Raimond war es gewohnt, abends auf dem Sofa zu liegen und Zeitung zu lesen. Was sollte er sonst tun, er hatte den ganzen Tag am Computer gearbeitet. Der Fernseher lief, es war Krimizeit, seine Frau stand in der Küche und bereitete das gemeinsame Abendessen vor. Ab und zu las Raimond ihr einen interessanten Artikel vor, man übte sich im abendlichen Smalltalk über dies und das. Mit den Jahren waren beide ihrer jugendlichen Figur etwas entwachsen, was Raimond zwar bedauerte, aber sein Bewegungsdrang war nicht der allergrößte. Seine Frau war inzwischen fertig, brachte das Abendessen und setzte sich. Beide achteten sorgfältig darauf, sich nicht unnötig zu berühren, wie sie es wohl schon seit vielen Jahren taten. Aber Raimond brauchte das tägliche abendliche Ritual, um mit jemandem sprechen zu können. Das war so und würde so bleiben, bis der Tod sie beide in seine stummen Arme nahm. Raimond hatte alles, was das Leben an Geld und anderen Dingen zu bieten hatte, er war zivilisationssatt. Und doch schlummerte tief in ihm eine Sehnsucht nach mehr, eine Sehnsucht nach Berührung, eine Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die es hier zwischen Zeitungslesen, Abendessen und Small Talk nie gab. Seine Frau plauderte munter vor sich hin, erzählte von ihren Kollegen, deren Namen Raimond schon lange kannte. Amüsiert dachte er plötzlich an ihren Nachttisch, wo er zufällig zwei Dildos gefunden hatte. Er beneidete sie um diese Möglichkeit der Befriedigung, die ihm so gänzlich verwehrt blieb, da er durch die lange Entwöhnung nichts mehr mit seinem besten Stück anzufangen wusste. Man hatte ihm gesagt, dass regelmäßiges Training ihm helfen könnte, seine Schwellkörper wieder zu aktivieren, aber er war nicht der Typ, der sich „runterholen“ ließ. Er mochte eher das Sinnliche, das Sanfte, das Langsame, diesen Tantra-Effekt, bei dem das beste Stück eine sanfte Behandlung erfährt. Das konnte er sich nicht leisten. Er hatte es nur zweimal in seinem Leben erlebt. Es war, wie bei anderen, eine Massage des Rückens und des Bauches, aber da es sich um einen besonderen Teil des menschlichen Körpers handelte, konnte er niemanden finden, der ihm diesen „unanständigen“ Wunsch erfüllen konnte. Das wurde sofort mit Sex in Verbindung gebracht, obwohl jedes Lehrbuch etwas anderes sagen würde.
Seine Frau hatte das schon in ihren erotischen Zeiten nicht verstanden, und er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand diesen Wunsch überhaupt verstand. Eher konnte man rumhuren, ins Bordell gehen, das war nicht so pervers wie seine Wünsche.
Längst hatten die beiden aufgehört, sich mit solch obszönen Gedanken zu beschäftigen. Sexuell waren sie geschlechtslose Disneyfiguren oder bestenfalls Schlümpfe. Oft wälzte er sich im Bett und war zutiefst betrübt über seinen berührungslosen Zustand. Raimond konnte seine Frau nicht mehr berühren, seit sie ihn eines Tages brüsk aus dem Bett verjagte, vertrieben hatte, weil er etwas ausprobieren wollte. Es war an ihrem Geburtstag, als er mit einem Sektfrühstück in ihr Herz und zugegebenermaßen auch in ihr schönes Geschlecht schleichen wollte. Doch der zaghaft geäußerte
zaghaft geäußerte Wunsch nach etwas Oralverkehr und die Berührung an der falschen Stelle
zu einem lebenslangen Totalausfall ihres Liebeslebens. Natürlich hatte er sich bei Prostituierten versucht, aber auch das war eher peinlich und führte zu nichts. Er war nicht der Typ dafür, er mochte eine Art von Berührung und Zärtlichkeit, die ihm diese Frauen nicht geben konnten und wollten. Im Gegenteil, er machte sich lächerlich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dieses Ritual aus Zeitung, Abendessen und Fernsehen am Abend zu wiederholen. Das stürzte ihn oft in tiefe Depressionen.
“Hast du dir schon einen Film ausgesucht?“, fragte seine Frau, und bevor er antworten konnte, nahm sie die Fernbedienung und wählte sich selbst einen Film aus. Es war einer dieser Liebesfilme, die er sowieso nicht mochte, weil sie ihm zeigten, wie schön die Liebe sein konnte, an der er nicht mehr
nicht mehr teilhaben konnte. Während der Bettszenen vertiefte er sich in seine Zeitung.
„Guck mal, den würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen“, provozierte sie.
„Schön für dich.“
„Das Mädchen ist auch hübsch. Hat nur einen kleinen Busen.“
„Sehr interessant.“
„Du liest nur, vom Film bekommst du nichts mit.“
„Vom Leben bekomme ich auch nichts mit.“
„Was soll das heißen?“
„Es ist schön zu sehen, wie es zwei machen.“
„Du willst nicht mehr.“
„Um wieder aus dem Bett geworfen zu werden?“
„Das ist altmodisch. Außerdem war dein Wunsch eklig.“
„Ich habe immer Oralsex mit dir gemacht und du hast es geliebt.“
„Das ist was anderes, aber so ein Schwanz ist eklig.“
„Haut, nichts als empfindliche Haut.“
„Wir leben gut.“
„Ja, wir leben. Aber es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe.“
„Ach, du mit deinem Sex, Entschuldigung Eroootik. Das war schon zu viel.“
„Was zu viel? Ich dachte, es hat dir gefallen?“
„Ich habe dir zuliebe nichts gesagt. Aber ich hab rumgemacht. Ich hatte auch meine Fantasien.“
„Ach so, welche denn?“
“Na ja, so wie in dem Film “Fifty Shades of gray”. Das war prickelnd, oder mal so richtig genommen zu werden, ohne Gedichte, ohne die Kerzenflut und ohne Sektfrühstück.“
„Das haut mich um, du hast nie was gesagt.“
„Das konntest du doch gar nicht, mit deinem Gefühlsquatsch. Du wolltest doch nur mit der Zunge an die Muschi ran.“
„Aber, aber ich dachte …“
„Ist doch egal, so was brauchen wir nicht mehr, das ist was für die Jugend. Und du hast ja deine Pornos.“
„Was für Pornos?“
„Naja, ich habe gesehen, wie du dir so was angeschaut hast. Da war ganz groß eine offene Muschi auf dem Bildschirm. Das ist doch eklig.“
„Ich hab ein bisschen recherchiert.“
„Recherchiert nennt man das? Haha. Ja, ich weiß, für deine Prostituierten. Oder meinst du, ich weiß nicht, dass du beim Bordell geparkt hast, des Öfteren.“
„Ich? Beim Bordell geparkt? Du spinnst doch. Ich hatte in der Nähe etwas zu erledigen.“
„Klar. Ist doch logisch.“
„Verdammt, ich war bei keiner Prostituierten, das kann ich nicht.“
„Klar, das sagen alle Männer. Was denn sonst. Guck du doch deine Pornos, ich will das nicht sehen. Das finde ich pervers in deinem Alter. Recherche, klar, du hast damals bei mir recherchiert, das war für mich schon unerträglich.“
„Was redest du da? Du hast es gewollt, es hat dir gefallen. Warte mal.“
Raimond kochte, in seinem Kopf drehte sich ein Karussell der schlimmsten Art. Was redete sie da für einen Unsinn? Er holte eine Mappe mit Briefen und blätterte sie durch. Dann las er vor: „Es war eine wunderschöne Nacht mit dir. Die vielen Kerzen und dann noch die Gedichte. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liebe dich dafür.“ Er kramte und fand ein neues Blatt: „Ich weiß, wie hungrig du bist, wenn du in die Ferien kommst. Dass du dann so schön an mir knabberst und dir auch unter rum viel Zeit nimmst, gefällt mir sehr. Das tut gut, bitte mehr davon und alles schöööön langsam. Das hast du mir selbst geschrieben.“
„Hör auf, Raimond, ich will das nicht mehr hören, das ist fast 40 Jahre her. Ich war jung, du hattest Geld, da bietet man sich an. So ist das. Aber mir hat der Kick gefehlt, den du nie wolltest, der starke Mann, das bist du nicht. So was Weiches will keine Frau auf Dauer. Ja, am Anfang war es auch schön, aber heute würde ich darüber lachen. Wirf das Zeug weg, das ist nur noch Müll. Ich will nicht mehr darüber reden.“
„Aber im Film…?“
„Du hast deine Pornos, ich habe meine schönen Filme.“
Raimond saß mit gesenktem Kopf da. Sein Leben, seine Liebe waren soeben zerstört worden. Er schob den Ordner zurück in sein verstaubtes Regal, strich mit der Hand darüber und Tränen rannen ihm aus den Augen. Das war es, was ihm am Ende seines Lebens geblieben war? Er wollte schreien, heulte hemmungslos, und in seinem Kopf hämmerte der Satz: „So etwas Weiches will keine Frau auf Dauer.“ Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte, dann setzte er sich auf die Couch und las weiter in der Zeitung. „Du hast recht, wir sollten nicht mehr über so einen Quatsch reden“, sagte er noch, und seine Frau nickte. Er hatte wohl verstanden.
Wolter schielte aus dem Fenster. Er hatte gerade Mittagsschlaf gehalten, als er die Sirenen des Krankenwagens und des Polizeiautos hörte. Was war bei den Nachbarn los? Er kannte Raimond schon lange und nie war etwas passiert. Ein blauer BMW fuhr vor und die Schranke öffnete sich. Ein grauhaariger Mann stieg aus und musterte die Umgebung. Wie zufällig blickte er in Wolters Richtung, der sich ertappt fühlte und sich schnell vom Fenster entfernte. Wolter ahnte, dass es sich um einen Kriminalbeamten handelte. Was war mit Raimond los?
Manuel, von Beruf Kriminalpolizist, musterte die Umgebung. Es war eine normale kleine Siedlung, unauffällig und gediegen. Nichts Besonderes. Er war hierher gerufen worden, wegen eines unnatürlichen Todes. Noch wusste er nicht, was passiert war. Überall liefen Leute von der Spurensicherung herum. Manuel verschaffte sich einen Überblick und betrat die Wohnung. Ein Beamter führt ihn ins Schlafzimmer. Was er sieht, erstaunt ihn. Das ganze Zimmer war voll mit kleinen Teelichtern, die zum Teil noch brannten. Auf dem Bett lag eine nackte, korpulente männliche Leiche, aus deren Mund Papierfetzen quollen. Das Gesicht war tränenverschmiert. In den verkrampften Händen befand sich beschriebenes Papier. Um seinen Penis war ein rotes Band gebunden, an dem ein Geschenkzettel mit einem Kussmund und einer Hand hing. Auf dem einen Oberschenkel stand mit Permanentmarker „Was ist passiert?“, auf dem anderen „Berührungslos“. Eine Frau in einem weißen Kittel untersuchte die Leiche. Sie bemerkt Manuel, der fragend auf den Toten zeigt. „Seltsam. Der Typ ist erstickt, weil er Unmengen von Papier in sich hineingestopft hat. Es sind Liebesbriefe, Tagebuchaufzeichnungen, die er vor über 40 Jahren an seine Frau geschrieben hat oder die sie ihm geschrieben hat. Was die Sätze bedeuten und die komische Schleife und die vielen Kerzen, das muss man die Frau fragen. Es sieht fast romantisch aus. Ich weiß es auch nicht. Die Frau sitzt im Wohnzimmer und versteht die Welt nicht mehr. Fremdeinwirkung kann ich ausschließen, eher ein unfreiwilliger Selbstmord. Mehr nach der Obduktion.“ Irgendwie schien die ganze Sache sexueller Natur zu sein, irgendwie aber auch nicht, dachte der Kommissar. Er hob mit einer Pinzette ein Stück Papier vom Boden auf und las. Seine Augenbraue zuckte erstaunt nach oben. „Wo ist seine Frau?“, fragte er den Beamten, der gerade an ihm vorbeigehen wollte. „Kommen Sie mit“, wies ihm der Beamte den Weg.
Raimonds Frau saß zusammengekauert und in Gedanken versunken im Wohnzimmer und schüttelte immer wieder den Kopf. Ihr Gesicht war von Verwunderung geprägt. „Sind Sie die Frau des Mannes im Schlafzimmer?“, fragte Raimond etwas unbeholfen. „Ja, ich verstehe nicht. Wir haben uns doch gestern gar nicht gestritten. Was hat er denn gemacht? Das ist alles so merkwürdig!“ Manuel sah die Frau schief an. „Er ist erstickt, an diesen Zetteln oder Briefen“, er hielt der Frau den Brief hin, den er mitgenommen hatte. Die Frau legte den Kopf schief und las, denn Manuel verbot ihr, den Zettel anzufassen. Dabei beobachtete er die Frau genau: „Es war eine wunderschöne Nacht mit dir. Die vielen Kerzen und dann noch die Gedichte. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liebe dich dafür.“ „Meint er sie damit?“, fragte er etwas streng. „Ja, aber das ist vierzig Jahre her, und es war nicht mehr“, stotterte sie.
„Nun, gute Frau, Ihr Mann scheint vor vierzig Jahren an der Liebe erstickt zu sein. Wahrscheinlich wollte er Ihnen mit seinem Geschenk mit der roten Schleife etwas sagen“, meinte Manuel sarkastisch. „Wenigstens haben Sie ein schönes Haus. Das ist doch was am Ende des Lebens, oder?“ Die Frau antwortete nicht, sondern sah ihn nur verständnislos an. Sie konnte immer noch nicht begreifen, was passiert war, warum er sie beide so unerwartet und auf so merkwürdige Weise aus ihrem Alltag herausgerissen hatte. Das war doch nicht nötig.