete ihre kleinen Hände. Ihre Kreuzkette zitterte leicht.

„Guten Morgen“, rief Monika fröhlich, als sie das Zimmer betrat. Aufmerksam hörte sie sich im Zimmer um. Plötzlich vermisste sie das gewohnte Tschilpen ihres Freundes. Schnell lief sie zum Käfig. Hansi lag steif auf dem Boden. Seine Augen waren halb geschlossen. „Hansi, wach auf“, Monika rüttelte an den Gitterstäben. Hastig öffnete sie die Gittertür, nahm den toten Vogel vorsichtig in die Hand und streichelte ihren Freund zärtlich. „Wach auf!“, rief sie mit zitternder Stimme.

„Du bist ja ganz kalt!“, sie hielt ihren erkalteten Körper an ihre heiße Wange. Die Zimmertür ging auf. „Mama“, Monika liefen die Tränen übers Gesicht, „Hansi schläft und wacht nicht mehr auf.“ Die Mutter nahm den Vogel in die Hand. „Hansi wird nie mehr aufwachen. Er ist tot“, sagte sie traurig. Langsam schlich Monika aus dem Zimmer. Tot? War er nicht immer gut zu ihr gewesen? Hatte sie nicht für ihn gebetet? Monika verstand die Welt nicht mehr.

„Papa, ist Hansi jetzt im Himmel bei Opa?“, fragte Monika. „Ja, mein Kind“, sagte der Papa. „Jetzt musst du ihn begraben.“ ‚Das werde ich tun‘, dachte Monika, ‚hoffentlich werden die beiden gute Freunde. Du musst ihm dreimal am Tag Körner geben, Opa”, murmelte die Fünfjährige und blickte zum Himmel. Der Vater lächelte und strich ihr zärtlich übers Haar. Monika legte Hansi auf ein weißes Tuch, nahm eine Schippe und ging mit ihrem toten Freund auf den Hof. Dort schaufelte sie in einer stillen Ecke ein kleines Grab, band aus Stöcken ein Kreuz und steckte es in die Erde. Leise summte sie bei der Arbeit ein Lied. Niemand hörte oder sah sie, außer ihrem Vater, der hinter dem Vorhang seine Tochter wehmütig beobachtete. „Schlaf, Hansi schlaf“, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Langsam senkte sie Hansi in das Grab, schüttete es zu und glättete sorgfältig den Hügel. Dabei summte Monika wieder ihr Lied. Nie wieder würde sie so schön mit Hansi spielen können, nie wieder würde er so schön tschilpen und die Wurst stehlen können. Mit dem Vogel begrub Monika auch ein Stück ihres Herzens, ihrer Liebe.

Sie weinte. Aus dem Nachbarhaus erklang leise Musik. Mary Ann sang die Temptations. Sie sangen von Sehnsucht und Liebe. Hätte Monika nur ein Wort verstanden, hätte sie noch mehr geweint. Leise wiegte sie sich im Rhythmus.

Tränen fielen auf den Hügel, ließen Gras über Hansi und das kleine blutrote Stück Herz wachsen, wie so oft über traurige Dinge. Nie würde sie ihn vergessen. Niemals! Gott hatte an diesem Tag Wichtigeres zu tun.

 

Mein Name ist Goja. Ich bin eine wunderschöne schwarze Schäferhündin mit ganz lieben Menschen um mich, die mich meistens etwas spät, aber doch ganz gut füttern. Ich kann dann richtig schön winseln und im Gesicht meiner Lieblingsmenschin lecken, die mit 1,60m nur etwas größer ist als ich.

Im Moment kommt immer nach dem Wochenende die Freundeskugel mit Namen Micha, um mit mir spazieren zu gehen. Er freut sich, dass ich bei seinem Anblick nicht vor Freude hochspringe und belle, sondern ganz ruhig bin. Er ist ganz stolz darauf und nennt das Erziehung. Das ist hundemäßig gesehen, etwas dümmlich, weil er ja nicht zu meiner Hausausstattung gehört und mich noch nie gefüttert hat. Nun ja, ich lecke ihm auch mal das Gesicht und er verzieht dieses, als ob er die schönste Art der Begrüßung nicht mag. Menschen, auch kugelrunde, sind komisch. Er quatscht mich erst ein wenig voll und ich warte darauf, dass er die Leine schnappt. Keine Ahnung, was er will, aber wir gehen spazieren. Endlich wieder schnüffeln, wer wo sich wälzte oder seine Spur hinterließ. Da gibt es gute Rüdenspuren und -marken, aber eine Genießerin genießt halt schweigsam. Meine kugelrunde Ausgehhilfe bleibt meist geduldig stehen. Er hat zwar keinen Geruch und kann diese feine Erotik nicht mal annähernd kennen lernen. Menschen sind schon mal arm dran. Micha ist aber lieb, labbert mich voll und will weiter gehen. Ich erlaube es ihm meistens.

Heute geht es aber zu seinem Auto. Ich kenne es schon, hab es schon oft dreckig gemacht, wenn er mich nach einem Spaziergang mit meinem Lieblingsminimenschen, die auch meine Anführerin ist, nach Hause fährt. Er brummelt dann etwas von Dreckspatz, was in Hundesprache eine große Ehre ist. Wir fahren los und sind schon bald da. Gott sei Dank. Spaziergänge im Auto machen sich für meine Größe nicht gut. Da muss man schon die kleinen Selbstgestrickten mitnehmen. Ob das Hunde sind, weiß ich nicht so genau, sie riechen zwar so, machen unheimlich Krach, aber sind sonst so, wie die Evolution es sich nie hätte einfallen lassen. Menschen sind schon komische Gestaltenwandler.

Egal, endlich geht es raus. Kugelrundmicha lässt mich schon bald allein gehen und jammert nach einem winzigen Wegstück über seine Knie, auch sonst ist sein Körper immer ein wenig lädiert. Er brummelt etwas von 2km und ich bin noch nicht mal warm geworden. Wenn er wüsste, was ich alles errieche, hier ein Rüde, der hinter jeder hinterherjagt, dort der Haufen gehört einem Winzling, sie war schon mal trächtig. Interessante Spuren, ich könnte stundenlang weiterlaufen. Micha geht zum Wasser, er nennt es Saale und schaut minutenlang in das dahinrauschende Wasser. Ob er auch von schönen großen Rüden träumt? Ist er eigentlich auch ein Rüde? Wie mein Menschlein riecht er nicht, eher wie ihr Freund, der auch bei uns wohnt. Ist ja auch egal. Ich mag das Wasser, es fließt schön um die Beine und da sind auch silbrige Dinger drin, die man schnell schnappen kann. Außerdem lässt es sich nach den Wassertröpfchen so gut jagen. Micha scheint aber sehr darüber erschrocken zu sein und denkt vielleicht, ich ertrinke oder schlimmeres. Er fordert mich zu sich und da ich eine gute Hündin bin, tu ich ihm den Gefallen. Dafür lobt er mich. „Das hast du fein gemacht.“, sagt er und ich meine, er hat das auch fein gemacht.

Wir gehen noch zu einem Felsen, da geht die Post ab. Er versucht ein Stöckchen wegzuwerfen und denkt, er kann es mir abjagen. Ha, ich renne auf ihn zu, er macht sich noch breiter, als er schon ist, gibt grauenhafte Geräusche von sich, will gefährlich aussehen, was natürlich aus Schäferhundsicht lächerlich ist, aber Spaß macht. Doch zack, bin ich schon an ihm vorbei, er rennt hinter mir her und japst. Das Stöckchen hab ich sicher. Das macht er noch dreimal und jammert jetzt etwas von seinem Herzen. Das Ding dröhnt in meinen Ohren ganz schön laut und ich lass ihn erst mal in Ruhe ausjapsen. Derweil kann ich ja weiter nach den wunderbaren Gerüchen suchen.

Komisch finde ich immer, dass Menschen meine große Hinterlassenschaften mitnehmen. Ich kann das ja nicht brauchen, auch wenn es schön riecht. Er guckt es sich zwar an, schnüffelt aber nicht mal daran, was ja hündisch gesehen, völlig doof ist. Irgendwann hat er von meinem Spielzeug genug und wirft es in irgendwelche Behälter. Vielleicht sammeln Menschen so etwas, um einen Garten der Gerüche aufzubauen. Das wäre vernünftig und sehr sinnvoll. Ein Hundeparadies. Na, wie auch immer, das kleine Geschäft scheint Menschen gar nicht zu interessieren, dabei ist das die reinste Hundewelt. Da hinterlasse ich schließlich meinen Namen. Goja, weiß dann jeder Hund, der hier vorbeikommt und ich erkenne mich auch das nächste Mal wieder. 

Micha schaut auf so ein Gerät und murmelt etwas von Orientierung. Sag mir, wo der nächste Haufen ist und ich sag dir, wer hier war und wo ich bin. So einfach ist die Welt.

Wir sind wieder beim Auto. Ich springe in den Kofferraum und weiß, dass Micha beim Aussteigen mich ganz doll lobt und Dreckspatz zu mir sagt. Gern geschehen, kugelrunder Micha.

Der Spaziergang auf Podcaster

Die Blondine wippte bedächtig mit dem Fuß. Sie hat ein niedliches Fußkettchen, dachte Chris und malte sich einige Posen aus, die sie vor seiner Kamera machen würden. Ein Detailfoto des Kettchens mit dem Fuß war schon ausgemacht. „Sagen Sie“, ihr Fuß hörte auf zu wippen, „was ich mich schon die ganze Zeit frage, wo haben Sie ihre ungewöhnliche Narbe auf der Stirn her? Die sieht aus wie ein, ein…“ Chris lächelte, wischte sich unbewusst über die Stirn, spürte den weichen Huckel und fragte gedehnt: „Huufeiisen?“ Die Blondine nickte etwas pikiert, es schien ihr peinlich zu sein. Chris winkte ab, „Ach was, das fragt mich jeder. Ich bin mit dem Motorrad gestürzt und dabei habe ich mir diese Blessur geholt. Es ist nichts weiter. Darum nennen mich meine Freunde auch Huffi.“ Chris nahm einen kräftigen Schluck Kaffee, während die Blondine an ihrem Sektglas nippte. Ihr Fuß wippte wieder. Sie machte auf dem Barhocker eine gute Figur. Das Licht im Café war etwas diffus und zauberte auf ihrem Gesicht ein kleines Schattenbild. Chris lachte kurz auf. „Es ist, als ob ich von einem Minipferd getroffen wurde. Nee, im Ernst, ich war allein, als es passierte und in einem abgelegenen Wald. Es dauert ein wenig bis zum Krankenhaus. Deshalb die Narbe.“ Die Blondine nickte zufrieden, mehr wollte sie auch gar nicht wissen. „Gut, dann sind wir uns einig. Ich bekomme 12 Bilder, hier ist die Adresse, wo wir uns zum Outdoor-Shooting treffen.“ Chris nahm den Zettel, während er ihr den TFP Vertrag herüberschob, den sie sogleich studierte. Als er die Adresse sah, erstarrte er. Seine Kehle schnürte sich zu. Genau dort geschah es einst. Chris tauchte tief in seine Gedanken ein und sah alles, als ob es erst gestern war. Gestern vor genau 12 Jahren, als er die Koppel unter dieser Adresse betrat.

Chris betrat durch das große Eisentor die Koppel, die etwas außerhalb des kleinen Dorfes lag. Der Morgen war noch diesig, die Sonne brach glutrot aus dem Osten in den Tag. Die Besitzerin wollte noch jeden Moment nachkommen.  Sie musste Wasser für die Tiere mit ihrem Traktor holen. So konnte er sich umsehen. Irgendwo ganz hinten standen ein paar Wallache, darunter ein sehr großes Tier. Ein Riese, dachte er. Chris hatte keine Ahnung von Tieren, schon gar nicht von Pferden. Wozu sollte er auch etwas über Pferde wissen. Ein Tier wie jedes andere. Schließlich sollte er nur ein paar Fotos für die Besitzerin schießen. Natürlich hatte er ihr gegenüber sein Unwissen verheimlicht, schlimmer noch sich als Pferdekenner ausgegeben. Er wollte ja nicht reiten, noch das Pferd unbedingt anfassen.
Der große Wallach bei der kleinen Herde, schien den Fremden zu bemerken und kam langsam auf Chris zu. Irgendwie wuchs das Tier mit Näherkommen. Chris sah die weißen Haarbüschel, die die Hufen verdeckten. Der mächtige Körper schaukelte gemächlich. Im Gras lag eine vergessene Reitpeitsche, die Chris sich erst mal sicherheitshalber griff. Irgendwie war er wie festgenagelt.

Der Wallach stand plötzlich vor ihm und musterte Chris, der sich in die Peitsche verkrampfte. Das Tor war hinter ihm zu. Er hätte es auch nicht öffnen können, weil es ausladend war. Dazu müsste er erst den Riesen nach hinten wegdrängen. Doch das war bei der schieren Körpermasse unmöglich. Der Wallach schubberte an ihm herum und zog eine Tüte aus seiner Tasche, wo wohl noch Brötchenkrümel vom schnellen Frühstück am Bäcker drin waren. Der Pferdekopf war bedrohlich groß und der Wallach kam ihm viel zu nah und drängelte Chris ans Tor. Er wusste nicht, was er tun sollte, noch hatte er eine Ahnung, was das Tier von ihm wollte. Plötzlich erinnerte er sich an die Reitpeitsche in seiner Hand und schlug heftig zu. Es klatschte auf dem Pferdekörper. Der Wallach sprang hoch, drehte sich um die eigene Achse, erwischte Chris mit dem Hintern und schleuderte ihn zu Boden. Dann galoppierte er davon und blieb im nächsten Moment aber abrupt stehen. Langsam drehte er sich zu Chris und senkte den Kopf, fast so als ob er nachdachte. Mit angehobenem Schwanz und angelegten Ohren musterte er Chris, der wie gelähmt am Boden lag. Der Wallach schnaubte, scharrte kurz auf dem Boden und galoppierte auf Chris zu, dann ging er vor ihm mit den Vorderfüßen hoch. Chris sah die riesigen Hufen auf sich zukommen und spürte eine rasenden Schmerz. „Das wars“, durchzuckte es ihn.

Das nächste, was er mitbekam, waren die weißen Lichter im Krankenhaus. „Was ist passiert?“, fragten die Ärzte. Chris erzählte die Geschichte. Die Ärzte schüttelten den Kopf: „Das kann nicht sein, die Tiere wiegen über 800 kg, ihr Körper wäre zermalmt worden. Dagegen waren ihren Wunden geradezu winzig. Außerdem war die Polizei auf der Koppel. Sie sind wohl gestürzt und lagen bewusstlos außerhalb der Koppel.“ Chris erinnerte sich an alles genau. Als er seine Wunden im Spiegel das erste Mal sah, bemerkte er die hufeisenförmige Narbe auf der Stirn und seltsamerweise eine identische Wunde auf der Brust. Es war unerklärlich.  

Das alles war nun 12 Jahre her und er war nie wieder in die Nähe der Koppel gekommen. Chris starrte noch immer auf den Zettel. Es war diese verdammte Adresse von damals, als das mit dem Wallach passierte, was jeder bestritt. „Ist irgendetwas mit der Adresse“, fragte die Blondine besorgt, „Wissen Sie, wo das ist?“ Chris nickte. „Ja, ja, alles gut, sind da noch Pferde drauf?“, fragte er. Die Blondine lachte. „Ach so, wegen der Pferde! Keine Bange, das sind die Tiere meiner Freundin. Die sind zwar riesig, aber sanft. Die tun keinen etwas. Man nennt sie ja auch „Gentle Giants“. „Na da bin ich beruhigt“, log Chris. Die Blondine hörte mit dem Fuß auf zu wippen und schaute Chris besorgt an. „Man, ihre Narbe ist plötzlich rot geschwollen. Sind Sie okay?“ „Alles gut“, winkte Chris ab, „Bei einem schönen Model, bin ich immer etwas aufgeregt.“ Er setzte ein gequältes Lächeln auf. „Freue mich auf morgen“, prostete er ihr lachend zu und fühlte, wie seine Narbe auf der Brust zu jucken begann. 12 Jahre dachte er.

Chris mochte diesen Tag nicht, trotz Blondine. Irgendwie tat er sich schwer zu dieser Adresse zu kommen. Es war auch wie damals, alles so merkwürdig ruhig. Zudem lag noch ein Nebel über der Wiese. Seltsamerweise oder Gott sei Dank war kein Pferd zu sehen, das Tor stand weit offen. Chris atmete tief auf. Irgendwie konnte er seine Gedanken noch nicht recht sortieren. Seine Narben fingen an zu jucken. Das Model war noch nicht da. Die Sonne kam blutrot über den Horizont in den Tag hinein. Chris stellte seine Fototasche ab und holte tief Luft. Er wollte sein Objekt schon mal tauschen, als er plötzlich hinter sich einen Atem aus Nüstern im Nacken spürte. Erschrocken fuhr er herum und blickte in die Augen des Wallachs, dessen Kopf über ihm thronte. Der Riese, die Hufen, durchzuckte es ihn. Ein Blick zum Tor zeigte ihm, dass Fliehen unnütz war. Das Tor war seltsamerweise geschlossen. Er musste sich seinem Schicksal ergeben. Der Wallach fuhr mit seinen weichen Lippen über Chris Gesicht, aus seinen Nüstern kam ein warmer Hauch. Erstaunt stellte Chris fest, dass er einen kleinen Bart hatte, fast wie ein Schnauzer. Die Lippen des Pferdes berührten sanft seine Narbe auf der Stirn. Es war ein angenehmes Gefühl. Die Schnauze verweilte einen Moment an seinem Kopf und stupste ihn dann sanft auf die Brust, da wo die andere Narbe war. Chris streichelte vorsichtig den Hals des Riesen. Im Auge des Wallachs schien er sich ein wenig zu spiegeln. Chris spürte eine unendliche Wärme, die ihn durchströmte. Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an den Hals des Shires.

„Oh, sie sind schon da!“, winkte die Blondine ihm zu und öffnete das Tor. Chris fuhr mit einem Ruck herum und starrte sie und das Tor etwas entgeistert an. „Sehen Sie, da oben steht der Wallach, ein wahrer Riese, aber keine Angst, er ist ganz sanft.“, zeigte sie in Richtung eines kleinen Hügels auf der Koppel. Chris war verwirrt. War er im Stehen eingeschlafen? Die Blondine kam auf ihn zu und schrie plötzlich auf. Chris zuckte zusammen: „Was ist? Kommt er?“ „Wer kommt?“, die Blondine war sichtlich unsicher und zeigte auf seine Stirn. „Ihre Narbe ist weg!? Haben Sie das noch machen lassen? Ist ja komisch“, sie fuhr mit den Fingern über seine Stirn. „Nichts. Alles glatt“, stellte sie verwundert fest. Chris lächelte gequält: „Jaja, die Wunder der Medizin.“ Die Blondine stellte ihren Rucksack ab. „Erst mal so oder gleich Dessous“, wühlte sie schon im Beutel herum. Chris murmelte: „Erst mal so.“ und ließ sie machen. In der Ferne auf der Anhöhe der Koppel stand der Wallache mit einem angewinkelten Hinterbein. Das Pferd schien kurz zu nicken und wieherte vernehmlich. Chris begriff noch gar nichts, fasste sich an die Stirn und an die Brust. Keine Narbe. Plötzlich schrie die Blondine auf. „Verdammt, hier liegt eine Reitpeitsche.“ Sie zerrte an irgendetwas im Gras.  Chris kam näher, die Reitpeitsche war wohl 12 Jahre im Gras verwachsen. So sah es zu mindestens aus. Sie ließ sich einfach nicht herausreißen. „Ich mach es später“, sagte Chris. Der Wallach ließ aus der Ferne ein Wiehern hören. Chris verstand.

 

 

Es war einmal eine wunderschöne kleine Drohne, die in den Tag hineinlebte. Sie schwirrte von einem Blumenfeld zum anderen. Sie war nett und freundlich und hatte die tollsten Ideen, wie man die Welt gestalten kann. Freilich hielt sie es nie lange an einer Stelle aus, denn sie war ständig auf der Suche nach der Selbstverwirklichung. Hatte sie mal keine Lust zum Fliegen, fand sich immer jemand, der sie mitnahm und auch mal fütterte. Ein schönes Leben.
Eines Tages traf sie auf einem kargen Landstrich eine Biene, die gerade ihren Bienenstock verloren hatte und nach neuem Anschluss suchte. „Wenn du mich mitnimmst“, sagte die Drohne, „zeige ich dir meine Ideen und du brauchst keinen Bienenstock mehr.“ Und die kleine Drohne erzählte von ihren fantastischen Träumen. Doch zuerst müsse man ja den Landstrich mit geeigneten Blumen bepflanzen, um den Nektar zu ernten. Natürlich hatte die Drohne einen Plan, doch fehlte ihr der Samen für die Blumen. „Da hab ich eine Idee“, rief die Biene und schwirrte ab. Mit unermüdlichen Eifer sammelte sie Samen und bestellte das Feld, fütterte auch mal die kleine Drohne und trug sie von Ort zu Ort. Die kleine Drohne besah sich die Sache und befand sie für gut. „Wir sollten uns um andere Bienen kümmern, wenn wir ein wenig mehr sind, wäre es doch toll“, sagte die Drohne und die Biene tat ihr Bestes. Sie pflegte die Blumen, kümmerte sich um andere Bienen, transportierte den Samen und den Nektar und selbst wenn die kleine Drohne mal etwas verschusselte, nahm ihr das die kleine Biene nicht krumm. Manchmal, nur manchmal, waren die Ideen der Drohne so tolldreist, dass die kleine Biene sich fragte, wie sie das bewerkstelligen sollte. Blumen bis zum Mond oder Blüten, die im Mondschein nicken, waren selbst für die fleißige Biene zu viel. So gedieh der Landstrich prächtig. Bergauf und talabwärts waren die kleine Drohne und die fleißige Biene bald bekannt. Unermüdlich sorgte die kleine Biene dafür, dass das gemeinsame Werk der beiden bekannter und bekannter wurde. So hatte im Laufe der Zeit die kleine Biene viele Bekanntschaften geschlossen und sich auch auf anderen Landstrichen umgesehen. Sie ging sogar kleine Bündnisse ein, um ihre Drohne besser zu unterstützen, denn gar schwer war die Last der kleinen Biene.
Die Drohne besah das Werk und befand es für gut.
Überall stolzierte die kleine Drohne übers Land und verwies auf ihre Ideen und wie schön sie geworden seien. Doch die kleine Biene wollte mehr und beschloss ein Teil des Feldes umzugestalten, schließlich hatte sie ja auch für die notwendigen Materialien gesorgt. Die Drohne sah es und es gefiel ihr gar nicht mehr. „Meine Idee wird vernichtet“, schrie sie. Die kleine Biene stutzte: „Aber ohne die Hilfe der anderen Gruppen geht es nicht weiter“, sagte sie. Das kümmerte die kleine Drohne überhaupt nicht. „Schau wie das Feld aussieht, da ist kaum noch eine Linie drin. Man kann mich auch gar nicht mehr sehen und erst recht nicht meine Ideen“, trampelte sie wütend mit den Füßen. Da ward die kleine Biene traurig, „Hab ich dir nicht alles gegeben, hab ich dich nicht oft genug gefüttert, alles besorgt, was du haben wolltest, hab ich nicht viel Arbeit hineingesteckt.“ Die kleine Drohne sah das gar nicht ein: „Du machst alles nur zu deinem Ruhm, damit jeder über dich spricht, mich vergisst du und was wir einst wollten. Ich suche mir einen anderen Landstrich.“ Da ward die kleine Biene traurig und flog der Drohne ein klein wenig her. „So versteh doch, einen so großen Landstrich kann man nicht nur mit deinen Ideen bestellen.“
Doch die kleine Drohne war unbeirrbar in ihrer kleinen Welt. Sie fühlte sich verraten und alleingelassen und vergaß die gemeinsame Zeit mit der kleinen Biene und den anderen aus der Gruppe. „Ich bin kein Mitflieger“, brummte sie beleidigt und schwirrte in das Reich der neuen Ideen und Träume. „Das ist wohl wahr“, summte die kleine Biene. „Mitgeflogen bist du nicht, hast dich tragen und füttern lassen, hast deine Ideen mit dem Material der anderen ausgefüllt.“ Ein wenig wehmütig schaute die kleine Biene der Drohne nach, ging ihr doch diese Trennung sehr, sehr nah. Dann wand sie sich wieder ihren Blumen zu, wo schon die anderen Bienen warteten.
Die kleine Drohne aber philosophierte vor sich hin, flog auf der Suche nach der Selbstverwirklichung unbeirrt weiter und war überzeugt, ihr Lebenswerk noch zu schaffen. Sie sollte bald bemerken, dass das Leben nicht allzu lang ist und es nicht viele Bienen gibt, die Drohnen vor dem Winter aufnehmen.

Es war warm, weich und eine kleine Welt, voller Geräusche und dem Klopfen eines Herzens. Mutter. Ich war geborgen, bis zu dem Tag, als mich eine unbekannte Kraft durch eine dunkle Höhle rückwärts schob. Grelles Licht. Ich fiel in ein weiches, gelbes Lager, rang nach Luft, das Klopfen war weg. Mutter? Die Welt war riesig, mit einer endlosen Weite. Doch da war der Geruch, den ich kannte. Mutter! Und dann spürte ich sie, die feine Schnauze, sie leckte mich behutsam ab, befreite mich von den Höhlenresten. Ich atmete tief Luft ein und spürte den warmen Atem meiner Mutter… Sie war ganz nah bei mir, ich spürte die feinen Haare und hörte ihre Stimme: „Mein Sohn“. Jetzt konnte ich sie sehen, ihren massigen Kopf, die wunderschöne weiße Blesse, die schwarze Mähne und ihre Nasenwölbung. Sie war einfach nur riesig. Ein Fels, der mich schützte. „Er ist grau“, wieherte leise eine Stimme. „Das waren wir alle als Fohlen, Tori“, gab Mutter leise schmatzend zurück. „Komm ihm nicht zu nahe. Du bist noch jung“, Mutter klang streng, vielleicht ein klein wenig müde. Irgendetwas schien sie doch mitgenommen zu haben.

Ich schaute nach dem großen Etwas, das Mutter Tori nannte. Das Etwas stellte sich quer vor uns und verdeckte den Blick in die endlose Weite, die ich noch gar nicht fassen konnte. „Tori ist deine Tante, sie wird dich auch beschützen. Bleib noch etwas fern von ihr, sie ist sehr tapsig. Mich nennen die Menschen Anouk“. Menschen kannte ich nicht, aber wenn Mutter es sagte, schien es irgendwie vertraut. Vielleicht waren die Menschen der eigenartige Geruch, den Mutter und Tori gar nicht hatten. Irgendetwas in mir spannte die Muskeln, es flüsterte und forderte mich auf, aufzustehen. Ich versuchte auf meine vier Stelzen zu kommen, doch mein kleiner, zittriger Körper wackelte und die Stelzen knickten immer wieder ein. Mutter nickte mir ermunternd zu und leckte mich weiter. Es dauerte eine Weile und ich konnte mich umsehen. Im Gegensatz zur Höhle war hier alles viel, viel größer. Und wieder flüsterte die Stimme: „Hunger“.

Ganz ohne meinen Willen zog es mich unter Mutters Bauch und an einer Zitze fand ich die sprudelnde Quelle. Die warme Milch floss meine Kehle hinunter. Ich war angekommen. Ich war Mutters Fohlen. Nur einen Namen hatte ich noch nicht. Mutter schien meine Gedanken zu erraten. „Menschen geben dir den Namen, achte auf ihre Körpersprache. Sie sehen anders aus als wir, geben komische Laute von sich. Ein paar musst du dir einprägen.“ Ich verstand noch nicht, was sie meinte. Da waren Ohren, die Haut, der Schwanz, der Kopf. Also was brauchte ich mehr, um Mutter oder Tori zu verstehen. Waren die Menschen wie wir? Waren sie keine Pferde?

„Sie kommen“, flüsterte Tori. Ich drückte mich an Mutter und sah diese zweibeinigen Wesen auf uns zukommen. Das Wesen strahlte Ruhe aus, schob Tori, diesen riesigen Muskelberg, behutsam beiseite und hielt meiner Mutter die Hand hin. „Gutes Mädchen“, flüsterte er und schaute mich an. Das war er also, ein Mensch. Er hatte keine Ohren und zwei seiner Stelzen hingen seltsam hoch in der Luft. Das Gesicht war eingedrückt und eine Blesse fehlte ganz. Die Haut flatterte an ihm herum und hatte seltsame Muster und Farben, ein Schweif fehlte auch. Es war ein seltsames Pferd, aber Mutter schien ihm zu vertrauen. Ich zitterte etwas, doch Mutter ließ dieses seltsame Wesen an mich heran. Er fuhr mit seinen Vorderhufen, die Mutter Hände nannte, auf meinem Rücken entlang. Es war seltsam, aber er schien nichts Böses zu wollen. 

Bald darauf kamen zwei weitere kleinere Menschen, die anders rochen als der Mensch, den sie Christian nannten. Die kleinere von den Neuen quietschte vergnügt als sie mich sah und sagte so etwas „Oh mein Gott, oh mein Gott, wie süß“ und die größere mit einer kleinen blonden Mähne verzog den Mund ganz komisch. Mutter sagte, dass die Menschen dann lachen und fröhlich sind. Das war also meine neue Welt, Mutter, Tori und die drei Menschen. Ob es noch mehr gab da draußen? Ich musste mich erst einmal hinlegen, es war ja alles so aufregend und das Stehen strengte an. „Sie nennen dich Diamant“, flüsterte Tori, als die Menschen gingen. Ich schaute Mutter fragend an. „Der Diamant ist für die Menschen ein besonderer Schatz und der Name wird deine Zukunft sein“, sagte Mutter. „Bis dahin musst du aber noch sehr viel lernen, kleiner Hengst.“ lachte Tori und gab jetzt den Blick in meine neue Welt frei und die hörte gar nicht mehr auf.  Sie hatte selbst die Menschen verschluckt, als sie gingen. Aber wenn Mutter dabei war, nahm ich mir vor, mutig zu sein. Denn es war nun auch meine Welt und ich war sein Diamant.

Da ich demnächst Fotoshootings plane, hatte ich heute den Tag genutzt, meine umfangreiche technische Fotoausrüstung zu überprüfen. Neu in meiner Sammlung ist ein synchroner Zweitauslöser für Blitze mit Aufhellungsschirm. Außer das der Schirm ständig aufschnappte, aufgrund einer Fehlfunktion, ich nach dem dritten Fluch den Aufsteckmechanismus des Blitzes endlich begriff, mir bei der ganzen Schrauberei den Finger klemmte, mit einem Bein in der Fotolampe hängenblieb, sie aber noch retten konnte, der Blitz leere Batterien hatte, ich ihn falsch herum montiert, die verdammte Fotolampe noch einmal drohte umzukippen, die Kamera plötzlich weg war (ich hatte ein Tuch drüber gedeckt), und ich die Zimmer fluchend nach ihr durchsuchte, die Fotolampe zum dritten Mal zu stürzen drohte, geschah eigentlich nichts Bedeutendes, was man aufschreiben könnte.

Endlich stand alles zur Probe bereit. Ich wählte auf unserem Eichentisch ein geschnitztes Motiv und wollte mit Blitz fotografieren, dabei sollte der Synchronblitz ebenfalls auslösen und der Aufhellschirm das Licht verteilen. Da geschah es, das Marlow, einer meiner Katzen im Weg vor dem Motiv stand. Ich wollte ihn verscheuchen, beugte mich nach vorn, geriet aus dem Gleichgewicht, wollte die Kamera beschützen, verdrehte die Hand, das die Kamera zu mir zeigte und löste aus Versehen aus, den Kamerablitz und den Zweitblitz und beide in die Augen. Getroffen von dem doppelten Lichtschlag, wollte ich aufstehen und vergaß, dass ich durch den Fall mittlerweile unter einem schweren Eichentisch saß. Der Schlag war für meinen Kopf erschütternd. Ich taumelte nach hinten und setzte mich auf den Schwanz des andren schwarzen Katers – Milow. Der jaulte auf und jagte davon, nicht ohne die Fotolampe umzureißen. Sie zersplitterte. Kruzitürken noch mal, ich brauche dringend ein chinesisches Rezept für Katzen und eine neue Fotolampe.

Ich brauchte ganz dringend ein Tier. Eine neue Katze. Unsere Vierfarbkatze mussten wir abgeben an einen Bauernhof. Sie liess sich partout nicht von ihrem Klo überzeugen und machte hin, wo sie gerade lustig war. Sie war zu alt, als wir sie aufnahmen und konnte an ein Leben in der Stube nicht mehr gewöhnt werden. Das kostete uns eine Teppich und letztendlich die Katze.

Also machten wir uns auf zum Tierheim. Nun bin ich eher der Typ, der Wert darauf legt, von einem Tier akzeptiert zu werden und nicht einfach zu nehmen, was meinem Auge entspricht. Das Auge kann trügen, dass Herz nicht und Tiere nehmen es mit der Sympathie gewöhnlich sehr genau. Natürlich spielte auch das Aussehen eine Rolle, aber das musste ich ja nicht zugeben, schon gar nicht gegenüber einer eigenwilligen Katze. Ich versuchte diesen Gedanken also so gut es ging zu verstecken und kehrte meine biologische Seite heraus. Viele Katzen nahmen dies zur Kenntnis und ignorierten mit schlichtweg. Und dann kam sie. Die wunderbarste Katzenlady der Welt. Mandy schoss es mir durch den Kopf. Ich verbinde aus irgendeinen Grund diesen Namen mit Mandelaugen und genau die hatte sie. Dazu ein schwarzes, seidiges Fell mit weißen Unterbauch und weißen Pfoten. Den Schwanz aufrecht, stolzierte sie auf mich zu. Ich setzte mich auf den Boden, was sie zur Aufforderung nahm, sich in meinem Schoß bequem zu machen. „Die ist es wohl!“, sagte meine Frau und bevor sie den Satz richtig zu Ende sprechen konnte, stand mein Entschluss fest. Ich war in diese Schönheit bis über beide Ohren verliebt und Mandy wusste das auch. Sie schnurrte zustimmend. Eine Stunde später waren wir zu Hause. Sie inspizierte die Wohnung, ging aufs Katzenklo und fand zielsicher die kleine, zurecht gelegte Decke im Schlafzimmer, rollte sich hinein und schlief. Ich war fassungslos, hatte ich doch ein neugieriges Umhersuchen erwartet. Nichts. Ich machte mich in die Küche und bereitete aus rohem Fleisch verschiedene Katzengerichte zu. Es gab damals kaum Katzenfutter und  ich wollte sie verwöhnen.

Am nächsten Tag stand mein Futter ungenutzt in der Küche. Sie hatte es verschmäht. Ich war frustriert. Sie lag auf ihrer Decke und schlief. Ich streichelte sie sacht, sie bewegte sich nur wenig und schnurrte. Ihr Katzenklo war benutzt. Ich war ein wenig beruhigt. Vielleicht muss sie sich an das Futter nur gewöhnen. Im Katzenhaus hatte ich vergessen zu fragen, was ich schleunigst nachholte. Ich erfuhr, dass sie schon ein paar Wochen nur schlecht fraß und keiner wusste so recht warum. Mandy war vier Jahre, eine wichtige Information. In meiner Euphorie hatte ich nicht daran gedacht, etwas zu erfragen. Sie war abgegeben worden aus unbekannten Gründen. Einen Tierarzt hatte sie im Katzenhaus nicht gesehen, weil ich darauf bestand, sie mitzunehmen. Kein Mensch der Welt hätte mich daran hindern können. Sie hatte sich in mein Herz eingefressen und wen ich dort einschließe, den lasse ich nur schwerlich wieder los.  Das war schon immer ein Problem.
Ich brachte sie zum Tierarzt, inzwischen war schon eine Woche vergangen. Sie schlief viel, kam zu mir in die Stube, kuschelte und schnurrte, fraß ein paar Brocken und schlich zurück zu ihrem Platz. Manchmal setzte ich mich zu ihr und streichelte sie nur einfach. Ich erzählte ihr alles, was ich über Katzen wusste und schilderte ihr meinen verzweifelten Kampf um einen Hund, den ich verlor. Sie wusste mehr über mich, als ich über sie.
Der Tierarzt impfte sie nach allen Regeln der Kunst und machte mir Vorwürfe, dass ich zu spät gekommen sei. Ja, Gott, was wusste er schon von meiner Zeit und sie hatte ja auch nichts.

Ach, das wird schon wieder. Zu Hause verwunderte mich Mandy immer mehr. Sie hatte kein Interesse für die Wohnung, spielte nicht, suchte aber ständig meine Nähe, allerdings immer nur für einen kleinen Moment. Das war seltsam und ungewöhnlich. Eines Tages holte mich meine Frau zum Katzenklo. Zwischen dem Kot lagen kleine Plättchen, die mir bekannt vorkamen. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ein Bandwurm. Blitzartig wurden mir die Symptome bewusst. Mandy war nicht uninteressiert, sondern sie hatte Schmerzen und war geschwächt. Wir hatten sie gegen Würmer geimpft, aber dieser Bandwurm hatte schon Finnen abgekapselt und die wanderten durch den Körper zur Lunge, zum Gehirn. Ich hasste mich. In meiner grenzenlosen Liebe zu dem Tier hatte ich die primitivsten Dinge übersehen, habe nichts erfragt, bin zu spät zum Tierarzt gegangen. Tierarzt! Ich beschloss sofort aufzubrechen, schnappte mir Mandy und ein paar von diesen Plättchen. Der Tierarzt hielt mir mit ernster Miene einen Vortrag über Bandwürmer und die Einhaltung von Regeln beim Erwerb einer Katze. Mir war sein Gequatsche egal, er sollte Mandy behandeln und nicht mich.

 

Ich wich nicht mehr von Mandys Seite: Nach der Arbeit saß ich bei ihr, streichelte sie, gab ihr die Medikamente. Sie schnurrte fast unentwegt. Ich war sicher, dieses Tier gesund zu pflegen. Meine Frau mied mich in dieser Zeit, ging mir aus dem Wege. In der Schule waren meine Gedanken ständig bei Mandy, ich hatte kaum noch Zeit für meinen Minizoo, der im Aufbau begriffen war. Ich strebte so schnell wie möglich zu meiner Katze nach Hause. Sie wurde immer apathischer. Eines Tages kam ich nach Hause. Meine Frau empfing mich traurig. „Mandy ist gestorben.“ In mir krampfte sich alles zusammen. „Sie hat die ganze Wohnung nach dir durchsucht und kam zu ihrer Decke zurück. Ich nahm sie in die Arme und sie starb.“

Mandy lag auf ihrer Decke, als ob sie schlief. Ihr Fell war so sanft. Ich hatte sie auf dem Gewissen, meine verdammte Liebe hatte sie nicht beschützt, sondern getötet. In mir gab es einen Knacks. Ich bin Biologe, ausgebildet, habe die Diplomarbeit über Kleintiere geschrieben und bei ihr jämmerlich versagt. Ich habe mein Herz über mein Wissen gestellt und sie damit zu spät behandeln lassen. Ich fühlte mich jämmerlich, nahm das tote Tier und begrub es allein. Meine Frau sagte, ich war drei Stunden unterwegs. Ich wusste es nicht und wollte diesen Tag streichen. Noch heute seh ich sie ganz deutlich vor mir, ihre mandelförmigen Augen, ihr samtweiches Fell. Da ich gerade einen Minizoo aufbaute, schwor ich mir, mich mehr auf mein Wissen zu verlassen, als auf meine Gefühle, was bei so vielen Tieren sowieso nicht ging. Ich wusste noch nicht, dass auch mein Wissen  versagen konnte, aber das ist eine andere Geschichte. Die von Mia, einer sehr jungen Katze, die mich viel Kraft und Tränen kostete. 

Ein Wasserwechsel für mein Aquarium ist mal wieder fällig. Ich bereite alles vor: Schlauch, Eimer, das Übliche. Tausendmal probiert, nie ist was passiert. Routine eben. Ich hebe den Aquariumeckel ab, er verkantet sich. Ich zerre nach links, ich zerre nach rechts. Nichts tut sich.  Ich werde wütend, mache einen großen Schritt nach vorn, um mich zu stabilisieren und steh in einem Eimer drin, ausgerechnet das 5l Ding. Er hängt am Fuß fest. Immerhin habe ich den Aquariendeckel abgehoben und eine Lampe fällt raus. Zu doll geruckelt. Ich versuche jetzt methodisch und ruhig vorzugehen und die nächsten Schritte klug zu durchdenken. Doch der Wasserschlauch ist auf einmal weg. Wo ist der verdammte Schlauch? Eine meiner Katzen hat ihn zum Spielen entdeckt und weggezerrt. Ich hasse Katzen.

Ich nehme den Schlauch an mich. Marlow, unser schwarz-weißer Kater, spielt wieder mit dem Ende. Ich will gleichzeitig saugen und schimpfen, habe das Fischwasser im Mund und verschlucke mich. Also das ganze nochmal. Endlich ist ein Eimer fast voll. Milow interessiert das kreisende Wasser im Eimer.

Er will es fangen, springt in den Eimer, der Eimer kippt um, der Teppich ist nass, meine Strümpfe nunmehr auch. Der Kater sieht jämmerlich aus, ist feucht und ich kenne kein Mitleid, jetzt nicht. Ich versuche das Wasser aufzutitschen, verliere aber dabei das Gleichgewicht. Es reicht, nun ist der Hintern auch nass. Ich hole also neues Wasser, will es einfach nur ins Aquarium kippen, habe von weiterem Wechsel und Absaugen die Nase voll. Der Schwung mit dem vollen Eimer muss wohl ein wenig zu groß sein, das Wasser geht zur Hälfte außen am Aquarium vorbei, trifft den noch trockenen Marlowekater, der sich quer über den Tisch aus dem Staube macht, natürlich nicht ohne Tischdecke, Vase und diverse Gegenstände abzuräumen. Ich brauche eine Weile um aufzuräumen, die nasse Katze liegt auf meinen Papieren im Arbeitszimmer und trocknet sich. Die Papiere und Fotos kann ich vergessen.

Morgen mache ich einen neuen Wasserwechsel, ohne Katzen, die werden in einen anderen Raum. Jetzt ist Couchzeit, sprecht mich ja nicht an.

Thriller

Elena blickte misstrauisch auf die Kartons im Wohnzimmer. Ihr Mann war damit beschäftigt, die Aufschriften zu lesen. „Kirche, Schneeschanze, Tannenbäume“, murmelte er geistesabwesend vor sich hin. Sie wusste genau, was in den nächsten Stunden passieren würde, und schwankte zwischen aus dem Haus oder ins Bett gehen und fernsehen. Hier würde gleich das Chaos ausbrechen, wenn Daniel anfing, die Kartons zu öffnen. Er hatte schon den ganzen Vormittag damit verbracht, die Kartons in die Wohnung zu schleppen und alle Tische, auch den Fernsehtisch und die Regale, von den Accessoires zu befreien, die sonst dort ihren Platz hatten. Alle Jahre wieder. Immer wieder staunte sie, wie akribisch und organisiert Daniel vorging und schon Wochen vorher, ab Oktober, von seinem großen Ereignis in der Vorweihnachtszeit schwärmte. Er schien an nichts anderes mehr zu denken. Der Aufbau des Weihnachtsdorfes war in den letzten Jahren zu seinem Lebensinhalt geworden. Je mehr Daniel sich darauf freute, desto mehr hasste Elena dieses Dorf. Es war längst kein Dorf mehr, sondern eine Stadt in einem Tal mit unendlich vielen Tannenbäumen. Abends würde diese riesige Landschaft, die zwei Drittel des Wohnzimmers einnahm, ein Licht ausstrahlen, das wahrscheinlich jede Flugzeugbesatzung sehen würde, wenn es kein Dach gäbe. Der Schnee verbrauchte mehrere Packungen Watte, über 800 Figuren bevölkerten die Landschaft auf Skiern, Schlitten, in der Kirche, beim Schlittschuhlaufen, beim Skispringen. Nur die Bäume übertrafen die Zahl der Figuren. Bei den Gebäuden, ob Kirche, Weihnachtsfabrik, Stadion, Häuser, hatte Elena schon aufgehört zu zählen. Irgendwo bei 300 war ihre letzte Erinnerung. Ganz zu schweigen von den inzwischen armdicken Kabelsträngen, die sorgsam unter der Watte verborgen waren und die Häuser und Gebäude mit Licht versorgten. Sie hätte sich da nie durchgefunden. Die vielen Transformatoren stapelten sich unter ihrem Schrank, der extra auf Füßen etwas höhergestellt wurde. Eine Maßanfertigung ihres Mannes extra für das Weihnachtsdorf, so wie alles im Wohnzimmer so angefertigt wurde, dass sein Weihnachtsdorf darauf Platz fand. Da der große Esstisch vollgestellt wurde, musste in dieser Zeit in der Küche gegessen werden. In der Vorweih-nachtszeit verging kaum ein Tag, an dem Daniel nicht sein Dorf erweiterte. An die Decke hängte er sogar einen Sternenhimmel, die dafür spezielle Haken hatte. Anfangs, als sie ihn vor zehn Jahren heiratete, lächelte sie über das Weihnachtsdorf, hielt es für einen romantischen Spleen. In den Jahren danach musste sie mit ansehen, wie das Wohnzimmer umgestaltet wurde und seine Weihnachtsdorf ins Unermessliche wuchs. In den letzten Jahren überkam sie eine Art Grauen, sobald Daniel im Herbst anfing, Kataloge zu wälzen, um sein Dorf zu vervollständigen. Für Elena war es schon eine Megaweihnachtscity. Von da an schien auch Elena für ihn nur noch Luft zu sein. Er vernachlässigte sie einfach und die Zärtlichkeiten hörten plötzlich auf. Seine ganze Liebe schien in diesem verdammten Dorf zu sein.

Wie schön waren einst die gemeinsamen Weihnachtstage, als noch Besuch kam, der jetzt aus Platzmangel ausblieb, als das Dorf auf einem Buffet stand und sie den großen Tisch zum gemeinsamen Essen nutzen konnten. Ihr Gespräche drehten sich damals um die schönen Dinge des Lebens, und Daniel hatte auch ein paar liebe Worte für sie. Elena schaute ihm zu, als er den ersten Karton mit Gebäuden öffnete. Die Kartons waren riesige Umzugskartons, die er im Wohnzimmer und auf dem Balkon gestapelt hatte. Heute hatten sie zum letzten Mal vor Weihnachten an ihrem Wohnzimmertisch gesessen, bevor ihr Mann ihn in einen Teil seiner Weihnachtsstadt bebauen würde. Sie hatte eine Gänsehaut, und in ihr stieg ein unbändiger Hass auf, der sich im Laufe der Jahre langsam, aber sicher nicht nur auf das Weihnachtsdorf, sondern auch auf Daniel übertrug. Wenn Elena an die nächsten zehn Jahre dachte, wurde ihr schwindelig und sie glaubte, dass sich ihre ganze Wohnung in eine einzige Weihnachtsstadt verwandeln würde, in der sie mit Schneeflöckchen-Weißröckchen und Kling-Glöckchen-klingeling gefangen gehalten würde. Sie musste etwas tun. Dringend, sonst würde sie verrückt werden. „Wir gehen nachher in die Stadt“, strahlte Daniel und legte sorgfältig ein Haus auf die gezeichnete Unterlage. „Ich habe etwas ganz Neues gesehen.“ Elena erstarrte. Nicht schon wieder! „Muss das sein, reicht es nicht jetzt?“, versuchte Elena zu protestieren. „Ich brauche ein paar neue Schuhe.“ „Deine Schuhe laufen nicht weg, aber die Weihnachtsbäckerei gibt es nicht so oft. Da müssen wir zuschlagen.“ Daniels Antwort klang wie ein Befehl und ließ keinen Zweifel daran, dass er von diesem Gedanken nicht abzubringen war. Elena sah ihren Mann an und wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war. Sie versuchte es mit Tränen, schrie ihn an, aber alles prallte an ihm ab. Selbst als sie letztes Jahr mit der Scheidung drohte, war seine einzige Antwort: „Ich kann in deinem Arbeitszimmer dann weiterbauen“. Sie konnte ihn auch nicht so einfach verlassen, weil er das meiste Geld verdiente und vor allem, weil er als Tischlermeister fast alles in der Wohnung allein baute, auch wenn es letztlich seinem Hobby diente. Als Halbtagskraft würde ihr nicht viel bleiben. Insgeheim hatte sie in ihren Träumen auch schon an Mord gedacht, indem sie ihn mit seinen eigenen Lichtkabeln erdrosselte. Aber das brachte sie einfach nicht fertig. So fügte sich Elena in ihr weihnachtliches Schicksal. Daniel bemerkte nicht einmal, dass Elena Tränen über das Gesicht liefen. Er trug in der Vorweihnachtszeit seine Weihnachtspullover, 24 Stück, für jeden Tag einen. Alle hatten irgendwelche kitschigen Weih-nachtsmotive, die einfach nur albern waren. Heute lächelte sie ein Rentier mit roter Nase an. „Scheiß Rudolph”, dachte sie. “Lass uns in die Stadt gehen”, befahl Daniel und zog seinen roten Mantel und die schwarzen Stiefel an. Am peinlichsten ware seine Weihnachtsmütze, die er sich aufsetzte. Elena kleidete sich ebenfalls traurig an. Sie hasste Daniel, sie hasste diesen Tag, sie hasste Weihnachten.

Elena war den Tränen nahe, als sie wieder zu Hause ankamen. Sie hatte sich die ganze Zeit wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Daniel schleppte sie durch die halbe Stadt, rannte von einem Geschenkeladen zum nächsten, um etwas für sein verdammtes Weihnachtsdorf zu ergattern. Unterwegs blieb nicht einmal Zeit für ein anständiges Essen, eine Bockwurst musste reichen, von Gemütlichkeit und Weihnachtsstimmung keine Spur. „Zu Hause ist es gemütlicher, da ist Weihnachten pur“, antwortete er lakonisch auf ihre vorsichtige Frage nach einem Essen in einer Gaststätte. Freudestrahlend hielt er nun zwei Tüten in der Hand, die er sofort in sein Weihnachtswunderland schleppte, um sein Horrorkabinett zu erweitern.  Elena schluckte sich, als sie einen Blick in das Wohnzimmer warf, in dem Daniel emsig sein Weihnachtsdorf oder besser seine Weihnachtsmegacity aufbaute. Ihr wurde schwindelig und alle Figuren im Dorf schienen sie hämisch anzugrinsen. In der Küche sah sie ihren Messerblock und griff nach dem langen Brotmesser.

Daniel erschrak, als Elena plötzlich vor ihm stand. Mit großen Augen schaute er sie ungläubig an. In der Hand hielt Elena eine Schüssel mit Keksen, die sie ihm anbot. „Das ist aber nett“, freute er sich.  „Weißt du, wenn ich hier fertig bin, darfst du dir etwas wünschen, sofern ich es dir erfüllen kann und es nicht zu teuer ist.“ ‚Natürlich‘ dachte sie grimmig, ‚Ich kenne deine Geschenke. Es darf nie mehr als 20 Euro kosten. Ich hasse dich und wünschte, du würdest mit deinem Dorf verschwinden.’ Daniel grinste immer noch und kaute genüsslich an einem Keks. Elena beschloss, sich ins Schlafzimmer zurückzuziehen und ein wenig fernzusehen, um sich abzulenken. Tatsächlich verstand sie den Inhalt des Programms kaum, war in Gedanken versunken und schlief bald ein. Es war schon spät, als Daniel zu ihr ins Bett kroch und fröhlich rief: „Schatz, ich bin fertig. Willst du mal sehen?“ Elena zog sich die Decke über den Kopf und murmelte etwas von Müdigkeit. „Du kannst einem die schönste Freude verderben, du alter Weihnachtsmuffel.“ Verärgert legte sich Daniel hin. ‚Fahr zur Hölle‘, dachte Elena und schlief wieder ein.

Als Elena aufwachte, war es bereits Morgen. Der Baum vor ihrem Fenster war mit Schnee bedeckt. Irgendwie hatte sie Angst, aufzustehen, wenn sie daran dachte, wie es in ihrem Zimmer aussah. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, erhob sich langsam und stellte irritiert fest, dass Daniel entgegen seiner Gewohnheit vor ihr aufgestanden war.  Sie lauschte, aber kein Duschgeräusch oder ein anderer Laut drang an ihr Ohr. Elena sah sich in der Wohnung um. Daniel war nicht da. Seine Schuhe waren vollständig vorhanden, auch die schwarzen Stiefel waren da. Sein roter Mantel hing am Haken, die Aktentasche stand an ihrem Platz. Er hatte ja auch Urlaub genommen, wie immer um diese Zeit. Elena war verwirrt und blieb es den ganzen Tag lang. Daniels Handy lag ebenfalls an seinem Platz im Flur. Sie rief seine Freunde und seine Eltern an, aber niemand hatte Daniel gesehen. Nicht, dass sie ihn besonders vermisst hätte, aber es war schon merkwürdig, und barfuß, ohne Schuhe und Mantel konnte er bei diesen Minusgraden wohl kaum die Wohnung verlassen haben. Am Abend rief sie endlich die Polizei an, die in den nächsten Tagen intensiv suchte und ermittelte. Daniel blieb verschwunden, obwohl die ganze Nachbarschaft auf den Kopf gestellt wurde und Elena endlose Fragen über sich ergehen lassen musste. Aber sie konnte ihr nichts nachweisen. Irgendwie fühlte sie sich befreit und beschloss, das ganze Weihnachtsdorf zu verkaufen. Sie machte eine öffentliche Anzeige, hängte Zettel an die Bäume und hoffte, dass eine Woche vor dem Fest doch noch jemand dieses oder jenes kaufen würde. Der Preis war ihr im Moment eigentlich egal.

Einige Leute kamen tatsächlich, bestaunten das Weihnachtsarsenal und kauften dieses und jenes. Langsam leerte sich die Stube und Elena atmete auf. Es war schon spät, als es noch an der Tür klingelte. Um diese Zeit hatte sie eigentlich keine Käufer mehr erwartet, stand doch auf dem Zettel bis 18:00 Uhr. Inzwischen war es aber schon 19:00 Uhr. Für einen Moment dachte sie mit Schrecken daran, dass es Daniel sein könnte.  Vor seinem plötzlichen Auftauchen hatte sie wirklich Angst, hatte sie doch fast das ganze Dorf verkauft. Vorsichtig öffnete sie die Tür und vor ihr stand eine Frau mit zwei Kindern. “Entschuldigen Sie die späte Störung”, sagte die Frau schüchtern, “aber wir kommen gerade aus dem Urlaub. Meine Kinder haben mich her geschleift, weil sie selbst ein kleines Weihnachtsdorf haben. Vielleicht gibt es ja noch etwas.” Elena war unglaublich erleichtert. „Ja, sucht euch was aus, es ist noch was da.“, forderte sie die Kinder auf, die sofort in die Stube liefen. Die Frau strahlte: „Aber nicht so viel, wir sind knapp bei Kasse.“ „Wir werden uns schon einigen”, meinte Elena “Kommen Sie in meine Küche, ich habe noch etwas Lebkuchen und eine Tasse Tee.“ Die beiden Frauen setzten sich in die Küche und unterhielten sich, während die Kinder die Reste des Dorfes durchsuchten. Nach einer Weile kamen sie mit zwei Häusern, Tannenbäumen, einem Kindergartengebäude und verschiedenen Figuren zurück. „Oh, so viel, was kostet das?“ fragte die Frau erschrocken. Bevor Elena etwas sagen konnte, unterbrach sie der Junge: „Schau mal, Tante, die Figur ist komisch. Obwohl draußen Schnee liegt, ist der Mann barfuß und hat keinen Mantel an“ Elena nahm die kleine Figur und ihr stockte der Atem. Der kleine Mann sah ängstlich aus und trug einen Rentierpullover mit Rudolph. Das Gesicht der Figur war, sie konnte es kaum glauben, ihrem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. „Und wie viel soll das kosten?“, fragte die Frau vorsichtig. Sie schaute Elena an, die immer noch wie versteinert dasaß. “Wissen Sie was! Es ist fast Weihnachten, ich schenke es Ihnen.“ Die Frau und ihre Kinder bedankten sich überschwänglich. „Danke, welch eine Freude, ich hoffe, ihre Wünsche gehen auch in Erfüllung“. “Ja”, sagte Elena, “Mein Mann hat mir schon meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt”. „Welch ein guter Mann!“, freute sich die Frau beim Abschied. 

Elena lächelte zufrieden. Es würde das schönste Weihnachtsfest seit langem sein.

Der alte Mann liebte diese Morgen an seinem kleinen See. Schilf, Enten, Schwäne, viel Ruhe. Wenn bei Sonnenaufgang der Nebel kam, war es Zeit, sich seinen Gedanken zu widmen. Insgeheim nannte er das Kopfrauschen. Er hätte viel zu erzählen gehabt, wenn es noch jemanden gegeben hätte, der ihm zugehört hätte. Seine Frau war gestorben, er war im Rentenalter, sprach höchstens noch mit seinem Hund. Das Erfrischendste in seinem Leben war ein Eis, das er sich alle zwei Tage gönnte, ansonsten war menschliche Kälte sein Lebensinhalt. Etwas Wärme spendeten ihm seine 3D-Figuren, die ihm nach über 65 Jahren Leben geblieben waren, und dieser See. Der alte Mann war sein Leben lang aktiv gewesen, hatte viele Spuren hinterlassen, aber die Spurenträger lebten ihr eigenes Leben. In vielen Vereinen war er gewesen, vieles hatte sich verändert. Wie sehr er sich auch mühte, die Zeit war gegen ihn. Die einen starben, die anderen entzogen sich dem Vereinsleben. Die besten Freunde verstreuten sich in alle Winde, jung an Jahren und hungrig nach Leben. Er hatte alles getan, um diesen Prozess aufzuhalten und spät erkannt, dass er ihn nicht aufhalten konnte. So blieb am Ende eine Katze, seine Vergangenheit, seine 3D-Bilder. Irgendwann resignierte er und fand nichts mehr wichtig. Natürlich kannte er sein Selbstmitleid, aber wenn er im Wohnzimmer saß, freute er sich über ein paar kurze Gespräche mit seinen Freunden per Telefon oder WhatsApp. Sein Arbeitszimmer schmückte er immer noch mit den Bildern aus der Vergangenheit und eine Atmosphäre mit Kerzen fand er erotisch. Der alte Mann lachte. Erotisch, so ein Unsinn.

„Onkel. Warum lachst du?“ Ein kleines Mädchen zupfte an seinem Mantel. Neben ihr stand wohl die Mutter und zuckte lächelnd mit den Schultern. „Ich habe gerade daran gedacht, als ich noch jünger war. Da hatte ich eine unbändige Lust zu leben“, er tippte der Kleinen mit dem Finger auf die Nase, „…und zu lachen.“ „Und das ist jetzt vorbei?“, fragte die Mutter fast besorgt. „Nein, nein“, versicherte der Alte, „wenn man dem Horizont des Lebens begegnet, ist es manchmal schwer, dann ist nicht mehr viel da, mit dem man hemmungslos leben kann. Die Knochen sind alt.“ „Schau“, quietschte das kleine Mädchen und blickte auf den See, „der Schwan, er kommt auf uns zu.“ Der Alte griff in seine Manteltasche, holte ein Stück altes Brot heraus und gab es dem Mädchen. „Hier, probiere mal, das wird ihm schmecken.“ Das Mädchen lachte und warf dem Schwan kleine Stücke zu, der sich ihr näherte. Der alte Mann trat zurück und beobachtete das Geschehen. Die beiden waren so in die Fütterung vertieft, dass sie ihn schon vergessen hatten. „Wie im Film“, plapperte das kleine Mädchen, „da haben die Tiere die Menschen geliebt. „Ja, ich weiß“, sagte die Mutter, „der Truthahn, der riesige Wal, das Nilpferd“. Die Mutter machte dicke Backen und beide lachten. Der alte Mann erinnerte sich und vergaß, dass er keine Kinder hatte. Er erinnerte sich nicht und fühlte die morgendliche Kälte. Man müsste ein Tier sein, dachte er, dann würde man ein paar Streicheleinheiten bekommen. Er hatte das erwähnte Video gesehen, hatte es ausgeschaltet, weil es ihn nicht interessierte. Er wusste, dass es eine Lüge war, aber er wollte seinen Gefühlen nicht nachgeben, das hatte ihm noch nie geholfen. Aber der Wunsch überkam ihn sofort. Es war ihm unangenehm. Das kleine Mädchen streichelte den Kopf des Schwans, der sich das seltsamerweise gefallen ließ. Vielleicht war er einsam.

Das Mädchen schaute sich um. „Schau mal, Onk… Wo ist denn der Opa?“, fragte sie erstaunt. Die Mutter zuckte mit den Achseln. „Ach, den habe ich ganz vergessen. Der ist bestimmt nach Hause gegangen oder zu seiner Frau und den Kindern. Er schien ja sehr kinderlieb zu sein. Wer weiß?“ „Und warum hat er seinen Hut hiergelassen?“, fragte die Kleine. Sie wollte danach greifen, aber die Mutter war schneller und hob ihn auf. Im selben Moment stieß sie einen entsetzten Schrei aus, der selbst den Schwan in die Flucht schlug. „Iiih, eine hässliche Kröte, fass die bloß nicht an. Die können giftig sein.“ Mit einem Fußtritt beförderte sie das Tier in den Teich. „Leben in dem Teich Kröten?“, fragte die Kleine traurig. „Ich weiß es nicht! Komm, wir gehen nach Hause, wir haben den schönen Schwan gesehen. Das war doch toll, oder?“ „Das werde ich Papa erzählen“, jubelte die Kleine.

Die Kröte war längst aus ihrem Teich gehüpft. Sie erinnerte sich. Das konnte sie am besten. Sie war allein, auch daran war sie gewöhnt. Sie suchte sich ein warmes Plätzchen und vergaß bald, wer sie war.

Raimond war es gewohnt, abends auf dem Sofa zu liegen und Zeitung zu lesen. Was sollte er sonst tun, er hatte den ganzen Tag am Computer gearbeitet. Der Fernseher lief, es war Krimizeit, seine Frau stand in der Küche und bereitete das gemeinsame Abendessen vor. Ab und zu las Raimond ihr einen interessanten Artikel vor, man übte sich im abendlichen Smalltalk über dies und das. Mit den Jahren waren beide ihrer jugendlichen Figur etwas entwachsen, was Raimond zwar bedauerte, aber sein Bewegungsdrang war nicht der allergrößte. Seine Frau war inzwischen fertig, brachte das Abendessen und setzte sich. Beide achteten sorgfältig darauf, sich nicht unnötig zu berühren, wie sie es wohl schon seit vielen Jahren taten. Aber Raimond brauchte das tägliche abendliche Ritual, um mit jemandem sprechen zu können. Das war so und würde so bleiben, bis der Tod sie beide in seine stummen Arme nahm. Raimond hatte alles, was das Leben an Geld und anderen Dingen zu bieten hatte, er war zivilisationssatt.  Und doch schlummerte tief in ihm eine Sehnsucht nach mehr, eine Sehnsucht nach Berührung, eine Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die es hier zwischen Zeitungslesen, Abendessen und Small Talk nie gab. Seine Frau plauderte munter vor sich hin, erzählte von ihren Kollegen, deren Namen Raimond schon lange kannte. Amüsiert dachte er plötzlich an ihren Nachttisch, wo er zufällig zwei Dildos gefunden hatte. Er beneidete sie um diese Möglichkeit der Befriedigung, die ihm so gänzlich verwehrt blieb, da er durch die lange Entwöhnung nichts mehr mit seinem besten Stück anzufangen wusste. Man hatte ihm gesagt, dass regelmäßiges Training ihm helfen könnte, seine Schwellkörper wieder zu aktivieren, aber er war nicht der Typ, der sich „runterholen“ ließ. Er mochte eher das Sinnliche, das Sanfte, das Langsame, diesen Tantra-Effekt, bei dem das beste Stück eine sanfte Behandlung erfährt. Das konnte er sich nicht leisten. Er hatte es nur zweimal in seinem Leben erlebt. Es war, wie bei anderen, eine Massage des Rückens und des Bauches, aber da es sich um einen besonderen Teil des menschlichen Körpers handelte, konnte er niemanden finden, der ihm diesen „unanständigen“ Wunsch erfüllen konnte. Das wurde sofort mit Sex in Verbindung gebracht, obwohl jedes Lehrbuch etwas anderes sagen würde.

Seine Frau hatte das schon in ihren erotischen Zeiten nicht verstanden, und er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand diesen Wunsch überhaupt verstand. Eher konnte man rumhuren, ins Bordell gehen, das war nicht so pervers wie seine Wünsche.

 

Längst hatten die beiden aufgehört, sich mit solch obszönen Gedanken zu beschäftigen. Sexuell waren sie geschlechtslose Disneyfiguren oder bestenfalls Schlümpfe. Oft wälzte er sich im Bett und war zutiefst betrübt über seinen berührungslosen Zustand. Raimond konnte seine Frau nicht mehr berühren, seit sie ihn eines Tages brüsk aus dem Bett verjagte, vertrieben hatte, weil er etwas ausprobieren wollte. Es war an ihrem Geburtstag, als er mit einem Sektfrühstück in ihr Herz und zugegebenermaßen auch in ihr schönes Geschlecht schleichen wollte. Doch der zaghaft geäußerte

zaghaft geäußerte Wunsch nach etwas Oralverkehr und die Berührung an der falschen Stelle

zu einem lebenslangen Totalausfall ihres Liebeslebens. Natürlich hatte er sich bei Prostituierten versucht, aber auch das war eher peinlich und führte zu nichts. Er war nicht der Typ dafür, er mochte eine Art von Berührung und Zärtlichkeit, die ihm diese Frauen nicht geben konnten und wollten. Im Gegenteil, er machte sich lächerlich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dieses Ritual aus Zeitung, Abendessen und Fernsehen am Abend zu wiederholen. Das stürzte ihn oft in tiefe Depressionen.

 

“Hast du dir schon einen Film ausgesucht?“, fragte seine Frau, und bevor er antworten konnte, nahm sie die Fernbedienung und wählte sich selbst einen Film aus. Es war einer dieser Liebesfilme, die er sowieso nicht mochte, weil sie ihm zeigten, wie schön die Liebe sein konnte, an der er nicht mehr

nicht mehr teilhaben konnte. Während der Bettszenen vertiefte er sich in seine Zeitung.

„Guck mal, den würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen“, provozierte sie.

„Schön für dich.“

„Das Mädchen ist auch hübsch. Hat nur einen kleinen Busen.“

„Sehr interessant.“

„Du liest nur, vom Film bekommst du nichts mit.“

„Vom Leben bekomme ich auch nichts mit.“

„Was soll das heißen?“

„Es ist schön zu sehen, wie es zwei machen.“

„Du willst nicht mehr.“

„Um wieder aus dem Bett geworfen zu werden?“

„Das ist altmodisch. Außerdem war dein Wunsch eklig.“

„Ich habe immer Oralsex mit dir gemacht und du hast es geliebt.“

„Das ist was anderes, aber so ein Schwanz ist eklig.“

„Haut, nichts als empfindliche Haut.“

„Wir leben gut.“

„Ja, wir leben. Aber es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe.“

„Ach, du mit deinem Sex, Entschuldigung Eroootik. Das war schon zu viel.“

„Was zu viel? Ich dachte, es hat dir gefallen?“

„Ich habe dir zuliebe nichts gesagt. Aber ich hab rumgemacht. Ich hatte auch meine Fantasien.“

„Ach so, welche denn?“

“Na ja, so wie in dem Film “Fifty Shades of gray”. Das war prickelnd, oder mal so richtig genommen zu werden, ohne Gedichte, ohne die Kerzenflut und ohne Sektfrühstück.“

„Das haut mich um, du hast nie was gesagt.“

„Das konntest du doch gar nicht, mit deinem Gefühlsquatsch. Du wolltest doch nur mit der Zunge an die Muschi ran.“

„Aber, aber ich dachte …“

„Ist doch egal, so was brauchen wir nicht mehr, das ist was für die Jugend. Und du hast ja deine Pornos.“

„Was für Pornos?“

„Naja, ich habe gesehen, wie du dir so was angeschaut hast. Da war ganz groß eine offene Muschi auf dem Bildschirm. Das ist doch eklig.“

„Ich hab ein bisschen recherchiert.“

„Recherchiert nennt man das? Haha. Ja, ich weiß, für deine Prostituierten. Oder meinst du, ich weiß nicht, dass du beim Bordell geparkt hast, des Öfteren.“

„Ich? Beim Bordell geparkt? Du spinnst doch. Ich hatte in der Nähe etwas zu erledigen.“

„Klar. Ist doch logisch.“

„Verdammt, ich war bei keiner Prostituierten, das kann ich nicht.“

„Klar, das sagen alle Männer. Was denn sonst. Guck du doch deine Pornos, ich will das nicht sehen. Das finde ich pervers in deinem Alter. Recherche, klar, du hast damals bei mir recherchiert, das war für mich schon unerträglich.“

„Was redest du da? Du hast es gewollt, es hat dir gefallen. Warte mal.“

 

Raimond kochte, in seinem Kopf drehte sich ein Karussell der schlimmsten Art. Was redete sie da für einen Unsinn? Er holte eine Mappe mit Briefen und blätterte sie durch. Dann las er vor: „Es war eine wunderschöne Nacht mit dir. Die vielen Kerzen und dann noch die Gedichte. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liebe dich dafür.“ Er kramte und fand ein neues Blatt: „Ich weiß, wie hungrig du bist, wenn du in die Ferien kommst. Dass du dann so schön an mir knabberst und dir auch unter rum viel Zeit nimmst, gefällt mir sehr. Das tut gut, bitte mehr davon und alles schöööön langsam. Das hast du mir selbst geschrieben.“

„Hör auf, Raimond, ich will das nicht mehr hören, das ist fast 40 Jahre her. Ich war jung, du hattest Geld, da bietet man sich an. So ist das. Aber mir hat der Kick gefehlt, den du nie wolltest, der starke Mann, das bist du nicht. So was Weiches will keine Frau auf Dauer. Ja, am Anfang war es auch schön, aber heute würde ich darüber lachen. Wirf das Zeug weg, das ist nur noch Müll. Ich will nicht mehr darüber reden.“

„Aber im Film…?“

„Du hast deine Pornos, ich habe meine schönen Filme.“

Raimond saß mit gesenktem Kopf da. Sein Leben, seine Liebe waren soeben zerstört worden. Er schob den Ordner zurück in sein verstaubtes Regal, strich mit der Hand darüber und Tränen rannen ihm aus den Augen. Das war es, was ihm am Ende seines Lebens geblieben war? Er wollte schreien, heulte hemmungslos, und in seinem Kopf hämmerte der Satz: „So etwas Weiches will keine Frau auf Dauer.“ Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte, dann setzte er sich auf die Couch und las weiter in der Zeitung. „Du hast recht, wir sollten nicht mehr über so einen Quatsch reden“, sagte er noch, und seine Frau nickte. Er hatte wohl verstanden.

Wolter schielte aus dem Fenster. Er hatte gerade Mittagsschlaf gehalten, als er die Sirenen des Krankenwagens und des Polizeiautos hörte. Was war bei den Nachbarn los? Er kannte Raimond schon lange und nie war etwas passiert. Ein blauer BMW fuhr vor und die Schranke öffnete sich. Ein grauhaariger Mann stieg aus und musterte die Umgebung. Wie zufällig blickte er in Wolters Richtung, der sich ertappt fühlte und sich schnell vom Fenster entfernte. Wolter ahnte, dass es sich um einen Kriminalbeamten handelte. Was war mit Raimond los?

Manuel, von Beruf Kriminalpolizist, musterte die Umgebung. Es war eine normale kleine Siedlung, unauffällig und gediegen. Nichts Besonderes. Er war hierher gerufen worden, wegen eines unnatürlichen Todes. Noch wusste er nicht, was passiert war. Überall liefen Leute von der Spurensicherung herum. Manuel verschaffte sich einen Überblick und betrat die Wohnung. Ein Beamter führt ihn ins Schlafzimmer. Was er sieht, erstaunt ihn. Das ganze Zimmer war voll mit kleinen Teelichtern, die zum Teil noch brannten. Auf dem Bett lag eine nackte, korpulente männliche Leiche, aus deren Mund Papierfetzen quollen. Das Gesicht war tränenverschmiert. In den verkrampften Händen befand sich beschriebenes Papier. Um seinen Penis war ein rotes Band gebunden, an dem ein Geschenkzettel mit einem Kussmund und einer Hand hing. Auf dem einen Oberschenkel stand mit Permanentmarker „Was ist passiert?“, auf dem anderen „Berührungslos“. Eine Frau in einem weißen Kittel untersuchte die Leiche. Sie bemerkt Manuel, der fragend auf den Toten zeigt. „Seltsam. Der Typ ist erstickt, weil er Unmengen von Papier in sich hineingestopft hat. Es sind Liebesbriefe, Tagebuchaufzeichnungen, die er vor über 40 Jahren an seine Frau geschrieben hat oder die sie ihm geschrieben hat. Was die Sätze bedeuten und die komische Schleife und die vielen Kerzen, das muss man die Frau fragen. Es sieht fast romantisch aus. Ich weiß es auch nicht. Die Frau sitzt im Wohnzimmer und versteht die Welt nicht mehr. Fremdeinwirkung kann ich ausschließen, eher ein unfreiwilliger Selbstmord. Mehr nach der Obduktion.“ Irgendwie schien die ganze Sache sexueller Natur zu sein, irgendwie aber auch nicht, dachte der Kommissar. Er hob mit einer Pinzette ein Stück Papier vom Boden auf und las. Seine Augenbraue zuckte erstaunt nach oben. „Wo ist seine Frau?“, fragte er den Beamten, der gerade an ihm vorbeigehen wollte. „Kommen Sie mit“, wies ihm der Beamte den Weg.

 

Raimonds Frau saß zusammengekauert und in Gedanken versunken im Wohnzimmer und schüttelte immer wieder den Kopf. Ihr Gesicht war von Verwunderung geprägt. „Sind Sie die Frau des Mannes im Schlafzimmer?“, fragte Raimond etwas unbeholfen. „Ja, ich verstehe nicht. Wir haben uns doch gestern gar nicht gestritten. Was hat er denn gemacht? Das ist alles so merkwürdig!“ Manuel sah die Frau schief an. „Er ist erstickt, an diesen Zetteln oder Briefen“, er hielt der Frau den Brief hin, den er mitgenommen hatte. Die Frau legte den Kopf schief und las, denn Manuel verbot ihr, den Zettel anzufassen. Dabei beobachtete er die Frau genau: „Es war eine wunderschöne Nacht mit dir. Die vielen Kerzen und dann noch die Gedichte. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liebe dich dafür.“ „Meint er sie damit?“, fragte er etwas streng. „Ja, aber das ist vierzig Jahre her, und es war nicht mehr“, stotterte sie.

„Nun, gute Frau, Ihr Mann scheint vor vierzig Jahren an der Liebe erstickt zu sein. Wahrscheinlich wollte er Ihnen mit seinem Geschenk mit der roten Schleife etwas sagen“, meinte Manuel sarkastisch. „Wenigstens haben Sie ein schönes Haus. Das ist doch was am Ende des Lebens, oder?“  Die Frau antwortete nicht, sondern sah ihn nur verständnislos an. Sie konnte immer noch nicht begreifen, was passiert war, warum er sie beide so unerwartet und auf so merkwürdige Weise aus ihrem Alltag herausgerissen hatte. Das war doch nicht nötig.

Nachdenkliches

Es war ein kalter Herbsttag in der kleinen Stadt. Herr Mueller, ein älterer Mann, der sein ganzes Leben lang in einem kleinen Haus am Stadtrand verbracht hatte, fühlte sich einsam und verloren. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben, seine Kinder lebten weit entfernt, und er hatte das Gefühl, dass ihm alles, was einst bedeutungsvoll gewesen war, verloren gegangen war.

An einem dieser trüben Tage hörte Herr Mueller ein leises Miauen vor seiner Haustür. Neugierig öffnete er die Tür und sah eine kleine, verängstigte Katze, die sich vor Kälte zitternd auf seinem Fußabtreter zusammengerollt hatte. Sein Herz schmerzte bei dem Anblick des einsamen Tieres, das genauso verloren schien wie er selbst.

Herr Mueller nahm die Katze vorsichtig auf und brachte sie ins Haus, wo er sie mit Wasser und etwas Futter versorgte. Die Katze schien ihm dankbar zu sein und begann, um seine Beine zu streichen und auf seinem Schoß zu schnurren. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Herr Mueller eine warme Berührung der Dankbarkeit und Zuneigung, die ihm so gefehlt hatte.

In den folgenden Tagen entwickelte sich eine besondere Bindung zwischen Herrn Mueller und der kleinen Katze. Sie folgte ihm überallhin und brachte ihm Freude und Trost in seinen einsamen Stunden. Die Katze schien zu wissen, wie sie ihren Lebensmut zurückgeben konnte, und Herr Mueller fühlte sich langsam wieder lebendig und voller Energie.

Mit der Zeit erkannte Herr Mueller, dass die kleine Katze ihm nicht nur Gesellschaft und Liebe schenkte, sondern ihm auch zeigte, dass das Leben noch so viel zu bieten hatte, wenn man bereit war, die Tür für neue Möglichkeiten zu öffnen. Zusammen erkundeten sie die Welt um sie herum und genossen die einfachen Freuden des Lebens.

Und so fanden Herr Mueller und die junge Katze einen neuen Lebensmut in ihrer gemeinsamen Freundschaft und zeigten, dass man nie zu alt ist, um wieder Freude und Hoffnung zu finden.

Ich ging wie immer in dieses Geschäft. Dort gab mir der alte Blumenhändler die schönsten Blumen. Es war wie ein Wunder. Er saß inmitten dieser wunderbaren Blumen und ich konnte nicht verstehen, warum er sie weggab. Sie waren einfach zu schön, um sie einem Fremden zu geben. Jede Pflanze schien eine Ewigkeit zu halten, er hatte eine sichere und liebevolle Hand für die Blumen.  Aber heute wollte ich ihn fragen. Fragen, warum er lächelte, wenn er die Blumen verschenkte. Sonst machte er ein freundliches, aber trauriges Gesicht. Ich wählte eine besonders schöne Blume aus. „Sie werden sie lieben“, sagte er und lächelte. „Sie ist mein ganzer Stolz, ich liebe sie sehr. Wenn etwas ist, sagen Sie es mir. Ich werde sie wieder gesund pflegen.“ Ich war gerührt. Er hatte sie mir einfach gegeben, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und ich sah ihm an, dass er dieses Exemplar besonders liebte. „Aber ich kann doch nicht…“, protestierte ich schwach. „Doch, das können Sie. Sie sind der Richtige dafür, glauben Sie mir. Ich sehe es in Ihren Augen. Pflegen Sie diese Blume, nicht zu viel, nicht zu heftig.“  Der alte Florist wandte sich ab. „Sagen Sie“, fragte ich, „warum lächeln Sie nur, wenn Sie eine Blüte abgeben? Ich beneide Sie um jede einzelne Blüte, und Sie geben mir Ihre schönste.“  Da wurde der alte Mann nachdenklich und sagte: „Ja, bei mir fühlen sich alle diese Blumen sehr wohl, sie vertrauen meinen Händen, sie vertrauen meiner Pflege, ich besorge Ihnen, was Sie brauchen, aber ich muss jede einzelne abgeben.“ „Aber warum?“ fragte ich verzweifelt. Der alte Mann nahm eine Blüte und winkte mich zu sich. „Lassen Sie Ihre Blüte einen Moment hier und kommen Sie mit.“ Ich steckte meine Blume in eine Vase auf dem Boden und folgte ihm neugierig.

Ein paar Treppen höher waren wir in ihrer Wohnung. Sie war ganz nett, aber ich spürte, dass etwas fehlte. Es gab keine einzige Blume. Der Alte ging zu einem Schrank, holte eine Vase heraus und stellte eine mitgenommene Blume hinein. Er goss Wasser hinein und nahm das Pulver, mit dem er im Laden seine wunderbaren Blumen pflegte. Und dann geschah das Unglaubliche. Die Blume öffnete sich kurz und als ob sie sich vor ihm erschreckt hätte, ließ sie augenblicklich alle Blütenblätter fallen und knickte ein.  „Sehen Sie“, sagte der Alte und lächelte. Ich habe die Gabe, Blumen zu züchten, aber sobald ich sie mit mir teilen will, gehen sie ein. Nichts auf dieser Welt ist vollkommen. Ich bin nur perfekt als Freund der Blumen, Sie sind perfekt als Besitzer. Das ist unser Schicksal.“ „Hatten Sie noch nie eine eigene Blume?“, fragte ich bestürzt. „Doch, aber das ist lange her, und sie ist auch eingegangen“, seine Stimme klang belegt. „Nicht traurig sein, junger Freund. Mir geht es nicht wirklich schlecht.“

Als ich einen Augenblick später mit meiner Blume auf die Straße trat, wusste ich, dass ich noch viele Blumen haben wollte, in meinem Zimmer, und dass ich diesen seltsamen Mann nicht vergessen würde. Ich lächelte.

Es war schön bei ihr zu liegen. Seine Finger glitten über ihre Haut und er verspürte ein leichtes Beben auf ihrem Körper. Ihre Atemzüge waren ruhig, nur manchmal zuckte sie ganz leicht zusammen. Er küsste sie leicht auf die Lippen, schmiegte sich eng an sie, schloss die Augen und träumte…

… sich auf eine große Wiese. Die Kleider, den moralischen Abstand in einer unmoralischen Welt hatten sie längst abgelegt, um nur sich zu spüren und den leicht säuselnden Wind. Alles war einfach nur wunderbar. Er glaubte, sie habe den Duft der Blumen, die hier in üppiger Pracht wuchsen, angenommen. Sie sah ihn an, mit ihren leuchtend blauen Augen und meinte in seinen Augen einen besonderen Glanz wahrzunehmen, einen Glanz den nur Verliebte wahrnehmen können. Was waren alle Worte gegen diese Augen. Sie standen auf, umarmten sich und liefen lachend über die Wiese. Ihre Wiese. Sie drehten sich und der Wald rauschte im Hintergrund am Rand ihrer Wiese an ihnen vorbei. Erleichternd und voller Liebestaumel sanken sie ins Gras. Ihre Körper verschmolzen mit der Natur, mit sich selbst…

Die Kleider lagen immer noch abseits, als sie aus sich zurückkehrten. Ohne ein Wort zu sagen, legten sie die Fetzen der Prüderie wieder an. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in der Uniform der NVA steckte. Und mit einem Mal glaubte er den Glanz aus ihren Augen weichen zu sehen. Er erfasste ihre Hände, doch sie zog sie zurück. Ohnmächtige Schauer einer aufkommenden Angst überfielen ihn. Wo war ihre weiche Haut? Sie entfernte sich langsam, ging auf den Weg zu, weg von ihrer Wiese. Er konnte ihr nicht folgen. Ihm war als sei die Uniform fest mit ihm und der Erde verwachsen. Er vermochte sich nicht zu rühren. Flehend streckte er die Hände nach ihr aus. War es denn seine Schuld? War ihr seine Liebe nicht genug. War sie es nicht wert, die eineinhalb Jahre zu überstehen? Kann denn Liebe nicht einfach nur ehrlich sein? Und dann sah er den ANDEREN. Sie hakte sich bei ihm ein. Frei wie ein Vogel, flog sie davon ins Leben. Er wand sich, wollte schreien, konnte es nicht und hemmungslos flossen seine Tränen, dort, – wo sie eben noch lagen, wo das niedergedrückte Gras noch ihre Konturen erahnen ließ. Er sank zurück in Erinnerungen, in seine Sehnsüchte, einsam, allein und voll Zorn über den Zwang der Uniform und…

…er erwachte schweißgebadet. „Was ist mit dir?“, flüsterte sie. Er erzählte von seinem Traum. „Ich brauche dich doch“, sagte sie sanft. „Es ist spät, du musst jetzt gehen.“ Widerwillig streifte er sich die Uniform über, wohl wissend, dass er in zwei Stunden in seiner harten Pritsche das Schnarchen seiner Kameraden anhören musste, seine Einsamkeit verfluchend…

Audiodatei “Der Traum”

Sprecherin: Sandy Wohlleben (www.sandywohlleben.com)

 

 

Ich hatte gestern ein seltsames Erlebnis, dass eigentlich in einer Welt der Handys, What’s up Kommunikation und Facebook-Freunde ohne Ende, völlig nichtssagend ist und vielleicht nicht mal wert ist gelesen zu werden. Unsere Mittelaltergruppe hatte bei einer Wohnungsgesellschaft einen Auftritt. Es ging um Erasmus den Kaufmann, dessen Weihnachtsware gestohlen und  mithilfe der Ritter wiedergefunden wurde. Schlussendlich wurden die zwei Säcke mit den Geschenken der Wohnungsgesellschaft unter die Kinder gebracht. Die Kleinen freuten sich riesig und bekamen eingepackte Pfefferkuchen, Weihnachtsmänner, eben Kleinigkeiten. Ich verteilte die Päckchen mit den Süßigkeiten und Kleinartikeln in Zellophan eingepackt mit meinen Mitspielern  und plötzlich stand dieser Junge vor mir, den Kopf etwas ängstlich gebeugt, die Hand hinhaltend. Ich griff in den Sack und bekam ein kleines Geschenk zu fassen, gab es ihm mit einem Lächeln und einem guten Wort. Auf seinem Gesicht zeichnete sich zu meinem Erstaunen so etwas wie Enttäuschung ab. Er schaute zu den anderen Kindern, die links und rechts neben ihm standen und ihre kleinen Geschenke auspackten. Die Päckchen der anderen Kinder waren deutlich größer als seins. Der kleine Junge, ca. 8 Jahre, schaute kurz auf sein Päckchen und hielt mir die Hand wieder hin. Ich begriff endlich, ihn interessierte nicht der Inhalt, er war von der Größe des Päckchen enttäuscht. Erst wollte ich ihm ein Neues geben, doch dann regte sich in mir Widerstand. Sind denn in einer Gesellschaft nur noch Geschenke wichtig, die teuer, groß und scheinbar wertvoll sind? Ist ein Nintendo mehr wert als ein Bastelset aus Papier? Sind wir dermaßen übersättigt, dass wir in Weihnachten nur ein Geschenkefest sehen und den tiefen Sinn völlig vergessen haben? Ich bin Lehrer und wollte meiner Klasse, in der 15-16-jährige Schüler sitzen, etwas über die Entstehung von Weihnachten und dem Weihnachtsmann erzählen, das war den meisten einfach schon zu nervig. Wir wünschen allen ein besinnliches Fest und halten nur noch die Hand auf. Ich liess in Gedanken all meinen sinnlosen Zorn an diesem einen kleinen Jungen aus, ignorierte ihn, beschenkte weiter die anderen Kinder. Er stand unbeirrt, die gesamte Zeit seine Hand ausgestreckt, fast bettelnd vor mir, in der anderen Hand seine kleine Tüte. Ich werde die bettelnde Hand nicht vergessen. Wie gesagt eine unbedeutende Geschichte, die morgen schon vergessen ist. Weihnachten – ein besinnliches Fest.

Mal zum Anfang. Jeder Mensch kann tun und lassen was er will, wenn er sich an gewisse Regeln hält und niemanden belästigt. Ich denke, dies ist oberstes Gesetz und gilt auch für Gastfreundschaft. In der Natur hat sich herausgestellt, dass ein Zuviel immer spürbar wird und der Mensch gegensteuern muss. In der Chemie kann ein Zuviel tödlich sein. Ein Zuviel an Gewitter kann Probleme verursachen. Doch in der Politik scheint diese Regel nicht zu stimmen, da wird aus einem Zuviel ein „Wir schaffen das“. Ich habe während des Studiums mit Ausländern viel zu tun gehabt, mit Peruanern, die dachten der Kommunismus wär in der DDR schon angekommen, einem südafrikanischen Studenten namens Hans, der mit den Finekostläden nicht zurechtkam, alles kaufte und den Restmonat schlichtweg schlief, weil das Geld fehlte, einem Kenianern der sich eine völlig nutzlosen Kühlschrank kaufte, weil er in seinem Dorf damit der größte war, einem gruseligen Kongolaner, der nie lächelte und einen Bodyguard hatte, Afghanen, die eigentlich politische Feinde waren und hier Freunde, einem Vietnamesen, der seine Popel aß, weil er das im Krieg irgendwie gelernt hatte und auch normale Ausländer. Es war schrullig, laut, streitbar, aber irgendwie lustig und ging niemanden auf den Keks. Selbst heute arbeite ich mit einer prima Gruppe junger Syrer zusammen, mit denen ich Filme drehe oder auch Theaterauftritte organisiere. Sie sind Teil eines Mittelaltervereins, dem ich angehöre und ich lerne viel über einen friedlichen Islam, den es auch gibt, so wie sie kein Problem hatten eine Kirche bei uns zu besuchen und mit einem Bischof zu spielen. Aber leider wird diese Lustig oder diese Gemeinsamkeit immer seltener und das Zuviel schleicht sich in unser Leben.

Nun hat Deutschland unbestreitbar viel Schuld vor einem Menschenalter auf sich geladen, wohl aber auch genug gesühnt, ob Reparationszahlungen oder Kniefall vor den polnischen Opfern. Das ist wohl wahr. Auch ist es schlimm, dass es viele Länder gibt, die unter Kriegen unsäglich leiden, warum aber wir die Schuld der Welt auf uns nehmen müssen und dann alle unbesehen zu uns lassen, was glaubt an dem Kuchen, den Trümmerfrauen und Kriegshungernde sich aufgebaut haben, teilhaben zu müssen oder wollen, ist unklar. Und dann tritt noch etwas ein, was jeder ehemalige DDR-Bürger kennt: Besser den Mund halten, als etwas sagen. Ich meine nicht die unangebrachten Meinungen, nicht rassistische oder primitives Grölen, nein, die Meinung von Menschen, die ehrenamtlich arbeiten, zum Beispiel in der Tafel. Ich selbst erlebe das Zuviel fast täglich, höre auf meiner Arbeit immer weniger Deutsch und werde bei der Ausübung meines Jobs einfach mal von verständnislosen Ausländer weggedrängt. Nun das haben auch Deutsche versucht, nur die haben bei einer Zurechtweisung nicht ihre ganze Verwandtschaft geholt. Höhepunkt war ein arabischer Typ, der auf die Frage, warum er kein Spaß verstehe, mir sagte: „Ich wollen kein Spaß von dir, ich dich nicht kennen.“, und das im vollen Ernst. Während eine Malala für Schulbildung in den Kopf geschossen wurde, fragen mich islamische Volksgenossen, wer denn die Scheißbildung erfunden hat. Einer zu mindestens schenkte mir den Koran, darin stehe auf alle Fragen eine Antwort. Die habe ich in der Tat gefunden: ich bin ein Ungläubiger und der gehört bekämpft, egal wo er sind, es sei denn er konvertiert und belügt sich und den Gott. Ich habe kein Problem mit dem Islam, ich habe ein Problem mit dem Zuviel. Ich habe kein Problem mit den Völkern, ich habe ein Problem mit dem Zuviel ihrer Kulturen, die sie nicht bereit sind anzupassen. Ich sag dabei anpassen, nicht aufgeben. Ich habe 38 Jahre gearbeitet, bin nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, muss demnächst einen Monat zu Recht! zu Fuß gehen, weil ich zu schnell fuhr, ein Schild übersah. Es sind nun mal unsere Gesetze so. Akzeptiert, auch wenn es blöd ist. Ich gehöre als braver Steuerzahler zu den weichen Zielen.

Aber ich konnte mir nie einen BMW leisten, hatte nie ein größeres Bündel Scheine in der Hand und habe nie jemanden von hinten zu dritt in den Rücken getreten, nur weil er jemanden angeguckt hat. Die Typen haben ihre Strafe bekommen! Ein paar Stunden Arbeit bei einem der Väter. Der hatte ein russisches Geschäft. Der einzige Deutsche, war der getreten Typ. Die Gerechtigkeit ist blind.  Neid? Natürlich ist das Neid, der Neid das andere die Demokratie besser ausnutzen können und bessere Anwälte haben.

Heute ist nun Ostersonntag, die Widerauferstehung Christus. Mit Deutschland hat er gemein, dass er alle Sünden auf sich genommen hat. Doch weiß ich nicht, ob er mit der Widerauferstehung nicht doch seine Probleme hat. Vielleicht wäre ihm das Zuviel geworden.

Fiktives aus Halle (Saale)

In der kleinen Salzstadt, wo die Straßen nach frisch gebackenem Brot dufteten und die Einwohner eine seltsame Vorliebe für alles Salzige hatten, war der Salzstadtclan bekannt für seine schrägen Aktivitäten. Vorsitzender Micha, ein lebhafter Mann mit einer Vorliebe für bunte Socken, hatte die grandiose Idee, die Mitgliederzahl seines Vereins zu erhöhen. „Wir brauchen frischen Wind!“, rief er eines Morgens in das leere Vereinszimmer, wo nur ein paar alte Salzstreuer und ein vergilbtes Plakat von der letzten Weihnachtsfeier herumstanden. „Lasst uns einen Rekrutierungstag organisieren!“

Am großen Tag hatte Micha alles vorbereitet. Auf dem Stadtplatz prangte ein großes Banner mit der Aufschrift „Werde Teil des Salzstadtclans – Wir sind salzig, aber nie langweilig!“ Darüber hinaus hatte er einen riesigen Topf voll Salzwasser aufgestellt, um die Leute mit einer kleinen Verkostung zu locken. Die ersten Passanten waren skeptisch. „Was ist das für ein Verein?“, fragte eine alte Dame mit einer Katze auf dem Arm.

„Wir sind der Salzstadtclan e.V.! Wir treffen uns einmal im Monat, um die besten Salzrezepte auszutauschen und zusammen zu lachen“, erklärte Micha mit einem breiten Grinsen. Die Dame schaute skeptisch, während ihre Katze den Topf mit dem Salzwasser beschnüffelte. „Das klingt… salzig. Aber was macht ihr noch?“

„Nun, wir veranstalten auch Wettbewerbe! Letztes Mal hatten wir den ‚Schnellsten-Salzstreuer-Wettbewerb‘ – Sie hätten die Gesichter der Teilnehmer sehen sollen!“, fügte Micha hinzu. Langsam, aber sicher sammelten sich ein paar Schaulustige. Micha schüttete ein wenig Salzwasser in kleine Gläser. „Möchten Sie probieren?“

Ein junger Mann, der gerade sein Eis schleckte, nahm mutig einen Schluck. „Das schmeckt… ja, salzig. Was bringt es mir, Mitglied zu werden?“ „Sie bekommen den exklusiven Zugang zu unserem Geheimrezept für die perfekte Salzbrezel!“ rief Micha begeistert. Die Menschen begannen zu lachen, und als Micha mit einer verzweifelten Geste seine bunten Socken präsentierte, die im grellen Sonnenlicht leuchteten, konnte niemand mehr widerstehen. „Sehen Sie diese Socken? Nur Mitglieder dürfen sie tragen!“ Einige schüttelten den Kopf, andere schauten interessiert. Schließlich meldete sich ein älterer Herr: „Ich habe schon mein ganzes Leben lang nach einer Möglichkeit gesucht, meine Leidenschaft für Salz zu teilen!“ Mit einem Aufschrei der Freude zogen Micha und die ersten neuen Mitglieder einen Vertrag aus einer alten Kiste, die einst die Preise des Vereins aufbewahrt hatte. „Willkommen im Salzstadtclan!“ Der Rekrutierungstag endete mit einem salzigen Fest, und Micha war erleichtert. Er hatte nicht nur neue Mitglieder gewonnen, sondern auch viele Lacher und ein paar neue Sockenfreunde.

Als die Sonne unterging, standen sie zusammen und prosteten mit Gläsern voll Salzwasser – eine Tradition, die in der Salzstadt Halle (Saale) nie enden sollte.

Es war im mittelalterlichen Halle an der Saale, wo Salzarbeiter ihr hart verdientes Salz gewannen und es an Händler verkauften, die es dann auf Märkten weiterverkauften. Einer dieser Salzarbeiter war Heinrich, bekannt für seine Schlauheit und listigen Tricks. Eines Tages kam ein arroganter mittelalterlicher Salzkaufmann in die Stadt und wollte eine besonders große Menge Salz kaufen, um es zu einem niedrigen Preis zu erwerben und mit hohem Gewinn zu verkaufen. Der Kaufmann dachte, er könnte Heinrich übervorteilen und ihm das Salz zu einem Spottpreis abnehmen. 

 Heinrich, der die Absichten des Kaufmanns durchschaute, spielte mit und stimmte einem niedrigen Preis zu. Der Kaufmann war zufrieden und dachte, er hätte einen guten Deal gemacht. Doch Heinrich hatte einen Plan. Er lud den Kaufmann zu einem Tisch ein, an dem bereits mehrere Salzsäcke standen. Als der Kaufmann das Geld zählen wollte, fing Heinrich an, eine Geschichte zu erzählen, die den Kaufmann fesselte und ablenkte. Währenddessen tauschte Heinrich geschickt einige Säcke mit minderwertigem Salz aus, die er mit einem Trick präpariert hatte. Als der Kaufmann endlich das Geld zählen wollte, wurden die Säcke mit dem minderwertigen Salz herausgeholt. 

Der Kaufmann war wütend und beschuldigte Heinrich des Betrugs. Doch Heinrich wies darauf hin, dass sie einen Preis vereinbart hatten, der für genau dieses minderwertige Salz galt. Der Kaufmann stand sprachlos da, während Heinrich lachend das restliche Salz zurückbehielt. Von diesem Tag an war Heinrich als der listige Salzarbeiter bekannt, der es wagte, den arroganten Salzkaufmann auszutricksen. Sein Ruf verbreitete sich in der Stadt und die Menschen bewunderten seine Schlauheit und seinen Mut, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren.