Poesie und Lyrik

Seit ich denken kann schreibe ich, kleine Gedichte und Geschichten. Ein Roman über meine Kunstfigur ist gerade in Arbeit, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es mal was wird. Er gedeiht aber. In meiner Jugen war ich bei einem Poetenseminar, nahm in Jungen Welt an der Poetensprechstunde teil, traf persönlich auf Anna Seghers und Heinz Kahlau.. Das hat mich tief beeindruckt, vorllem Anna Seghers. So schreibe ich auch heute noch gelegentlich Kurzgeschichten und Gedichte und stelle einige hier vor.

Fantasy

„Mein Gott, ist das heiß“, stöhnte sie und stützte sich auf ihre Hacke. Sie sah sich nach Frank um. Er grub immer noch die Erde hinter der Laube um. Sie konnte ihn gerade nicht sehen. „Wie weit bist du eigentlich weg?“, rief sie so laut sie konnte. Immerhin waren es ein paar Meter und ihr Garten war verdammt lang, wenn auch nur ein paar Meter breit. Seit sie ihr Einfamilienhaus gebaut hatten, verbrachten Frank und Waltraud fast ihre gesamte Freizeit hier. Sie hatten alles, was das Herz begehrte, außer Kinder. Der Garten war ihr Ausgleich. „Waltraut, komm doch mal her“, rief Frank. Seine Stimme klang unheimlich. Sie ließ die Hacke fallen und eilte flink auf ihn zu. Frank stocherte auf dem Boden herum und sah sie nachdenklich an. „Was ist los?“, fragte sie etwas atemlos. Frank sah sie seltsam an, und sie zuckte unwillkürlich erschrocken zurück. In seinem Gesicht spiegelte sich die blanke Angst. Nervös fuhr er sich durch die Haare. „Ameisen“, sagte er so lakonisch wie möglich. „Aber wir haben sie ausgerottet. Seit zwei Jahren streuen wir das Zeug aus.“ „Ich habe mit ihnen gesprochen“, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Was?“, Waltraut traute ihren Ohren nicht, „das kann doch nicht dein Ernst sein.“ Sie blickte zur Bank, auf der noch die Bierflaschen standen. Sein Blick folgte ihr. „Ich bin nicht betrunken“, seine Stimme klang belegt und resigniert, „sie waren zu Tausenden hier, standen einfach so da, in Reih und Glied, verschnürt wie eine Armee.“ … und dann sprach eine Stimme. Sie schien aus der Erde zu kommen. Er stocherte mit der Schuhspitze irgendwo in der Erde herum. „Mensch“, sagte die Stimme, “hier spricht die Königin der Ameisen. Die Königin, verstehst du? Zuerst dachte ich an einen Scherz, versteckte Kamera und so, aber als ich mich umdrehte, war der Boden schwarz vor Ameisen. Sie hatten mich regelrecht umzingelt. Die Stimme sprach weiter. Menschenkind, sagte sie, viele Millionen Jahre nach den ersten Insekten habt ihr die Gemeinschaft der Tiere verlassen und euch angemaßt, Schöpfer der Erde zu sein. Ihr habt euch eure eigenen Gesetze gemacht, gegen und gegen die Natur. Ihr habt euch Existenzen aufgebaut, habt euch mit lächerlichen Dingen umgeben, die wir nicht verstehen. Ihr rottet aus, was euch nicht gefällt, um eure ungeheure Gier zu befriedigen. Ihr habt uns erforscht, und euer geniales Gehirn hat festgestellt, dass wir keinen Verstand haben. Ihr teilt uns in Schädlinge und Nützlinge ein und haltet euch für wertfrei. Es ist euch nie in den Sinn gekommen, dass wir ein gleichberechtigtes Volk auf dieser Erde sind. Du und deine Frau habt uns auf diesem Boden, auf dem wir seit Ameisengedenken leben, bis auf ein Paar, die Königin und eine Ameise, ausgerottet. Im Gegensatz zu euren Forschungen ist es uns gelungen, unser Volk wieder zum Leben zu erwecken. Jetzt ist die Zeit gekommen, euch aufzufordern, endgültig zu gehen, wenn ihr es nicht bereuen wollt. Nehmt es nicht als Scherz, auch wir können erbarmungslos kämpfen… Ja, und dann verstummte die Stimme und ich erwachte wie aus einem Traum.“ Frank schwieg betroffen. „Und die Ameisen?“, fragte Waltraut vorsichtig. „Die waren plötzlich weg, einfach weg“, Frank blickte wie ein Irrer um sich. Waltraut nahm ihren Mann sanft in den Arm, „Du bist ganz aufgeregt, beruhige dich, die Sonne, vielleicht war die Arbeit etwas zu viel für dich. Wahrscheinlich bist du eingeschlafen und hast schlecht geträumt.“ Frank nickte nur. Vorsichtig begleitete sie ihn zu ihrem Bänkchen. Waltraut strich ihm zärtlich über das Haar und wartete, bis er eingeschlafen war. Dann stand sie auf, zündete sich eine Zigarette an und ging nachdenklich zu ihrem Beet zurück. Vor ihr lief eine Ameise im Zickzack über die Platten. Sie schien sich verlaufen zu haben. Waltraut sah sie interessiert an. „Dummes Vieh“, dachte sie und bückte sich. Waltraut hielt ihre Zigarette dicht über die Ameise, die verzweifelt versuchte zu entkommen. Es gelang ihr nicht. Die Hitze versengte das Tierchen gnadenlos und drückte es zu Boden. Der Körper krümmte sich, bis er zu einem schwarzen Haufen verschmolz. “Das war’s”, Waltraut ging zufrieden weiter. Plötzlich hörte sie einen entsetzlichen Schrei. Es war Frank. Waltraut ließ die Zigarette fallen und rannte zurück. Ein furchtbarer Anblick bot sich ihr. Frank lag mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. Waltraut schrie auf und eilte zu ihm. Er war tot, das ganze Gesicht, die Arme, die entblößte Brust mit winzigen roten Punkten übersät. Es war Blut. Waltraut verstand nichts. Vorsichtig beugte sie sich über Frank. Seine rechte Hand lag zur Faust geballt auf seiner Brust. Waltraut öffnete vorsichtig die Finger… Eine kleine Ameise krabbelte über den toten Körper auf den Boden und verschwand in einem winzigen Loch….

Ich brauchte dringend ein Tier. Eine neue Katze. Unsere vierfarbige Katze mussten wir an einen Bauernhof abgeben. Sie ließ sich partout nicht von ihrem Katzenklo überzeugen und ging dorthin, wo es ihr gerade Spaß machte. Sie war zu alt, als wir sie aufnahmen und wir konnten sie nicht mehr an ein Leben im Wohnzimmer gewöhnen. Das kostete uns einen Teppich und schließlich die Katze.

Also gingen wir ins Tierheim. Nun bin ich eher der Typ, der Wert darauf legt, von einem Tier akzeptiert zu werden und nicht einfach das zu nehmen, was meinem Auge gefällt. Das Auge kann trügen, das Herz nicht und Tiere nehmen es mit Sympathie meist sehr genau. Natürlich spielte auch das Aussehen eine Rolle, aber das musste ich nicht zugeben, schon gar nicht bei einer eigensinnigen Katze. Also versuchte ich, diesen Gedanken so gut wie möglich zu verbergen und meine biologische Seite auszublenden. Viele Katzen merkten das und ignorierten mich einfach. Und dann kam sie. Die schönste Katzendame der Welt. Mandy schoss mir durch den Kopf. Aus irgendeinem Grund verbinde ich mit diesem Namen Mandelaugen und genau die hatte sie. Dazu ein schwarzes, seidiges Fell mit weißem Unterbauch und weißen Pfoten. Mit erhobenem Schwanz stolzierte sie auf mich zu. Ich setzte mich auf den Boden, was sie als Einladung verstand, es sich auf meinem Schoß bequem zu machen. „Sie ist es“, sagte meine Frau und noch bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte, stand mein Entschluss fest. Ich war bis über beide Ohren in diese Schönheit verliebt und Mandy wusste das auch. Sie schnurrte zustimmend. Nach einer Stunde waren wir zu Hause. Sie inspizierte die Wohnung, ging zum Katzenklo, fand zielsicher die kleine Decke, die im Schlafzimmer bereit lag, rollte sich hinein und schlief ein. Ich war verblüfft, hatte ich doch ein neugieriges Herumschnüffeln erwartet. Nichts. Ich ging in die Küche und bereitete aus rohem Fleisch verschiedene Katzengerichte zu. Katzenfutter gab es damals kaum und ich wollte sie verwöhnen.

Am nächsten Tag stand ihr Futter ungenutzt in der Küche. Sie hatte es verschmäht. Ich war frustriert. Sie lag auf ihrer Decke und schlief. Ich streichelte sie vorsichtig, sie bewegte sich kaum und schnurrte. Ihr Katzenklo war benutzt. Ich war ein wenig beruhigt. Vielleicht muss sie sich nur an das Futter gewöhnen. Im Katzenhaus hatte ich vergessen zu fragen, was ich schnell nachholte. Ich erfuhr, dass sie schon seit einigen Wochen schlecht fraß und niemand wusste, warum. Mandy war vier Jahre alt, eine wichtige Information. In meiner Euphorie hatte ich nicht daran gedacht, nachzufragen. Sie war aus unbekannten Gründen abgegeben worden. Ein Tierarzt hatte sie im Katzenhaus nicht gesehen, weil ich darauf bestanden hatte, sie mitzunehmen. Kein Mensch der Welt hätte mich davon abhalten können. Sie hatte sich in mein Herz gefressen, und wenn ich sie einmal in mein Herz geschlossen habe, ist es schwer, sie wieder loszulassen.  Das war immer ein Problem.

Ich ging mit ihr zum Tierarzt, inzwischen war eine Woche vergangen. Sie schlief viel, kam zu mir ins Wohnzimmer, kuschelte und schnurrte, fraß ein paar Brocken und schlich wieder auf ihren Platz. Manchmal setzte ich mich zu ihr und streichelte sie einfach nur. Ich erzählte ihr alles, was ich über Katzen wusste und von meinem verzweifelten Kampf um einen Hund, den ich verloren hatte. Sie wusste mehr über mich als ich über sie.

Der Tierarzt impfte sie nach allen Regeln der Kunst und machte mir Vorwürfe, dass ich zu spät gekommen sei. Ja, Gott, was wusste er schon von meiner Zeit und sie hatte ja auch keine.

Ach, das wird schon. Zu Hause wunderte ich mich immer mehr über Mandy. Sie interessierte sich nicht für die Wohnung, spielte nicht, suchte aber ständig meine Nähe, aber immer nur für einen kurzen Moment. Das war merkwürdig und ungewöhnlich. Eines Tages brachte mich meine Frau zum Katzenklo. Zwischen dem Kot lagen kleine Plättchen, die mir bekannt vorkamen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ein Bandwurm. Blitzschnell waren mir die Symptome klar. Mandy hatte Schmerzen und war geschwächt. Wir hatten sie gegen Würmer geimpft, aber dieser Bandwurm hatte bereits Finnen abgekapselt und die wanderten durch den Körper in die Lunge, ins Gehirn. Ich hasste mich. In meiner grenzenlosen Liebe zu dem Tier hatte ich die primitivsten Dinge übersehen, hatte nicht nachgefragt, war zu spät zum Tierarzt gegangen. Tierarzt! Ich beschloss, sofort zu gehen, schnappte mir Mandy und ein paar von den Plättchen. Der Tierarzt hielt mir mit ernster Miene einen Vortrag über Bandwürmer und was man alles beachten muss, wenn man sich eine Katze anschafft. Er sollte Mandy behandeln und nicht mich.

Ich wich Mandy nicht mehr von der Seite: Nach der Arbeit setzte ich mich zu ihr, streichelte sie, gab ihr die Medikamente. Sie schnurrte fast ununterbrochen. Ich war mir sicher, dass ich dieses Tier gesund pflegte. Meine Frau mied mich in dieser Zeit, ging mir aus dem Weg. In der Schule waren meine Gedanken ständig bei Mandy, ich hatte kaum Zeit für meinen Minizoo, der gerade im Entstehen war. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause zu meiner Katze. Sie wurde immer apathischer. Eines Tages kam ich nach Hause. Meine Frau empfing mich traurig. „Mandy ist gestorben.“ In mir krampfte sich alles zusammen. „Sie hat die ganze Wohnung nach dir abgesucht und ist zu ihrer Decke zurückgekommen. Ich habe sie in den Arm genommen und sie ist gestorben.“

Mandy lag auf ihrer Decke, als würde sie schlafen. Ihr Fell war so weich. Ich hatte sie auf dem Gewissen, meine verdammte Liebe hatte sie nicht beschützt, sondern getötet. In mir brach es. Ich bin studierter Biologe, habe meine Diplomarbeit über Kleintiere geschrieben und bei ihr jämmerlich versagt. Ich stellte mein Herz über mein Wissen und ließ sie zu spät behandeln. Ich fühlte mich elend, nahm das tote Tier und begrub es allein. Meine Frau sagte, ich sei drei Stunden unterwegs gewesen. Ich wusste es nicht und wollte den Tag ausradieren. Noch heute sehe ich sie deutlich vor mir, ihre mandelförmigen Augen, ihr samtweiches Fell. Da ich gerade dabei war, einen Minizoo aufzubauen, schwor ich mir, mich mehr auf mein Wissen als auf mein Gefühl zu verlassen, was bei so vielen Tieren sowieso nicht möglich war. Da wusste ich noch nicht, dass auch mein Wissen versagen kann, aber das ist eine andere Geschichte. Die von Mia, einer sehr jungen Katze, die mich viel Kraft und Tränen gekostet hat.

Wasserwechsel, ich bereite alles vor, Schlauch, Eimer, das Übliche. Tausend Mal probiert, nie ist was passiert. Routine. Ich hebe den Deckel ab, er klemmt, ich ziehe links, ich ziehe rechts, ich werde ärgerlich, mache einen Schritt und stehe im Eimer, ausgerechnet das 5l-Ding. Er hängt am Fuß. Ich nehme den Deckel ab und eine Lampe fällt raus, zu ruckartig. Ich versuche jetzt methodisch und ruhig vorzugehen. Der Schlauch ist weg. Wo ist der verdammte Schlauch? Eine meiner Katzen hat ihn beim Spiel entdeckt. Ich hasse Katzen. Ich nehme den Schlauch. Marlow (der eine Kater) spielt wieder mit dem Ende, ich will gleichzeitig saugen und schreien, habe das Fischwasser im Mund, verschlucke mich. Nochmal, endlich ist ein Eimer fast voll. Milow (der andere Kater) interessiert sich für das kreisende Wasser, will es fangen will es fangen, springt in den Eimer, Eimer kippt um, Teppich nass, auch meine Strümpfe auch, Katze sieht jämmerlich aus, ist nass und ich kenne kein Mitleid, jetzt nicht. Ich versuche, das Wasser aufzuwischen, verliere das Gleichgewicht. Es reicht, der Hintern ist auch nass. Ich hole neues Wasser, will es hineinschütten, habe es satt, weiter zu wechseln. Der Schwung muss etwas zu groß sein sein, das Wasser läuft zur Hälfte außen am Aquarium vorbei, trifft die noch trockene Katze, die sich quer über den Tisch aus dem Staub macht, nicht ohne Tischdecke, Vase und diverse andere Gegenstände. Ich brauche eine Weile die nasse Katze auf meinen Papieren im Arbeitszimmer und trocknet. Die Papiere und Fotos kann ich vergessen.  In zwei Wochen mache ich einen Wasserwechsel, ohne Katzen, die werden ausgesperrt.  Jetzt ist Couchzeit, sprecht mich nicht an.

 

Lyrik

Die leere Zahl
füllt mich aus
voll und ganz
ich glaub dieser Worthülse nicht
die sich jährlich ändert.

Meine Spiegel
lügen den Märchen
und manchmal
den Menschen
die mich kreuzen
geben den Worten
Falten.

Falten des Lächelns,
der Ungläubigkeit,
der Halbwahrheiten,
der Liebe,
des Vertrauens.

Falten
die aus mir
einen Charakter machen
nicht immer spiegelgleich
aber,
das bin ich
und meine leere Zahl

Am Tage blaut mein Himmel,
ich schweife durch die Zeit
und fühl in der Seele mein Alter
was mich mit Gleichmut füllt.

Ich genieße die Einfachheit des Weges,
um mich herum erstrahlt der Tag
in einer besinnlichen Ruhe
und die Menschen habe keine Eile.

Der Tag haucht mir für die restliche Zeit
ein gewaltiges Leben ein,
die Dinge um mich werden wach,
und stimmen mich zufrieden.
Mein Glück scheint in den Weg gemeißelt
für diesen einen Tag.

Ich seh Jugend um mich
und empfange zarte Berührung
als einen kleinen Hauch.

Ich seh dem Mädchen nach
das mich achtlos anlächelt
und in der Ferne sich verliert,
Ich behalt ihr Lächeln
in Erinnerung vergangener Tage…

Sie dreht sich um
schaut zu mir,
für einen flüchtigen Moment
und wirft sich dann
in die Arme der Zeit
schon ist verworfen die Begegnung,

Ihr Lachen
weist mich
in die Schranken des Alters.
Ich schau mich an
im Spiegel der Stadt
bin ganz zufrieden mit mir

Blau blaut der Himmel.
die kommenden Wolken
nehm ich gern in Empfang…

Mystery

Der alte Mann liebte diese Morgen an seinem kleinen See. Schilf, Enten, Schwäne, viel Ruhe. Wenn bei Sonnenaufgang der Nebel kam, war es Zeit, sich seinen Gedanken zu widmen. Insgeheim nannte er das Kopfrauschen. Er hätte viel zu erzählen gehabt, wenn es noch jemanden gegeben hätte, der ihm zugehört hätte. Seine Frau war gestorben, er war im Rentenalter, sprach höchstens noch mit seinem Hund. Das Erfrischendste in seinem Leben war ein Eis, das er sich alle zwei Tage gönnte, ansonsten war menschliche Kälte sein Lebensinhalt. Etwas Wärme spendeten ihm seine 3D-Figuren, die ihm nach über 65 Jahren Leben geblieben waren, und dieser See. Der alte Mann war sein Leben lang aktiv gewesen, hatte viele Spuren hinterlassen, aber die Spurenträger lebten ihr eigenes Leben. In vielen Vereinen war er gewesen, vieles hatte sich verändert. Wie sehr er sich auch mühte, die Zeit war gegen ihn. Die einen starben, die anderen entzogen sich dem Vereinsleben. Die besten Freunde verstreuten sich in alle Winde, jung an Jahren und hungrig nach Leben. Er hatte alles getan, um diesen Prozess aufzuhalten und spät erkannt, dass er ihn nicht aufhalten konnte. So blieb am Ende eine Katze, seine Vergangenheit, seine 3D-Bilder. Irgendwann resignierte er und fand nichts mehr wichtig. Natürlich kannte er sein Selbstmitleid, aber wenn er im Wohnzimmer saß, freute er sich über ein paar kurze Gespräche mit seinen Freunden per Telefon oder WhatsApp. Sein Arbeitszimmer schmückte er immer noch mit den Bildern aus der Vergangenheit und eine Atmosphäre mit Kerzen fand er erotisch. Der alte Mann lachte. Erotisch, so ein Unsinn.

„Onkel. Warum lachst du?“ Ein kleines Mädchen zupfte an seinem Mantel. Neben ihr stand wohl die Mutter und zuckte lächelnd mit den Schultern. „Ich habe gerade daran gedacht, als ich noch jünger war. Da hatte ich eine unbändige Lust zu leben“, er tippte der Kleinen mit dem Finger auf die Nase, „…und zu lachen.“ „Und das ist jetzt vorbei?“, fragte die Mutter fast besorgt. „Nein, nein“, versicherte der Alte, „wenn man dem Horizont des Lebens begegnet, ist es manchmal schwer, dann ist nicht mehr viel da, mit dem man hemmungslos leben kann. Die Knochen sind alt.“ „Schau“, quietschte das kleine Mädchen und blickte auf den See, „der Schwan, er kommt auf uns zu.“ Der Alte griff in seine Manteltasche, holte ein Stück altes Brot heraus und gab es dem Mädchen. „Hier, probier mal, das wird ihm schmecken.“ Das Mädchen lachte und warf dem Schwan kleine Stücke zu, der sich ihr näherte. Der alte Mann trat zurück und beobachtete das Geschehen. Die beiden waren so in die Fütterung vertieft, dass sie ihn schon vergessen hatten. „Wie im Film“, plapperte das kleine Mädchen, „da haben die Tiere die Menschen geliebt. „Ja, ich weiß“, sagte die Mutter, „der Truthahn, der riesige Wal, das Nilpferd“. Die Mutter machte dicke Backen und beide lachten. Der alte Mann erinnerte sich und vergaß, dass er keine Kinder hatte. Er erinnerte sich nicht und fühlte die morgendliche Kälte. Man müsste ein Tier sein, dachte er, dann würde man ein paar Streicheleinheiten bekommen. Er hatte das erwähnte Video gesehen, hatte es ausgeschaltet, weil es ihn nicht interessierte. Er wusste, dass es eine Lüge war, aber er wollte seinen Gefühlen nicht nachgeben, das hatte ihm noch nie geholfen. Aber der Wunsch überkam ihn sofort. Es war ihm unangenehm. Das kleine Mädchen streichelte den Kopf des Schwans, der sich das seltsamerweise gefallen ließ. Vielleicht war er einsam.

Das Mädchen schaute sich um. „Schau mal, Onk… Wo ist denn der Opa?“, fragte sie erstaunt. Die Mutter zuckte mit den Achseln. „Ach, den habe ich ganz vergessen. Der ist bestimmt nach Hause gegangen oder zu seiner Frau und den Kindern. Er schien ja sehr kinderlieb zu sein. Wer weiß?“ „Und warum hat er seinen Hut hier gelassen?“, fragte die Kleine. Sie wollte danach greifen, aber die Mutter war schneller und hob ihn auf. Im selben Moment stieß sie einen entsetzten Schrei aus, der selbst den Schwan in die Flucht schlug. „Iiih, eine hässliche Kröte, fass die bloß nicht an. Die können giftig sein.“ Mit einem Fußtritt beförderte sie das Tier in den Teich. „Leben in dem Teich Kröten?“, fragte die Kleine traurig. „Ich weiß es nicht! Komm, wir gehen nach Hause, wir haben den schönen Schwan gesehen. Das war doch toll, oder?“ „Das werde ich Papa erzählen“, jubelte die Kleine.

Die Kröte war längst aus ihrem Teich gehüpft. Sie erinnerte sich. Das konnte sie am besten. Sie war allein, auch daran war sie gewöhnt. Sie suchte sich ein warmes Plätzchen und vergaß bald, wer sie war.

Die Blondine wippte bedächtig mit dem Fuß. Sie hat ein süßes Fußkettchen, dachte Chris und stellte sich einige Posen vor, die sie vor seiner Kamera machen würde. Ein Detailfoto des Fußkettchens war schon ausgemacht. „Sagen Sie mal“, ihr Fuß wippte nicht mehr, „was ich mich die ganze Zeit frage, woher haben Sie diese ungewöhnliche Narbe auf der Stirn? Die sieht aus wie …“ Chris lächelte, wischte sich unbewusst über die Stirn, fühlte die weiche Beule und fragte gedehnt: „Huufeiisen?“ Die Blondine nickte etwas pikiert, es schien ihr peinlich zu sein. Chris winkte ab: „Ach was, das fragt mich doch jeder. Ich bin mit dem Motorrad gestürzt und habe mir die Wunde zugezogen. Es ist nichts weiter. Deshalb nennen mich meine Freunde auch Huffi“. Chris nahm einen kräftigen Schluck Kaffee, während die Blondine an ihrem Sektglas nippte. Wieder wippte ihr Fuß. Sie machte eine gute Figur auf dem Barhocker. Das Licht im Café war etwas diffus und zauberte einen kleinen Schatten auf ihr Gesicht. Chris lachte kurz auf. „Es ist, als wäre ich von einem Minipferd getroffen worden. Nein, im Ernst, ich war allein, als es passierte, und in einem abgelegenen Wald. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich im Krankenhaus war. Deshalb die Narbe. Die Blondine nickte zufrieden, mehr wollte sie nicht wissen. „Gut, dann sind wir uns einig. Ich bekomme 12 Bilder, hier ist die Adresse, wo wir uns zum Outdoor-Shooting treffen.“ Chris nahm den Zettel und reichte ihr den TFP-Vertrag, den sie sofort studierte. Als er die Adresse sah, erstarrte er. Seine Kehle schnürte sich zu. Genau hier war es passiert. Chris tauchte tief in seine Gedanken ein und sah alles vor sich, als wäre es gestern gewesen. Gestern vor genau 12 Jahren, als er die Koppel unter dieser Adresse betrat.

Chris betrat durch das große Eisentor die Koppel, die etwas außerhalb des kleinen Dorfes lag. Der Morgen war noch neblig, die Sonne schien glutrot aus dem Osten. Die Besitzerin wollte gleich kommen. Sie musste mit dem Traktor Wasser für die Tiere holen. So konnte er sich umsehen. Irgendwo ganz hinten standen ein paar Wallache, darunter ein sehr großes Tier. Ein Riese, dachte er. Chris hatte keine Ahnung von Tieren, schon gar nicht von Pferden. Warum sollte er auch etwas über Pferde wissen. Ein Tier wie jedes andere. Schließlich sollte er nur ein paar Fotos für die Besitzerin machen. Natürlich hatte er ihr seine Unwissenheit verheimlicht, schlimmer noch, er hatte sich als Pferdekenner ausgegeben. Er wollte nicht reiten und das Pferd auch nicht anfassen.
Der große Wallach bei der kleinen Herde schien den Fremden zu bemerken und kam langsam auf Chris zu. Irgendwie wurde das Tier immer größer, je näher es kam. Chris sah die weißen Haarbüschel, die die Hufe bedeckten. Der mächtige Körper wiegte sich gemächlich. Im Gras lag eine vergessene Reitgerte, die Chris sicherheitshalber an sich nahm. Irgendwie war er wie festgenagelt.

Plötzlich stand der Wallach vor ihm und musterte Chris, der sich an der Peitsche festklammerte. Das Tor war hinter ihm verschlossen. Er konnte es auch nicht öffnen, denn es war ausladend. Dazu hätte er den Riesen erst nach hinten schieben müssen. Aber das war bei der schieren Körpermasse unmöglich. Der Wallach schubste ihn und zog eine Tüte aus seiner Tasche, in der sich wohl noch Brötchenkrümel vom schnellen Frühstück beim Bäcker befanden. Der Kopf des Pferdes war bedrohlich groß und der Wallach kam ihm viel zu nahe und drängte Chris gegen die Tür. Er wusste nicht, was er tun sollte und hatte auch keine Ahnung, was das Tier von ihm wollte. Plötzlich erinnerte er sich an die Reitgerte in seiner Hand und schlug kräftig zu. Sie klatschte auf den Körper des Pferdes. Der Wallach sprang hoch, drehte sich um die eigene Achse, erwischte Chris am Hintern und warf ihn zu Boden. Dann galoppierte er davon, blieb aber im nächsten Moment abrupt stehen. Langsam drehte er sich zu Chris um und senkte den Kopf, als würde er nachdenken. Mit erhobenem Schweif und angelegten Ohren starrte er Chris an, der wie gelähmt am Boden lag. Der Wallach schnaubte, scharrte kurz auf dem Boden, galoppierte auf Chris zu und setzte sich dann mit den Vorderhufen vor ihn. Chris sah die riesigen Hufe auf sich zukommen und spürte einen stechenden Schmerz. “Das war’s”, schoss es ihm durch den Kopf.

Schulgeschichten

Es ist mehr oder weniger bekannt, dass ich in meiner Freizeit viel fotografiere. Für meine Enzyklopädien sind es Gebäude, Straßen, Kunstwerke usw., für meinen Verein sind es mittelalterliche Orte, Theaterstücke, unser Salzwinkel. Niemand stört sich daran, manche interessieren sich dafür, andere nicht, so ist das Leben in seiner Vielfalt. Aber auch die Modelfotografie hat es mir angetan und ich habe mich schon durch einige Themen fotografiert, ob Porträt, Mode oder sogar Dessous- und Aktfotografie. Letzteres kennt nicht jeder, aber der Aufschrei: „Was ist denn Akt?“ gehört wohl immer dazu. Kaum jemand, aber ich glaube kaum einer meiner Kollegen hat „solche“ Bilder je gesehen und ich weiß auch, warum das auch in Zukunft so bleiben wird. Für die einen ist es moralisch nicht sauber, die anderen wollen mit so komischen Sachen nichts zu tun haben und manche Frauen denken wohl an Sodom und Gomorrha, andere fühlen sich bei dem Gedanken nicht wohl und schlimmer noch, einfach nur angemacht. Es ist eben ein heikles Thema. Dass diese Art der Fotografie ihre Schattenseiten hat, ist unbestritten, und dass meine Figur in Verbindung mit nackten Frauen seltsame Assoziationen weckt, damit muss ich leben.

Mit Sinnlichkeit oder Erotik hat das alles hinter der Kamera eigentlich nichts zu tun. Man kann versuchen, das glaubhaft zu machen. Aber es bringt nichts, weil sich das keiner vorstellen kann. Männer rollen mit den Augen, weil sie „wissen“, was passiert. Frauen rollen mit den Augen, weil sie es glauben. Es „rollen“ eigentlich nur Körperflüssigkeiten – nämlich in Form von Schweiß, vom Scheinwerfer oder vom ständigen Lichtwechsel. Von den Bildern wird niemand etwas im Internet finden, denn erstens habe ich Verträge, zweitens bestimmen die Models, was ich zeigen darf. Außerdem bin ich Lehrer, da ist so etwas fehl am Platz, weil es viele Kollegen gibt, die mehr Fantasie haben als ich oder Schüler, die das sehen könnten. Das wäre noch fataler. Also bleiben die Bilder privat oder wandern in Ausstellungen weit weg von Halle, wo ich so manchen Preis gewonnen habe. Selbst bei harmlosen Dessous-Fotos bin ich vorsichtig geworden. Ich habe es satt, immer wieder die gleichen dummen Sprüche und Witze zu hören.

Manchmal bleibt mir aber auch der Mund offen, wenn ich so manche Absurdität höre. Zum Beispiel hatte ich mal eine Kollegin, mit der ich für ein paar Wochen die Aufsicht hatte. Wir haben uns auch ein bisschen unterhalten und ich habe von meinen Hobbys erzählt, die sehr vielfältig sind, unter anderem auch von der Fotografie. Ich habe ihr normale Modelbilder gezeigt (also für mich waren die normal) und sie hat sich dafür interessiert. Als Model kam sie mir nicht in den Sinn, nicht weil sie nicht hübsch war (ich weiß nicht so genau, was das bedeutet), sondern weil ich keine Frauen auf der Straße anspreche und schon gar nicht bei der Arbeit. Das kann ich nicht! Also war es nur ein Gespräch, um die Zeit totzuschlagen. Bald darauf übernahm sie eine andere Pausenaufsicht. Ich vergaß unsere Gespräche, selbst der Name war mir nicht mehr geläufig, da wir uns kaum noch begegneten.

Ein paar Monate später waren die Kollegen auf einer Fortbildung. Dort bekam ich den Auftrag, alle Kollegen für eine Übersichtsseite im Lehrerzimmer zu fotografieren. Natürlich habe ich jedem vorher ein Bild gezeigt, um einen Eindruck vom Endergebnis zu vermitteln. Irgendwann fehlte mir eine Kollegin. Ich entdeckte sie, ging auf sie zu und sagte: „Ich zeige dir ein Bild, damit du siehst, wie es am Ende aussieht.“ Sie erstarrte und war zutiefst erschüttert. Ich war verwirrt, hatte ich etwas Falsches gesagt? Plötzlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung, holte tief Luft und rief verzweifelt: „Aber bitte kein Aktbild!!!“

Ich war völlig konsterniert oder im falschen Film. Was war das? Jetzt wurde mir auch bewusst, dass es genau die Kollegin war, mit der ich vor Monaten die Pausenaufsicht gemacht hatte. Schlagartig wurde mir klar, was im Kollegium vorgegangen sein musste. Ich war fassungslos. Ich fand kaum Worte, sagte etwas von Porträtfotografie und Auftrag, machte mein Foto und sprach nie wieder ein Wort mit ihr. Für wen hielt sie mich? Ich nahm mir vor, nie wieder mit jemandem über Aktfotografie zu reden, der keine Ahnung hatte.

Ich fotografiere auch Models, mehr muss niemand wissen. Man kann über alles reden, über Krieg, Mord und Totschlag, Frauen, ekelhafte Witze erzählen, aber die Aktfotografie ist immer noch die höchste Unmoral. Was für eine seltsame Welt.

Es war Sommer. Es war warm. Die Lehrer der Heinrich-Heine-Schule in Feierlaune. Der Hausmeister grillte, Tische waren aufgebaut, die Ferien standen bevor und man saß zusammen, verabschiedete das Schuljahr, wie man es immer am Ende tat. Der Sekt floss, es wurde geredet, vor sich hingedacht, der Tag war schön. Ich bin nicht so sehr der Feierer, musste mich auch um unseren Minizoo in der Schule kümmern. Dort warteten Hasen, Meerschweinchen, eine Schlange, Papageien, Mäuse, Ratten und Hamster auf ihr Futter. In dieser tierischen Vielfalt war ich Mensch, dort konnte ich sein. Ich war das tierische von zu Hause gewöhnt, hatte doch auch dort allerlei Getier auf dem Balkon und in diversen Terrarien. Es war meine kleine Welt, die es heute so nicht mehr gibt, aber im Kopf noch immer frisch ist. Manchmal hatte man dann auch seine Erlebnisse, ob zu Hause oder in der Schule.

Unser Hausmeister dort war ein netter Kerl. Den Streichelzoo betrachtete er skeptisch. Das ganze Viehzeug war ihm nie geheuer, der Minizoo-Mann wohl auch nicht. Das gehörte seiner Meinung nach nicht in die Schule. Er misstraute allem, was nicht mit ihm sprach. Und das waren seiner Meinung nach die Tiere.
Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er nicht auch eine gehörige Portion Aberglauben gehabt hätte. Und so kam es, dass unser Minizoopfleger an diesem Tag bei einem seiner Meerschweinchen das Wunder der Geburt entdeckte. Die beiden kleinen Knäuel mussten am Vortag geboren worden sein, waren trocken und rannten als Nestflüchter eilig durch die Gegend. Wer so kleine Knirpse sieht und ihre kuschelige Wärme spürt, weiß, dass Mutter Natur Großartiges vollbracht hat. Da ich ein kommunikativer Mensch bin, wollte ich die beiden Geschwister unbedingt einer tierlieben Kollegin zeigen. Also nahm ich die Kleinen vorsichtig in die Hand und brachte sie zu besagter Kollegin. Im ersten Moment war sie etwas erschrocken, als ich ihr die Wollknäuel unter die Nase hielt, und hat wohl ein bisschen gequietscht. Aber dann leuchteten ihre Augen. „Oh, ist das schön“, entfuhr es ihr und sie streichelte sich über den Bauch, der sich schon sichtbar wölbte. Dieses Wunder der Natur würde sie wohl bald mit der Welt teilen, genau wie die Meerschweinchenmutter. Damit wäre die Geschichte eigentlich schon zu Ende, wenn nicht unser Hausmeister mit großen Augen das Geschehen beobachtet hätte. Ich, der Minizootierpfleger, ahnte nichts davon und noch weniger von seinen Gedanken und brachte die beiden Meerschweinchen zu ihrer Mutter zurück.

Es war Sommer. Es war heiß. Die Lehrer der Heinrich-Heine-Schule in Feierlaune. Der Hausmeister hatte gegrillt, die Tische waren gedeckt, die Ferien standen vor der Tür und man saß zusammen, verabschiedete das Schuljahr, wie man es immer am Ende tat. Der Sekt floss, es wurde geredet, man dachte nach, es war ein schöner Tag. Ich bin nicht so der Feiertyp, ich musste mich auch um unseren Minizoo in der Schule kümmern. Dort warteten Kaninchen, Meerschweinchen, eine Schlange, Papageien, Mäuse, Ratten und Hamster auf ihr Futter. In dieser tierischen Vielfalt war ich Mensch, da konnte ich sein. Das Tierische war ich von zu Hause gewohnt, auch dort hatte ich allerlei Getier auf dem Balkon und in diversen Terrarien. Es war meine kleine Welt, die es heute nicht mehr gibt, die aber in meinem Kopf noch frisch ist. Manchmal hatte man auch seine Erlebnisse, ob zu Hause oder in der Schule.

Ich saß mit meinen Kollegen zusammen und dachte nach, als der Hausmeister auf mich zukam. Er drängte ein wenig. „Warum hast du Angela die Tiere gezeigt?“, fragte er leise, fast im Flüsterton. Ich starrte ihn an. „Weil sie Tiere mag und ein bisschen schwanger ist …“ Sein Gesicht verfinsterte sich: „Genau.“ Ich verstand nichts und ließ ein gedehntes „Ja und“ hören. „Das kannst du doch nicht machen“, wurde er plötzlich lebhafter. „Wenn schwangere Frauen Angst vor Ratten haben, bekommen die Kinder ein Mäusefell.“ Mahnend hob er den Zeigefinger. „Das waren Meerschweinchen, keine Ratten, und außerdem ist das Aberglaube.“ Unser Mystiker ließ sich von meiner Bemerkung nicht beeindrucken und schilderte mir in allen Farben, was alles passieren kann, wenn man Frauen mit Pelztieren erschreckt. Ich war erstaunt über seine plötzliche Gesinnung. Vor mir sah ich eine zerlumpte mittelalterliche Figur, im Hintergrund grollten dunkle Wolken, eine schwarze Katze lief von links nach rechts. „Du spinnst“, unterbrach ich seinen Redeschwall. Plötzlich brach das bedrohliche Bild vom Untergang der Maus zusammen und er zischte beleidigt: „Du wirst schon sehen“.

Später brachte die Kollegin ein gesundes Baby zur Welt, ohne Mäusefell. Als ich ihn darauf ansprach, zuckte er nur mit den Schultern: „Hätte ja sein können.“ Gott sei Dank hatte Mutter Natur ein Einsehen und für dieses Kind kein Mäusefell vorgesehen.

Unser Minizoo an der Schule existierte von 1987 bis 2009. 1989 kam ich an die Heine Schule und brachte meinen Minizoo mit mehreren Terrarien auf dem Handwagen aus meiner ehemaligen Schule (25. POS, Friedrich-Engel), mit, die heute nur noch ein Parkplatz ist. In dieser Schule war der Biologie Raum mein Reich. Kein Lehrer wollte in diesem Raum Unterricht oder Vertretung machen. Die gesamte Wand neben der Tafel hatte Regale mit Terrarien. Dort gab es Hasen, Meerschweinchen, Ratten, Mäuse. Die machten, was Tiere halt so machen, hoppeln, laufen, springen, quietschen, Möhren raspeln, Brot knuspern und nun ja, es roch nach Tier. Das waren Großstadtkinder und -lehrer nicht gewohnt. Einige Kollegen monierten den Geruch, einige die „ekligen“ Tiere, aber am schlimmsten empfanden die meisten das Gewusel. „Die Schüler gucken nur zu dem Viehzeug… Normaler Unterricht ist nicht möglich. Tiere gehören nicht in die Schule.“ Zu der Zeit ging es nicht um Naturschutz, sondern um die eigenen Bedürfnisse. Wie auch immer, ich setzte mich durch, hatte die Wand, meine Tiere, meine Ruhe und meine eigenen Schüler waren das durchaus gewöhnt. Wir sprachen halt darüber. Es waren fast alles Tiere, die schon ein gewisses Alter auf den Buckel hatten und teilweise ausgesetzt waren. Außerdem hatte ich eine AG „Tierpflege“, so wurde das ganze irgendwie doch toleriert. Beim Umzug in die heutige Heine Schule, war man über die Aufstockung des dortigen Minizoos begeistert. Man hatte schon zwei Jahre zuvor eine eigene Ecke eingerichtet, in die ich mich integrierte. In einen Klassenraum durfte aber kein Terrarium aufgestellt werden. Ein Aquarium konnte ich mir aber nicht verkneifen.

Doch nun zur Geschichte an sich, die sich kurz vor besagtem Umzug abspielte. Meine Mentorin, eine ältere Grundschullehrerin mit fast weißem Haar, die mich aus irgendeinem Grund ins Herz schloss, unterstützte mein Projekt an der alten Friedrich-Engels-Schule, wo ich seit 1985 den Schülern vorgesetzt wurde und besagte AG gründete. Ihre sanfte Art beruhigte mein wildes Ich und den Choleriker in mir. Sie schaffte es schnell mich auf Null zu schrauben, was nicht immer einfach war. Die Welt war halt ungerecht und ich mittendrin. Wie auch immer, passierte es damals, dass meine 8 Mäuse ausbrachen. Ich könnte jetzt behaupten, ich weiß nicht wie es geschah. Aber ich weiß eben auch, dass ich mich leicht ablenken lasse und so manches halt offenblieb. Irgendwas muss man ja mit seinen Schülern gemeinsam haben.

Am nächsten Tag meldeten mir Schüler aufgeregt, dass Mäuse durchs Schulhaus flitzten, so zehn bis zwanzig Stück, wie der Hausmeister meinte. Das war natürlich weit übertrieben, änderte aber nichts daran, dass meine Tierchen eben weg waren. Alle 8 Mäuse, mehr waren es nun mal nicht. Also log ich den Hausmeister wahrheitsgemäß an: „Meine können es nicht sein, ich habe nur acht!“ Aus irgendeinem Grunde glaubte er mir und kontrollierte nicht weiter. Meine Minizooleute hatte ich längst angewiesen, sie sollen heimlich Ausschau halten und die Viecher einfangen und keinem etwas sagen, sonst müsse der Minizoo geschlossen werden. Obwohl das meine zweite Sünde war und ich wieder log, konnte ich mich auf meine Truppe verlassen und sie hatte die ausgebrochene Bagage bald eingefangen. Sie ließen sich die absonderlichsten Sachen einfallen, um den Unterricht zu verlassen und auf Suche zu gehen. Eine musste zum Sekretariat und etwas Dringendes abholen, einem zweiten wurde wahnsinnig schlecht, ein Dritter hatte seine Mutter herbestellt. Ein weiterer hatte eine Maus in seinem Klassenzimmer gesehen, sie sich schnell gegriffen und in seinen Ranzen bugsiert. Eine ganze Mathestunde beschäftigte er sich heimlich mit dem Tierchen in der Tasche und teilte mit ihm sein Frühstücksbrot. Schnell hatten wir alle 7 eingefangen. 7? Ach du liebe Zeit, eine fehlte, eine wunderschöne weiße Maus. Der Hausmeister hatte sie aber inzwischen leider gesehen und verdächtigte mich natürlich. Welch absurde Idee! Ich zeigte ihm das Terrarium an dem stand „8 Mäuse (1,7)“, was bedeutete eine Männchenmaus und sieben Weibchenmäuse wohnten hier. Ich zählte sie ihm vor und da Mäuse sehr schnell sind, konnte ich eine Maus zweimal zählen. Also konnte logischerweise die von ihm gesichtete Maus nicht aus meinem Minizoo stammen. Gut das war die dritte Lüge und ich nahm, die Hölle in Kauf. Doch wo war nur die verflixte weiße Maus?

Inzwischen war Ingrid Z., meine Mentorin, mit ihrer fünften Klasse von einer Wanderung wiedergekommen. Die Kinder standen vor der Klassenraumtür und zappelten ein wenig herum. Mahnend hielt Ingrid den Zeigefinger in die Luft. „Wir müssen jetzt ganz leise in den Raum gehen“, sagte sie in ihrem typischen Grundschullehrerton. „Der Lauteste von euch verwandelt sich nämlich sonst in ein Mäuschen!“, sprachs, machte die Tür auf und starrte auf ihren Lehrertisch, wo eine weiße Maus brav saß und sich putzte.

Ingrid alarmierte mich und ich machte auf den Schreck eine Mäusestunde sehr zur Freude der Kinder. Sie nahm mich später ins Gebet erzählte mir das ich sorgfältiger sein müsse, manche meinen Minzoo nicht so gut fanden und ich nicht all das Gute was ich tat nicht mit dem Hintern einreißen sollte. Im Prinzip die üblichen Ermahnungen, die mich schon immer begleiteten. Doch bei Ingrid kam noch ein verschmitztes Lächeln hinzu und als ich ging sagte sie noch: „Aber eigentlich bin ich der Maus dankbar.“ Mein weißes Mäuschen bekam an diesem Tag eine Sonderportion und ich sonnte mich bei diesem versteckten Lob.

 

Der Schulclub der Heineschule war Anlaufstelle für viele Schüler aus der Umgebung. Dort gab es Spielautomaten, einen Kraftraum, einen Tischtennisraum und eine Art Treffpunkt mit Getränkeausschank. Natürlich gab es nur alkoholfreie Getränke. Man saß gemütlich zusammen, in der Woche meistens bis 16:00 oder 17:00 Uhr. In den großen Pausen war der Schulclub für alle Schüler geöffnet und man verpflegte sich dort.

So auch an diesem Donnerstagnachmittag gegen 17:00 Uhr. Unter den anwesenden Schülern war ein Typ, nennen wir ihn Chris, groß, schlank, gut gebaut und ein echter Mädchenschwarm. Er war in meinen Augen ein arroganter und überheblicher Typ, der meistens mehrere Freundinnen hatte und sie nach Strich und Faden betrog. Man hätte fast eifersüchtig werden können, aber sein Charakter war anerkannt fies. Die Mädels bekamen seine Seitensprünge mit, aber einige schienen ein sehr gutes Kurzzeitgedächtnis zu haben, denn sie vergaßen es kurz darauf und schmachteten ihn wieder an. Aber ich dachte an diesem Tag nicht mehr an ihn, denn ich war mit Aufräumen beschäftigt. Ich wollte endlich nach Hause. Langsam leerte sich der Schulclub und auch Chris ging mit einem Freund, ohne sich zu verabschieden. Aber das kannte ich ja von ihm.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass genau dieser Chris auf der B80 tödlich verunglückt war. Im Schulclub herrschte an diesem Tag Trauer. Die Mädchen weinten sich die Augen aus und beschimpften die Schlampe, die ihn überfahren hatte. Ich erfuhr, dass die Frau betrunken gewesen sein soll und Chris keine Chance hatte zu entkommen. Irgendwann tauchten Leute von der Bildzeitung im Club auf und wollten die Gruppe interviewen. Als sie im Club fotografieren wollten, lehnte ich ab. Sie gingen, aber nicht ohne eine Gruppe Jugendlicher hinter sich zu lassen. Zwei Tage später stand in der Zeitung ein Artikel über den tragischen Tod eines Jugendlichen, der von einer alkoholisierten Frau überfahren worden war. Auf dem Bild über dem Text knieten in großer, fast schreiender Aufmachung einige Mädchen weinend mit Blumen, um sie herum standen seine Freunde. Das besonders traurige Mädchen in der Mitte des Bildes sollte seine Freundin sein, mit der er angeblich Zukunftspläne schmiedete. Ich war erstaunt, denn ich kannte das Mädchen. Die angebliche Freundin war am Tag des Fotoshootings zufällig im Club. Eigentlich mochte sie Chris nicht einmal, weil er ihre Freundin schamlos ausnutzte. Das hatte sie mir ein paar Wochen vorher selbst erzählt. Ein paar andere Typen auf dem Foto mochten Chris überhaupt nicht, weil er ihnen die Mädels ausspannte. Da ich die Bild-Zeitung sowieso nicht mochte und ihre verdrehte Berichterstattung schon am eigenen Leib erfahren hatte, versuchte ich in den nächsten Tagen durch Gespräche herauszufinden, was wirklich passiert war.

Nach und nach ergab sich ein ganz anderes Bild. Chris war nach dem Clubbesuch mit seinem Freund Richtung B80 gelaufen, sie wollten noch etwas abhängen, hatten sich Bier gekauft. Meistens gingen sie zu den Kleinen Teichen. Da sie auf dem Weg dorthin schon einige Biere getrunken hatten, entschloss sich Chris zu einer Mutprobe. Er wollte die B80 nicht über die Brücke überqueren, sondern lief einfach über die Fahrbahn, obwohl Feierabendverkehr herrschte. Die junge Frau am Steuer hatte keine Chance. Sie fuhr die erlaubten 100 Stundenkilometer, war sogar noch darunter, als in der Dämmerung plötzlich ein sich drehender und Bier schwenkender junger Mann auftauchte. Obwohl sie sofort lenkte, wurde Chris schwer getroffen. Er starb wenig später an seinen Verletzungen. Seine Selbstüberschätzung brachte ihm den Tod und der jungen Frau einen Amoklauf durch die Presse. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch, wurde beschimpft und hatte allein durch den schlecht recherchierten Artikel keine Freude mehr am Leben.

Ich empfand Trauer, aber eigentlich mehr für die Frau, deren Leben zwar weiterging, aber mit großen Schuldgefühlen und falschen Anschuldigungen. Eine Woche später tauchte auch noch die beste Freundin im Schulclub auf und knutschte wild mit einem anderen Zukunftsplan herum. Wer war Chris?

Eine Delegation der Heinrich-Heine-Schule zu Halle/Saale besuchte im Januar 2011 die tschechische Bruderrepublik, um sich mit den Mysterien der dort ansässigen Erdschweine auseinanderzusetzen. Nachdem sie zu frostiger Stunde artig den Bus erwarteten, streiften sie kurz darauf den Fichtelberg und besetzten denselben. Nach eingehender Begutachtung des Geländes und diverser Getränke beschloss die zitternde Delegation von hinnen zu reisen und im weiteren Verlauf die Tschechei einzunehmen. In dem Städtchen wo die Geliebte Karls des IV. nach einer Nacht fragte: „Karlo wie war i“, zu Deutsch Karlovy Vary, bewunderten wir zuerst das sozialistische Denkmal des steinernen Hotels um hernach diverse Zigarettenstände zu begutachten und uns mit den Feinheiten böhmischer Küche vertraut zu machen. Ab und an ließ auch dieser oder jener ein Och und Ach, ob der schönen Gebäude hören, obwohl das Klappern der Zähne gemeinhin weitaus mehr hörbar war. 40 oder 50 legal erworbene Stangen Zigaretten und Oblaten weiter, kamen wir in Loket an.

Loket ist ein kleiner Ort, der sich in den Ellbogen des Egers eingekuschelt hat. Hier herrschten bei unserer Ankunft minus 5 Grad und ca. 3000 Einwohner. Das war nicht weiter schlimm, weil wir unser eigenes Hotel hatten und unser eigenes Essen. Dies war vor den Bewohnern in einer 3m tiefen Grube geschützt. Aus dem Leben des Schweines erfuhren wir nichts, aber viel bei einem 500 Meter langen Stadtrundgang. Nach diesem kulturhistorischen Genuss wurde das Erdschwein aus der Grube geborgen und unter Applaus zerteilt, um dann erst auf Tellern und dann in Bäuchen verteilt zu werden. Das Erdschwein hatte nur ein kurzes Leben und eine noch geringere Halbwertszeit. Die abschließende Dienstberatung konnte leider nicht zu Ende geführt werden, da der Walzer und andere sehr schöne Schlager den Vortrag durch Becherovka und Bier ersetzten. Trotzdem kamen noch diverse Klassenkonferenzauswertungen zum Tragen. Auch ein Bier und ein Schnaps können einen echten Lehrer nicht verdrängen. Nur der Hausmeister schwieg, er dachte wohl ans Nageln.

Nach der abendlichen Dienstbesprechung und weiteren Trinksprüchen ging es morgens zum gemeinsamen Frühstück. Die Männer servierten ihren Frauen Kaffee und hartgekochte Eier, was diesen sehr gut schmeckte. Das Frühstück verging wie im Fluge und wir machten uns auf den Weg zum Schloss. Inmitten von Gängen und altem Gemäuer wurde uns die mittelalterliche Zucht und Ordnung demonstriert und jeder wunderte sich, warum das nicht mehr der psychologische Ansatz der heutigen Schulpolitik sein sollte. Doch als frischgebackene Erdschweinesser fanden wir die eisernen Werkzeuge der Folterkammer dann doch zu hart, hatten noch ein Rendezvous mit seltenen Porzellanfiguren und dann ein Stelldichein am Bus, der uns belud und gen Heimat transportierte. Unterwegs trafen wir noch auf Franzisbad und diverse „Kleine Feiglinge“ und andere Liköre. In Eger wurde neben einer Stadtbesichtigung die Markthalle mit starkem Euro aufgekauft. Nach dem langsamsten Essen (Bestellzeit 50 Minuten) der Welt verabschiedeten wir uns von Chleb und zogen uns hinter die Grenze zurück. Diverse Schlager und andere Muntermacher mit sehr anregenden Texten wie „Komm unter meine Decke, du Schnecke“ begleiteten uns in die Heimat. Nachdem wir die Schnecke hinter uns gebracht hatten, konnten wir sagen: „Mann eh, war das schön“, stiegen in die Autos und danach zu Hause auf die Couch.

 

Es war kurz nach der Wende. Das Land krempelte sich um. Alte Strukturen gingen, neue kamen hinzu, es wendete sich unter dem Himmel in Halle-Neustadt an jeder Ecke. Manchmal ganz leise, manchmal auch ziemlich laut. Es war die Zeit, als man Direktoren aus dem Kollegium wählte. So auch Ingo, ein schlaksiger Lehrer, der einen guten Ruf hatte, dem man aber beim ersten Hinsehen eher einen Naturburschen mit Woodstockfeeling ansah. Wie dem auch sei, man machte ihn zum Direktor der Heine Schule. Wir kamen beide gut aus und er förderte meinen Minizoo und auch den Schulclub, der sich im Keller befand und den ich jede Pause und am Nachmittag bis 16.00 Uhr betrieb. Ab und an war er Gast da unten. Wir hatten dort eine Schülerbar, einen Tischtennisraum, einen Kraftsportraum und es trafen sich dort Schüler aus unserer und anderen Schulen. 4 Mädchen und zwei Jungen waren jeden Tag als feste Schulclubmitglieder mit dabei und halfen beim Verkauf oder der Betreuung in den Sporträumen. Das alles gibt es heute nicht mehr, der Schulclub ist heute einem Pausenverkauf gewichen. Alles ist in der Jetztzeit viel organisierter, bürokratischer und lehrerhafter.
Eines Tages, ich hatte gerade eine Biostunde angefangen, riss Ingo die Tür auf. „Du musst sofort mitkommen, ich habe einen Anruf von Herrn R.“ Herr R. war der Direktor einer Schule im Osten Halle- Neustadts, Nahe der Feuerwache. Unsere Schuler nutzten dort im Fach Wirtschaft die Küche, weil wir selbst keine hatten. Ingo hatte schon eine Vertretung für mich im Schlepptau. Wir liefen eiligst zu seinem Trabant und meine erste Frage war: „Worum geht’s?“ „Die 10d“, zischte er und sein Blick verfinsterte sich. Ich ahnte Schlimmes. In der 10d befanden sich ein Grüppchen von 6-8 Jungen, die stark rechts eingestellt waren und die hatten heute Wirtschaft in der Schule von Herrn R. „Wir müssen die abfangen und zu uns zurückbringen.“

Kaum waren wir angekommen, bot sich uns ein seltsames Bild. Vor der Schule hatten sich mehrere (es waren mindestens 80) Schüler aufgestellt, mit Knüppeln bewaffnet. An verschiedenen Ecken standen Fotografen und warteten auf das, was da kommen würde. Polizei ward nicht gesehen. Ingo bahnte sich einen Weg zum Direktor, der hilflos in der Eingangstür stand und nicht wusste, was er machen sollte. Ich stand vor den Massen und war entsetzt. Die Gesichter sagten nichts Gutes aus. Endlich erblickte ich einen Jungen, den ich vom Schulclub her kannte. Ich ging auf ihn zu. „Worum geht es hier?“ „Die rechte Sau Stephan hat gestern die Mutter von ihm hier“, er deutete auf seinen Nachbarn, „dafür wird er büßen.“ „Wie jetzt zusammengeschlagen?“, bohrte ich. Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich am Abend zuvor eine Auseinandersetzung mit der rechten Gruppe gab. Das Zusammenschlagen der Mutter entpuppte sich allerdings als ein nicht gewollter Schlag von Stephan, weil die Frau unvermutet dazwischenging. „Ah ja und deswegen der ganze Pulk mit Knüppeln für einen Mann“, ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. Inzwischen hatte sich eine ganze Gruppe um mich und meinen beiden „Gesprächspartnern“ gescharrt, die durcheinanderschrien. „Der hat ja noch seine Faschos mit…Die kriegen eine auf die Labbe… Totschlagen das Gesocks…“ Es herrschte eine brodelnde, gefährliche Stimmung. Jeden Moment konnte auch die Jungensgruppe der 10 d auftauchen. Sie ahnten noch nichts von dem, was hier abging. Ingo kam dazu. „Nun beruhigt euch mal, ihr könnt hier nicht Krieg spielen.“, mahnte er. Vor ihm baute sich ein Typ mit einem riesen Knüppel auf. „Sagt wer?“ Warum ich daraufhin dem Typen den Knüppel wegkickte, weiß ich nicht, aber seltsamerweise wachse ich bei brenzligen Situationen über mich heraus. Das war schon in meiner Jugend so, als mich in der achten Klasse zwei Typen auf den Kicker hatten, mir nachstellten und auch mal ins Gesicht schlugen. Solange ich flüchten konnte war alles gut, bis auf das eine Mal, als sie mich auf dem Schulhof in eine Ecke gegen einen Holzzaun drängelten. Da war kein ausweichen möglich. In meiner aufkommenden Wut, bei der die Angst völlig von mir wich, brach ich eine Latte aus dem Zaun und schlug die Beiden in die Flucht. Dabei hatten sie noch Riesenschwein, da in der Latte noch 80iger Nägel steckten. Zum Glück hielt ich in der Raserei die Latte verkehrt herum. Seit diesem Tag gingen sie mir tunlichst aus dem Weg.

Der Typ, nun ohne Knüppel, starrte mich fassungslos an. Ich schaute ihm lange in die Augen und sagte ganz langsam und ruhig: „So jetzt lässt sich‘s vernünftig reden.“ Dann drehte ich mich zu dem Pulk und rief laut: „Ich schlage vor wir klären das in meinem Schulclub in aller Ruhe. Da kommen die Leute, die es betrifft und du“, ich zeigte auf den knüppellosen Typen, der immer noch vor sich hinstarrte, „dann der Stephan und da kotzen wir uns aus. Das was ihr hier veranstalten wollt, hilft niemanden, ist feige und hat auch bittere Konsequenzen. Und die Reporter“, ich sprach jetzt extra laut, schrie schon fast, „scheren sich keinen Deut um euch, die wollen nur ihre Story. Das ist genauso Schwachsinn.“ Ingo unterstützte mich, hielt auch eine kleine Rede und wir hatten uns nach einigem Hin und Her geeinigt. Der Pulk strömte langsam ins Schulhaus zurück, die Knüppel flogen in die Büsche, die Reporter sahen ein, dass hier nichts mehr zu holen war, als plötzlich unsere rechte Gruppe auftauchte. Ich begab mich sofort zu ihnen. Sie hatten aber die Situation schon gecheckt. ich sagte ihnen, was wir mit den Schülern vereinbart hatten und sie stimmten sichtlich erleichtern zu, natürlich nicht ohne ein paar blöde Bemerkungen über Zecken. Die Sache war erledigt, dachte ich, als plötzlich aus dem Nichts der Achte im Bunde um die Ecke bog und laut schrie: „Nieder mit den Zecken.“ Der Typ war einfach betrunken und kam deshalb zu spät. Mit einem gewaltigen blitzschnellen Lauf, den ich mir selbst nicht zugetraut hätte, lief ich auf den wild gestikulierenden Typen zu, riss ihn zu Boden, nahm ihm am Hals, hob die Faust und flüsterte ihm rasend vor Wut ganz nah ins Gesicht: „Solltest du nur ein Wort sagen, mache ich dich fertig. Atme nicht mal laut“ Seine Gruppe sammelte ihren völlig verwirrten Genossen auf und wir gingen gemeinsam zur Straßenbahn. Ingo hatte mich im Hintergrund abgesichert und ein paar Restschüler die erstaunt die Szene betrachten, auf Abstand gehalten. Meine rechte Gruppe war recht schweigsam und Stephan bezahlte mir die Fahrt zu unserer Schule. Im Schulclub verbrachten wir noch die Restzeit bis zur nächsten Stunde. Ich gab eine Cola aus und man setzte mich von den ganzen Vorfällen am Vortag in Kenntnis. Ich war erleichtert. Erst viel später wurde mir der ganze Ernst der Lage bewusst, als ich schweigsam allein im Schulclub saß und eine rauchte. Ich glaube, ich habe noch die nachfolgende Stunde einfach geschwänzt. Aber das war mir in diesem Moment völlig egal.

Epilog
Zu einer Aussprache kam es im engeren Sinne nie, aber man besuchte mich ab und an. Das war schon seltsam, Zecken und Rechte zusammen in einem Gespräch, aber das sollte ich noch des Öfteren erleben.

 

Sonstige Geschichten

Vom Füße baumeln lassen, Sirenen und Efeuerinnerungen
(oder wie der Krieg uns hinterher zog)

Von Renate Richau (meine Mutter)

Ich, Renate Richau, geborene Meywald, wurde am 20.10.1938 in Taucha bei Leipzig geboren. Es war das Jahr, in dem Hitler den Krieg vorbereitete, dessen Ende ich noch erleben sollte. Fast drei Jahre später, 1941, kam mein Bruder Peter in diese scheinbar noch friedliche Welt. Eine Woche später überfielen deutsche Truppen die Sowjetunion.  Doch in der Haizinger Gasse 5 in Wien, wohin wir nach seiner Geburt zogen, erlebten wir vorerst eine glückliche Kindheit, die ich hauptsächlich in der Wohnung verbrachte. Wenn ich raus durfte, verließ ich trotz Verboten den Hof. Es zog mich einfach hinaus in die Welt oder auch nur zum nahe gelegenen Parkteich. So war ich eines Tages plötzlich verschwunden, als meine Mutter nach mir rief. Eine Nachbarin kam ihr zu Hilfe und fragte: „Suchen Sie Ihre Tochter? Am Teich um die Ecke ist ein kleines Mädchen mit einer weißen Schleife im Haar und einer Puppe im Arm“. Meine Mutter seufzte: „Ja, das ist sie. Sie ist schon wieder weggelaufen. Es sollte nicht das letzte Mal sein. So war es kein Wunder, dass ich noch ein weiteres Mal durch die Straßen lief, bis mich ein Polizist aufgriff und mit aufs Revier nahm. Als mein Vater mich abholen wollte, wollte ich das nicht. „Nein“, protestierte ich, „es ist so schön hier.“ Schließlich waren die Polizisten nicht nur nett, sondern spielten auch mit mir, was ich sehr genoss.

Zu Hause mussten wir durch das Wohnzimmer gehen, das links eine große Flügeltür hatte. Durch diese gelangten wir in unser Kinderzimmer, das zum Spielen viel zu klein war. Immerhin hing am Türrahmen eine Schaukel. Also suchte ich mir zum Entsetzen meiner Eltern einen anderen Spielplatz. Es war die Fensterbank im ersten Stock. Ich schaute mir die Welt von dieser Fensterbank aus an und ließ meine Beine nach außen baumeln. Unser Arzt, ein Nachbar, sah das von der Straße aus und klingelte bei uns. Als meine Mutter öffnete, legte er den Finger auf ihre Lippen: „Seien Sie leise und bleiben Sie hier im Flur“. „Was ist denn los?“, fragte meine Mutter irritiert. Doch schon war der Arzt an ihr vorbei, schlich ins Kinderzimmer und holte mich von der Fensterbank. Wenig später war das Fenster vergittert, mein Lieblingsspielplatz gesichert und mir versperrt. Daraus entwickelte sich bald meine Leidenschaft, Spielsachen aus dem Fenster zu werfen. Es drängte mich nach draußen und ich wollte wohl auch die Aufmerksamkeit der Passanten auf mich ziehen.

Eines Tages kamen meine Eltern aus dem Kino und bemerkten die hell erleuchtete Wohnung. Ratlos fragten sie sich, was wieder geschehen war. Schnell öffneten sie die Tür und fanden mich, meinen Bruder und meine Schwester Gisela, Jahrgang 1943, damals noch ein Baby, friedlich schlafend im Ehebett. Aber was war hier geschehen? Nun, wir waren allein und meine Gisela schrie wie am Spieß. Also nahm ich sie kurzerhand und legte sie in die Ehebetten meiner Eltern. Dann holte ich meinen Bruder, der inzwischen auch durch das Geschrei aufgewacht war.  Ich legte ihn auf den Boden und da er mir zu schwer war, zog ich ihn kurzerhand über den frisch gebohnerten Boden zu meiner Schwester. Er war natürlich ganz schmutzig und das Bett auch. Warum ich meine Schwester nicht einfach in mein Bett gelegt hatte, blieb ein ungelöstes Rätsel? Aber die Welt war nicht immer einfach. Schon gar nicht 1944 in Wien. Es war die Zeit der ständigen Bombenalarme in der österreichischen Hauptstadt. So auch am 10.09.1944, als ein Angriff stattfand. Es gab den üblichen Sirenenalarm und wir mussten in den Luftschutzkeller. Meine Mutter ging mit zwei Kindern auf dem Arm voraus und ich trödelte hinterher. Plötzlich fielen die ersten Bomben. Lärm, Schreie, Explosionen, ich bekam Angst und schrie nach meiner Mutter. Ein Stein traf mich. Ich war kurz benommen und wurde in den Luftschutzkeller gezogen. Er war klein und dunkel, draußen krachte es, Steine flogen gegen die Tür. Nach der Entwarnung konnte die Tür nicht geöffnet werden, weil sie zugeschüttet war. Verzweifelt suchten die Menschen nach einer Lösung und fanden sie – in mir. Ich war klein und passte durch die Öffnung eines zerbrochenen Fensters. Endlich draußen, musste ich viele Steine wegräumen, während mir die Eingeschlossenen durch das Fenster Anweisungen gaben. Irgendwann zwängte sich ein Erwachsener durch den Türspalt und konnte nun auch die anderen befreien. Bald war auch meine Mutter wieder bei mir, und wir gingen nach Hause. Plötzlich wurde mir bewusst, was um mich herum geschehen war. „Hier liegen Menschen“, rief ich erstaunt. Meine Mutter reagierte barsch: „Schau nicht hin, räum die Steine vor unserer Haustür weg.“

In unserer Wohnung erwartete uns das Chaos. Im Schlafzimmer muss eine Bombe eingeschlagen sein. Die Tür hing in den Angeln und die Möbel, oder was davon übrig war, standen im Erdgeschoss. Mama konnte in den Himmel sehen, weil es keine Fenster mehr gab. Einige Möbelstücke schienen überlebt zu haben, zerfielen aber sofort bei Berührung. Nur der Sanitärkasten hing ironischerweise noch an der Schlafzimmerwand, als wäre nie etwas passiert. Im Hof unserer Wohnung lebte eine angekettete große Schildkröte, die wie durch ein Wunder den Bombenhagel an diesem schicksalsschweren Tag überlebt hatte.

Uns blieb nichts anderes übrig, als eine neue Bleibe zu suchen, und so zogen wir im Herbst 1944 nach Zittau. Mein Vater fand dort eine neue Arbeit und ich musste ihm immer das Mittagessen bringen. Einmal verspätete ich mich und lief einfach durch den Schlagbaum. Ich wusste nicht, wie gefährlich das war, denn auf dem Gelände waren auch Häftlinge.

Meinen Eltern war das alles zu unsicher und so verließen wir Zittau schon Anfang 1945 in Richtung Schwerin zu meinem Großvater, der dort eine Waldgaststätte besaß. Zuerst aber gingen wir zwischen zwei Bombenangriffen zu Fuß durch Dresden. Während eines Angriffs wollten wir in einem Luftschutzkeller Schutz suchen, aber eine Frau leitete uns in einen anderen Bunker um. Das war unser Glück, denn der ursprüngliche Bunker wurde getroffen und völlig zerstört. Als wir wieder auf der Straße waren und die Nachricht hörten, bekreuzigte sich meine Mutter, was ich seltsam fand, weil ich das bis dahin nicht kannte. Sie blickte in den Himmel, aus dem die Bomber gerade verschwunden waren, und seufzte: „Gott sei Dank, wir leben noch“. Für uns war es die Hölle. Als einer ihrer Söhne Jahre später in einem Museum Bilder von den Bombennächten betrachtete, sagte er betroffen: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was du erlebt hast“.

Wenige Tage nach diesem Inferno waren wir in Halberstadt. Unser Zug wäre nur nach Hannover gefahren, also entschied mein Vater: „Wir bleiben hier.“ Immerhin wohnte mein Onkel Alfred in der Spiegelstraße und wir bekamen eine Unterkunft auf dem Boden. Aber auch hier holten uns die Sirenen und die Bombenangriffe ein. Am 8. April 1945 trafen die Bomben Halberstadt und die ganze Altstadt ging in Flammen auf. Nach dem Fliegeralarm flüchteten wir in die Malachithöhlen, die den Nazis noch als Flugzeugteilewerk gedient hatten. Später wohnten wir in einer Baracke in der Nähe. Eines Tages kamen amerikanische Soldaten und durchsuchten alles. Sie kamen mit Gewehren, schrien und richteten sie auf meine Mutter. Mein Vater versteckte sich in einem Schrank und wir standen davor. Alle haben geweint.

Nach dem Krieg, im Sommer 1945, bekamen wir eine anderthalbzimmer Wohnung in der Friedensstraße. Jedes Mal, wenn Soldaten vorbeimarschierten, steckte ich meine kleinen Hände durch das Gitter unseres Vorgartens und bettelte um etwas Schokolade. Manchmal bekam ich welche und war unendlich glücklich. Der Krieg war zu Ende, die Sirenen verstummten endlich. In Erinnerung blieb mir eine Efeuranke, die am Haus emporwuchs und mich in dieser Zeit ein wenig begleitete. Ein seltsames Symbol, das mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist.

Im September 1945 wurde ich in das städtische Gymnasium eingeschult. Später wurde daraus die Käthe-Kollwitz-Schule. Aber der Anfang war sehr schwer für mich. Jedes Mal, wenn es klingelte, wollte ich nach Hause laufen, weil ich dachte, es sei Bombenalarm. Meine Mutter musste mich beruhigen und auch die Lehrerin. Sie sagte dann ganz ruhig: „Bleib! Das ist nur das Pausenzeichen.” Langsam kam ich zur Ruhe, auch wenn mich bis heute die Sirenen erschrecken und Erinnerungen wach werden.

Kaum war ich in die Schule gekommen, wurde im September 1945 meine Schwester Erika geboren. Oft musste ich auf sie aufpassen. Eines Tages spielte ich in den Trümmern. Bald war es Zeit, nach Hause zu gehen, als mich auf dem Weg plötzlich meine Spielkameradin anrempelte und fragte: „Hattest du nicht vorhin einen Kinderwagen bei dir?“ Erschrocken rannte ich zurück und holte ihn. Ich war unbeschreiblich glücklich, alles war gut. Der Frieden hatte mich eingeholt und mit ihm auch ein wenig Sorglosigkeit.

Im Oktober 1945 fuhr ich mit meiner Mutter nach Zittau, um unsere Möbel zu holen. Wir mussten zur Polizei, um die Erlaubnis zu bekommen, die Wohnung zu betreten. Ein Polizist begleitete uns zur Wohnung und befahl der Mieterin, uns einzulassen. Als sich die Tür öffnete und ich das Wohnzimmer sah, rief ich: “Oh, unsere Wohnung! Oh, unsere Wohnung“. So war die Sache schnell geklärt und meine Mutter konnte alles Nötige in die Wege leiten. Es war der 20. Oktober und ich saß inzwischen im Hotel. Mir standen die Tränen in den Augen. Jemand fragte mich, was los sei. Ich schluchzte und erzählte, dass ich heute Geburtstag hätte, meine Mutter beschäftigt sei und ich kein Geschenk bekäme. Man hatte Mitleid mit mir und gab mir eine Cola. Meine kleine Welt war wieder in Ordnung.

Die nächste Wohnung war dann in der Rudolf-Breitscheid-Str. 12. Dort hatten wir eine Art Flachdach mit Kaninchen. Zusammen mit Peter, meinem jüngeren Bruder, musste ich die Tiere oft füttern. Doch einmal vergaßen wir, die Stalltüren zu schließen, und unser Vater stand vor den vielen freilaufenden Kaninchen. Das hatte zu unserer großen Freude Folgen. Es gab einige Nachkommen. 1948 zogen wir in die Kantstraße. In der Nähe war das Sommerbad und ich entdeckte meine Liebe zum Schwimmen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir Kinder haben den Krieg trotz Bomben überlebt, nicht zuletzt dank meiner Mutter, die leider 1972 viel zu früh verstarb. Ich erinnere mich gerne und mit Hochachtung an sie.

Auch als Podcast hier vorhanden…

Darf ich vorstellen: Lothar. Ein rundlicher Typ, ein fantasievoller Typ, der es immer wieder schafft, in den Himmel aufzusteigen und wieder auf dem Boden zu landen. Bildlich gesprochen. Lothar wachsen manchmal Engelsflügel, die für andere Menschen wunderbar und praktisch sind. Ein bisschen zupfen hier, ein bisschen zupfen da, und schon kann Lothar ein bisschen aufsteigen, aber auch schnell wieder abstürzen. Bildlich gesprochen. Lothar ist in einer Kreativgruppe. Dort gibt es so etwas wie aktive Freizeitgestaltung, also ein bisschen hier, ein bisschen da. Und weil gerade nicht so richtig Saison ist, sondern Corona, machen alle nicht so viel. Verheiratet ist Lothar auch, seit ewigen Zeiten. Mit seiner Frau und noch nicht ganz so lange mit Helena, seinem Computer. Und Lothar hat Ideen, ganze Wagenladungen voll. Die meisten liegen irgendwo herum und fristen ihr Dasein in Schubladen oder lümmeln auf der Festplatte. Einige Ideen macht er mit der erwähnten Truppe. Die müssen sich das alles anhören, sind dafür oder verdrehen die Augen, stimmen lächelnd zu und lassen ihn machen oder helfen mit. So lebt es sich ganz gut in der Truppe. Das hätte bis in alle Ewigkeit so weitergehen können, wenn Lothar nicht wieder einmal so eine komische Idee gekommen wäre, verwegener als der legendäre Ikarus. Der kam bekanntlich der Sonne zu nahe und stürzte ab.

Daran dachte Lothar nicht, als er die Idee ausbrütete. Schließlich stand die Weihnachtszeit vor der Tür und wegen der erwähnten Pandemie war draußen nichts los, außer den vereinzelten Maskierten. Also dachte sich Lothar einen besonderen Weihnachtskalender aus. Jeden Tag wollte er per Internet ein Rätsel aus der Truppe schicken, das die Mitglieder lösen konnten. Es sollte Punkte geben und am Ende eine Überraschung für den Gewinner. Er schlief über der Sache, fand die Idee gut und ahnte nicht, was auf ihn zukommen würde. Aber das wissen Menschen, die zuerst ein laues Lüftchen spüren, auch nicht, wenn ihnen kurz darauf ein Sturm um die Ohren bläst und sie wenig später ihr Häuschen im Orkan verschwinden sehen. Nun, ein Orkan sollte es nicht werden, eine Katastrophe schon. Aber das wusste Lothar noch nicht und seine Truppe war guter Dinge, als sie von dem Plan erfuhren. Rätsel, Punkte, tolle Idee. Also ging Lothar frisch, fromm, fröhlich und frei an die Arbeit, programmierte das erste Rätsel über seine Internetseite, klopfte sich auf die Schulter und war zufrieden.
Bevor wir mit der Geschichte fortfahren, sollte der geneigte Leser wissen, dass Lothars Truppe aus seiner Frau, mit der er seit Ewigkeiten verheiratet ist, und einer bunt zusammengewürfelten Patchwork-Familie samt Anhang und Freunden besteht. Also wie ein Clan im Fernsehen, aber weder schottisch noch arabisch. Schon deshalb begann ein laues Lüftchen zu wehen, das aber noch niemand spürte.

So öffnete sich am 1. Dezember das erste Türchen und alle machten sich ans Rätseln und Punkte sammeln. Doch kaum war es geöffnet, ging es auch schon los. Das Rätsel hatte mit Lothar zu tun und noch ganz leise und zart kam ein Pflänzchen zum Vorschein, das den schönen Namen „Bedenken“ trug. Wie sollte man auch etwas über das Leben wissen und die 10 Fragen lösen? Trotzdem versuchten es die Kreativen des Kreativclubs. Es war erst einmal eine Art Beschäftigung für die nächsten Tage, man rätselte so vor sich hin. Lothar konnte sich Flügel wachsen lassen und sich im strahlenden Licht seiner Phantasie sonnen. Aber wie das so ist mit zarten Pflänzchen, sie wachsen heran. Im Laufe der nächsten Tage bekam er verdächtige Hinweise, wie er dies und jenes besser machen könnte. Außerdem konnte es nicht sein, dass er plötzlich jemandem Sonderpunkte gab. War das richtig? In der Patchworkfamilie ging man vom Individuum zum Clanverhalten über. Man nannte das gegenseitige Hilfe. Das war am Anfang nicht immer klar. Eine der Frauen arbeitet mit ihrer Tochter zusammen, die plötzlich ein bisschen aufmüpfig wurde, weil sie ein Rätsel eigentlich alleine gelöst hatte und die Mutter die Punkte kassierte. Aber irgendwie, mit welchen Mitteln auch immer, einigten sich die beiden und liefen fortan als Team. Lothar schmunzelte über das Treiben und merkte gar nicht, wie aus dem lauen Lüftchen ein Wind wurde.
Seine Frau begann schon ein wenig zu meutern: „Die machen das alles zusammen. Ich mach das alleine.“ Eine WhatsApp erreichte ihn, in der man sich über die Dissonanz der Punktevergabe ausließ. Das Pflänzchen „Bedenken“ bekam langsam einen Stamm. In den folgenden Tagen wurden die Rätsel gelöst, die WhatsApp-Nachrichten häuften sich und man griff aktiv in die Punktevergabe ein. Der Wind frischte immer mehr auf. Aus dem Rätselspiel wurde bitterer Ernst, aber noch hatte Lothar alles unter Kontrolle. Aber zunehmend musste er seine Engelsflügel schützen, die ein wenig weniger zu wachsen schienen.

Lothar stand morgens vor dem Hahnenschrei auf und suchte überall nach Rätseln, kaufte sich sogar ein Buch, denn die Truppe kämpfte verbissen um ihre Punkte, nutzte das Internet, beriet sich, klagte über die schweren Rätsel, einer konnte nicht zur Arbeit, Zeit hatte sowieso keiner, und überhaupt war es viel zu viel Text. Manchmal dachte sich Lothar 10 Fragen auf einmal aus, und man hörte das Stöhnen über diese ungeheure Menge durch das ganze Dorf gehen. Zwischendurch wurde noch ein weiteres Rätsel per WhatsApp in die Truppe geschmuggelt, an dem sich die Sippe ein wenig zerstritt. Man konnte sich nicht einigen, ob das Richtige nun falsch, das Falsche richtig oder das Richtige nur falsch formuliert war. Es war verwirrend. In der WhatsApp-Gruppe wurden Informationen ausgetauscht, jeder gab seinen Kommentar ab und wer nicht weiter wusste, gab irgendwelche Smileys ab. Kurzum, die Kommentare wurden schärfer, jeder wollte ein bisschen Recht haben und vor allem sowieso. Der Sturm begann verdächtig zu wachsen, der Himmel zog sich mit Wolken zu. Lothars Federn lösten sich langsam aber sicher auf. Nun regte sich Widerstand in Lothar. Er versuchte zu beweisen, was nicht zu beweisen war, und ein scharfer Wind blies ihm um die Ohren. Altersstarrsinn nennt man das in der Wissenschaft. Damit war er nicht allein.

Er bemerkte auch, dass man sich nicht nur untereinander austauschte, sondern sofort die Lösung eines anderen präsentierte. Die zu vergebenden Punkte waren in höchster Gefahr. Sein Weihnachtsleben war plötzlich bedroht. Das konnte Lothar nicht zulassen. Schließlich war er der alleinige Punkteschiedsrichter. Dieses gnadenlose Foul ließ nun auch den Clan bröckeln. Es war zwar nur ein Spiel, aber nun hing die Stabilität der Truppe, des Weihnachtsfestes und vielleicht der ganzen Welt davon ab. Verbissen arbeitete Lothar weiter an seinen Rätseln, langsam aber sicher ging es auf das letzte Türchen zu. Mit den Lösungen der Truppe kamen immer mehr Beschwerden. Er solle doch nicht so lange rätseln, es seien Kinder dabei, die nicht so viel wüssten, man könne doch nicht den ganzen Tag damit verbringen und überhaupt, die Punktevergabe sei eigentlich ganz schlecht. Lothar schrieb einen langen Text dazu, den sowieso keiner las, weil er einfach viel zu lang war und keiner den tieferen Sinn verstand, geschweige denn seinen ausgeklügelten pädagogischen Ansatz.
Schließlich ging es ja um den Spaß des ganzen kreativen Clubs und nicht um seine Reflexionen, Gedanken und schon gar nicht um sein eigenes Vergnügen. So ist es. Das musste mal gesagt werden. Schließlich sollte Lothar als Macher auch ein wenig Kritik verstehen. Seine Rätsel sind mal zu schwer oder zu groß oder zu leicht oder man kennt sie, egal wie und an welchem Tag. Basta!

Der Himmel verdunkelte sich, das Gewitter kam näher. Lothars Frau hatte plötzlich keine Lust mehr, ein paar andere hatten keine Lust mehr, weiter zu rätseln, wieder andere zerpflückten seine Rätsel, stellten die Antworten in Frage und drohten offen, das Weihnachtsfest zu verweigern.
Weitere Federn begannen sich aus Lothars Flügel zu lösen, aus der Pflanze „Bedenken“ war ein stattlicher Baum geworden, der nahende Orkan stand unmittelbar bevor.

war, sodass für ihn keine neue Situation bestand. Rätsel ist schließlich Rätsel.

Lothar saß weiterhin mit grimmiger Miene vor Helena, hämmerte die nächsten Rätsel in sich hinein und war sich sicher, wieder etwas falsch zu machen. Seine Truppe faselte etwas von „er solle nicht alles auf sich beziehen und endlich die Punkte besser verteilen“. Inzwischen machte die Sippe alles gemeinsam und alle bekamen die gleiche Punktzahl. Das Kampfniveau des Einzelnen sank auf Null. Schließlich ist man eine Familie und hilft sich gegenseitig, wie beim Abwaschen und Putzen. Einer geht vor, die anderen schauen zu und freuen sich ihres Lebens. Lothar trug schon apathisch die Punkte ein, wenn einer für alle die Lösung abgab und musste sich nicht die Mühe machen, zu kontrollieren. Er ignorierte die WhatsApp-Nachrichten, rasierte sich kaum noch und jedes Türchen kostete ihn ein, zwei oder mehr Kräuter.

Doch Lothars Frau wurde es zu viel. Sie zog aus, wollte es sich zu Weihnachten gemütlich machen. Zu ihrer Mutter, die für Lothar ohnehin ein ewiges Rätsel war, so dass es für ihn keine neue Situation gab. Rätsel bleibt Rätsel.

Inzwischen hatte er das letzte Türchen programmiert, als der Orkan mit voller Wucht zuschlug. Es war ein Tag vor Weihnachten und er hatte sein letztes romantisches Rätsel unter die Truppe gebracht. Mit verheerenden Folgen. Ob er nicht wisse, dass man an Weihnachten so viel zu tun habe, ob es nicht ein so großes Rätsel sein müsse, ob Weihnachten nicht ein besinnliches Fest sei und nicht ein Rätsel, das niemand lösen könne, ob das Rätsel nicht so schwer sein müsse, dass allen die Hirnwindungen zusammenschrumpfen und die Weihnachtsgans im Ofen verbrennt. Das sei doch sowieso Quatsch, schimpfte die eine, die andere schrie, weil sie zu wenig Punkte habe, obwohl man doch alles zusammen mache, und überhaupt sei die Idee nur Zeitverschwendung. Natürlich war das alles nicht so gemeint und nur dem Stress geschuldet. Lothar nahm das alles ganz gelassen zur Kenntnis. Er kippte die Milch für den Weihnachtsmann in den Ausguss, räumte die Wohnung ein wenig auf, schaltete Helena aus, nicht ohne mit einem Lächeln den Bildschirm zu streicheln und eine letzte WhatsApp an alle zu schicken.
“Des Rätsels Ende habe ich nicht erreicht.” Dann schnallte er seine Flügel ab, dachte daran, wie er als kleiner Junge in Parterre aus dem Fenster gesprungen war, stellte sich auf das Fensterbrett und sprang noch einmal, diesmal aus dem fünften Stock.

Seine Truppe las seine WhatsApp, erinnerte sich an die vielen Rätsel, die gar nicht so schlecht waren und irgendwie Spaß gemacht hatten. Lothars Selbstmitleid wurde belächelt, man war es gewohnt. Die Truppe beschloss, sich dem Weihnachtsfest im Kreise der Familie zu widmen, das wie jedes Jahr voll von guten Vorsätzen, vielen Puten und Enten, lustigen Gesprächen und der Freude über das, was kommen oder schon vergangen sein würde, war. Dass plötzlich überall Federn auftauchten, war schon komisch, aber wer weiß schon, was in der Welt passiert.

war, sodass für ihn keine neue Situation bestand. Rätsel ist schließlich Rätsel.

Das letzte Türchen hatte er inzwischen programmiert, als der Wirbelsturm mit Macht zuschlug. Es war einen Tag vor Weihnachten und er streute sein letztes romantisches Rätsel unter die Truppe. Mit verheerenden Folgen. Ob er denn nicht wüsste, dass man zu Weihnachten so viel zu tun hätte, ob denn so ein großes Rätsel sein müsse, ob den Weihnachten nicht ein besinnlich ist, statt eines Rätsels, dass niemand lösen könne, ob denn das Rätsel so schwer sein müsse, dass alle sich die Gehirnwindungen verengten und die Weihnachtsgans im Ofen verschmorte. Das wäre doch ohnehin nur Quatsch, maulte die eine, die andere schrie, weil sie zu wenig Punkte hatte, obwohl man doch alles zusammen machte und überhaupt war die Idee nur eine Zeitverschwendung. Natürlich hatte man dies alles nicht so gemeint und nur der Stress war daran schuld. Lothar nahm dies alles sehr sachlich zur Kenntnis. Er kippte die Milch für den Weihnachtsmann in den Ausguss, räumte die Wohnung ein wenig auf, schaltet Helena ab, nicht ohne den Bildschirm mit einem Lächeln zu streicheln und eine letzte WhatsApp an alle zuschicken.
„Des Rätsels Ende hab‘ ich nicht geschafft.“ Dann schnallte er seine Flügel ab, dachte daran, wie er als kleiner Junge mal aus dem Fenster in Parttere sprang, stellte sich auf die Fensterbank und sprang wieder mal, diesmal aus dem fünften Stock.

Seine Truppe las seine WhatsApp, erinnerte sich der vielen Rätsel, die doch eigentlich so schlecht nicht waren und irgendwie ein wenig Spaß gemacht hatten. Lothars Selbstmitleid wurde belächelt, man ja gewohnt. Die Truppe beschloss sich dem Weihnachtsfest in der Familie zu widmen, dass wie jedes Jahr voll mit guten Vorsätzen, vielen Puten und Enten war, lustigen Gesprächen und freute sich der Dinge, die kommen oder schon vergangen war. Dass plötzlich überall Federn auftauchten, war eigentlich komisch, aber wer weiß schon, was in der Welt passiert.

Lothars Flug war kurz. Er wunderte sich, dass er den Aufprall nicht spürte. Wie sollte er auch? Schließlich war er tot. Merkwürdig war nur, dass er einen komischen Druck auf dem Bauch spürte. Und dann waren da noch die Haare in seinem Gesicht, die nicht zu ihm gehörten. Er zuckte zusammen und sah Cameo, seinen Kater, der ihn anmaulte. Irritiert sah er sich um. Es sah weder wie der berühmte Himmel voller Geigen noch wie die Hölle mit dem Fegefeuer aus. Die Tür ging auf. Seine Frau stand im Zimmer. „Steh auf, das Frühstück ist fertig. Du musst noch das erste Rätsel lösen.“ Lothar blickte auf die Uhr an der Wand. Dort stand in digitaler Leuchtschrift: 01.12.2020 6:25 Uhr. Das Telefon an seinem Kopfende klingelte mit der Melodie von „Jingle Bells“, dem Erkennungszeichen der Truppe. In der WhatsApp-Nachricht stand: „Wir sind gespannt auf die Rätsel.“

Lothars Frau öffnete das Fenster und ein ganz leichter Wind blies Lothar ins Gesicht. Von irgendwoher schwebte eine Feder am Fenster vorbei.

Manchmal passieren Dinge, die einen unerwartet treffen. So erging es mir gestern. Ich war auf dem Weg zum Bahnhof, um mein Model vom Fotoshooting zur S-Bahn zu bringen.
Wir unterhielten uns über Hoffnungen, Wünsche, dies und das, als sie plötzlich zu mir sagte: “Wenn ich könnte, würde ich am liebsten Handschuhe verteilen.” Ich schaute in ihre großen Augen. Sie lächelte und bemerkte wohl meinen irritierten Blick. Sie meinte nicht die Kälte als Naturphänomen, sondern die Kälte unter den Menschen. “Ich sehe immer die alten Leute am Bahnhof in Leipzig, die sich ein paar Euro verdienen wollen. Sie suchen nach Flaschen, durchwühlen die Papierkörbe, in denen Fixerbestecke und Spritzen liegen.” Ich war erstaunt, hatte ich mir doch nie Gedanken darüber gemacht. Mir geht es gut, ich brauche die Flaschen nicht, und mein hübsches Model kommt auch nicht auf die Idee, auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber sie macht sich Gedanken! Manchmal sind es die profanen Dinge des Lebens, die den einen berühren, dem anderen aber nichts bedeuten. Wir posten Zitate über persönliche Befindlichkeiten, sind hungrig nach Likes und Sympathie und vergessen dabei die Menschen, die auf der Straße leben müssen oder wollen. Die Idee der verschenkten Handschuhe hat mich seltsam berührt. Es ist fast eine Metapher in einer Welt, in der es nur noch um das eigene Ich geht. “Wenn du auch mal das Bedürfnis hast, können wir zusammen austeilen”, lächelt sie. Ich sollte ernsthaft darüber nachdenken.

Tiergeschichten

Mein Name ist Goja. Ich bin eine wunderschöne schwarze Schäferhündin und habe ganz liebe Menschen um mich herum, die mich meistens etwas spät, aber dafür sehr gut füttern. Dann kann ich so richtig winseln und meiner Liebsten, die mit 1,60 m nur ein bisschen größer ist als ich, ins Gesicht lecken.

Im Moment kommt nach dem Wochenende immer mein Freund Micha und geht mit mir Gassi. Er freut sich, dass ich bei seinem Anblick nicht vor Freude aufspringe und bell, sondern ganz ruhig bin. Er ist stolz darauf und nennt das Erziehung. Das ist für einen Hund etwas dumm, denn er gehört nicht zu meinem Haushalt und hat mich noch nie gefüttert. Na ja, ich lecke ihm manchmal das Gesicht und er verzieht das Gesicht, als ob er die schönste Art der Begrüßung nicht mag. Menschen, auch kugelrunde, sind komisch. Er quatscht mich erst ein bisschen an und ich warte, dass er die Leine nimmt. Keine Ahnung, was er will, aber wir gehen spazieren. Endlich wieder schnüffeln, wer sich wo gewälzt oder seine Spur hinterlassen hat. Es gibt gute Rüdenspuren, aber eine Genießerin genießt eben still. Mein kugelrunder Rüde bleibt meist geduldig stehen. Er riecht nicht und kann diese feine Erotik gar nicht kennenlernen. Die Menschen sind arm dran. Aber Micha ist lieb, labert mich voll und will weiter. Meistens lasse ich ihn.

Aber heute gehen wir zu seinem Auto. Das kenne ich schon, das habe ich schon oft dreckig gemacht, wenn er mich nach einem Spaziergang mit meinem Lieblingsminimenschen, der auch meine Chefin ist, nach Hause fährt. Er murmelt dann etwas von Drecksspatz, was in der Hundesprache eine große Ehre ist. Wir fahren los und sind bald da. Gott sei Dank. Spaziergänge im Auto sind für meine Größe nicht gut. Da muss man schon die kleinen Selbstgestrickten mitnehmen. Ob das Hunde sind, weiß ich nicht so genau, die riechen zwar so, machen furchtbaren Lärm, sind aber sonst so, wie es sich die Evolution nie hätte träumen lassen. Menschen sind schon komische Gestaltwandler.

Mein Name ist Goja. Ich bin eine wunderschöne schwarze Schäferhündin mit ganz lieben Menschen um mich, die mich meistens etwas spät, aber doch ganz gut füttern. Ich kann dann richtig schön winseln und im Gesicht meiner Lieblingsmenschin lecken, die mit 1,60m nur etwas größer ist als ich.

Im Moment kommt immer nach dem Wochenende die Freundeskugel mit Namen Micha, um mit mir spazieren zu gehen. Er freut sich, dass ich bei seinem Anblick nicht vor Freude hochspringe und belle, sondern ganz ruhig bin. Er ist ganz stolz darauf und nennt das Erziehung. Das ist hundemäßig gesehen, etwas dümmlich, weil er ja nicht zu meiner Hausausstattung gehört und mich noch nie gefüttert hat. Nun ja, ich lecke ihm auch mal das Gesicht und er verzieht das Seinige, als ob er die schönste Art der Begrüßung nicht mag. Menschen, auch kugelrunde, sind komisch. Er quatscht mich erst ein wenig voll und ich warte darauf, dass er die Leine schnappt. Keine Ahnung, was er will, aber wir gehen spazieren. Endlich wieder schnüffeln, wer wo sich wälzte oder seine Spur hinterließ. Da gibt es gute Rüdenspuren und -marken, aber eine Genießerin genießt halt schweigsam. Meine kugelrunde Ausgehhilfe bleibt meist geduldig stehen. Er hat zwar keinen Geruch und kann diese feine Erotik nicht mal annähernd kennen lernen. Menschen sind schon mal arm dran. Micha ist aber lieb, labbert mich voll und will weiter gehen. Ich erlaube es ihm meistens.

Heute geht es aber zu seinem Auto. Ich kenne es schon, hab es schon oft dreckig gemacht, wenn er mich nach einem Spaziergang mit meinem Lieblingsminimenschen, die auch meine Anführerin ist, nach Hause fährt. Er brummelt dann etwas von Drecksspatz, was in Hundesprache eine große Ehre ist. Wir fahren los und sind schon bald da. Gott sei Dank. Spaziergänge im Auto machen sich für meine Größe nicht gut. Da muss man schon die kleinen Selbstgestrickten mitnehmen. Ob das Hunde sind, weiß ich nicht so genau, sie riechen zwar so, machen unheimlich Krach, aber sind sonst so, wie die Evolution es sich nie hätte einfallen lassen. Menschen sind schon komische Gestaltenwandler.

Egal, endlich geht es raus. Kugelrundmicha lässt mich bald alleine gehen und jammert nach einem winzigen Stück Weg über seine Knie und auch sonst ist sein Körper immer etwas lädiert. Er murmelt etwas von 2km und ich bin noch nicht mal warm. Wenn er wüsste, was ich da alles rieche, hier ein Rüde, der jedem hinterherjagt, dort ein Haufen, der zu einem Winzling gehört, sie war schon mal trächtig. Interessante Spuren, ich könnte noch stundenlang weiterlaufen. Micha geht zum Wasser, er nennt es Saale, und schaut minutenlang in das rauschende Wasser. Ob er auch von schönen großen Männchen träumt? Ist er eigentlich auch ein Rüde? Er riecht nicht wie mein Menschlein, eher wie ihr Freund, der auch bei uns wohnt. Aber egal. Ich mag das Wasser, es fließt schön um die Beine und da sind auch silberne Dinger drin, die man schnell schnappen kann. Außerdem kann man so gut nach den Wassertropfen jagen. Aber Micha scheint sehr ängstlich zu sein und denkt vielleicht, dass ich ertrinke oder Schlimmeres. Er ruft mich zu sich und da ich eine gute Hündin bin, tue ich ihm den Gefallen. Dafür lobt er mich. „Das hast du gut gemacht“, sagt er und ich denke, das hat er auch gut gemacht.

Wir gehen noch zu einem Felsen, da geht es los. Er versucht ein Stöckchen wegzuwerfen und meint, es mir abluchsen zu können. Ha, ich renne auf ihn zu, er macht sich noch breiter als er ohnehin schon ist, gibt furchtbare Laute von sich, will gefährlich aussehen, was aus Schäferhundsicht natürlich lächerlich ist, aber Spaß macht. Aber zack, schon bin ich an ihm vorbei, er rennt hinter mir her und kläfft. Ich habe das Stöckchen. Das macht er noch dreimal und jetzt jammert er etwas von seinem Herzen. Das Ding dröhnt mir ganz schön in den Ohren und ich lasse ihn erst mal in Ruhe ausjapsen. In der Zwischenzeit kann ich weiter nach den wunderbaren Gerüchen suchen.

Ich finde es immer komisch, wenn Leute meinen großen Müll mitnehmen. Das brauche ich nicht, auch wenn es gut riecht. Er guckt sich das zwar an, aber schnüffelt nicht mal dran, was aus Hundesicht total blöd ist. Irgendwann hat er genug von meinem Spielzeug und wirft es in irgendwelche Behälter. Vielleicht sammeln die Leute so etwas, um einen Duftgarten anzulegen. Das wäre vernünftig und sehr sinnvoll. Ein Hundeparadies. Wie auch immer, die Menschen scheinen sich nicht für dieses kleine Geschäft zu interessieren, dabei ist es die reinste Hundewelt. Endlich hinterlasse ich meinen Namen. Goja, weiß dann jeder Hund, der hier vorbeikommt, und ich erkenne mich beim nächsten Mal auch wieder.

Micha schaut auf so ein Gerät und murmelt etwas von Orientierung. Sag mir, wo der nächste Haufen ist und ich sag dir, wer hier war und wo ich bin. So einfach ist die Welt.

Wir sind wieder beim Auto. Ich springe in den Kofferraum und weiß, wenn Micha aussteigt, wird er mich loben und Dreckspatz zu mir sagen. Gern geschehen, kugelrunder Micha.

Ich brauchte dringend ein Tier. Eine neue Katze. Unsere vierfarbige Katze mussten wir an einen Bauernhof abgeben. Sie ließ sich partout nicht von ihrem Katzenklo überzeugen und ging dorthin, wo es ihr gerade Spaß machte. Sie war zu alt, als wir sie aufnahmen und wir konnten sie nicht mehr an ein Leben im Wohnzimmer gewöhnen. Das kostete uns einen Teppich und schließlich die Katze.

Also gingen wir ins Tierheim. Nun bin ich eher der Typ, der Wert darauf legt, von einem Tier akzeptiert zu werden und nicht einfach das zu nehmen, was meinem Auge gefällt. Das Auge kann trügen, das Herz nicht und Tiere nehmen es mit Sympathie meist sehr genau. Natürlich spielte auch das Aussehen eine Rolle, aber das musste ich nicht zugeben, schon gar nicht bei einer eigensinnigen Katze. Also versuchte ich, diesen Gedanken so gut wie möglich zu verbergen und meine biologische Seite auszublenden. Viele Katzen merkten das und ignorierten mich einfach. Und dann kam sie. Die schönste Katzendame der Welt. Mandy schoss mir durch den Kopf. Aus irgendeinem Grund verbinde ich mit diesem Namen Mandelaugen und genau die hatte sie. Dazu ein schwarzes, seidiges Fell mit weißem Unterbauch und weißen Pfoten. Mit erhobenem Schwanz stolzierte sie auf mich zu. Ich setzte mich auf den Boden, was sie als Einladung verstand, es sich auf meinem Schoß bequem zu machen. „Sie ist es“, sagte meine Frau und noch bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte, stand mein Entschluss fest. Ich war bis über beide Ohren in diese Schönheit verliebt und Mandy wusste das auch. Sie schnurrte zustimmend. Nach einer Stunde waren wir zu Hause. Sie inspizierte die Wohnung, ging zum Katzenklo, fand zielsicher die kleine Decke, die im Schlafzimmer bereit lag, rollte sich hinein und schlief ein. Ich war verblüfft, hatte ich doch ein neugieriges Herumschnüffeln erwartet. Nichts. Ich ging in die Küche und bereitete aus rohem Fleisch verschiedene Katzengerichte zu. Katzenfutter gab es damals kaum und ich wollte sie verwöhnen.

Am nächsten Tag stand ihr Futter ungenutzt in der Küche. Sie hatte es verschmäht. Ich war frustriert. Sie lag auf ihrer Decke und schlief. Ich streichelte sie vorsichtig, sie bewegte sich kaum und schnurrte. Ihr Katzenklo war benutzt. Ich war ein wenig beruhigt. Vielleicht muss sie sich nur an das Futter gewöhnen. Im Katzenhaus hatte ich vergessen zu fragen, was ich schnell nachholte. Ich erfuhr, dass sie schon seit einigen Wochen schlecht fraß und niemand wusste, warum. Mandy war vier Jahre alt, eine wichtige Information. In meiner Euphorie hatte ich nicht daran gedacht, nachzufragen. Sie war aus unbekannten Gründen abgegeben worden. Ein Tierarzt hatte sie im Katzenhaus nicht gesehen, weil ich darauf bestanden hatte, sie mitzunehmen. Kein Mensch der Welt hätte mich davon abhalten können. Sie hatte sich in mein Herz gefressen, und wenn ich sie einmal in mein Herz geschlossen habe, ist es schwer, sie wieder loszulassen.  Das war immer ein Problem.

Ich ging mit ihr zum Tierarzt, inzwischen war eine Woche vergangen. Sie schlief viel, kam zu mir ins Wohnzimmer, kuschelte und schnurrte, fraß ein paar Brocken und schlich wieder auf ihren Platz. Manchmal setzte ich mich zu ihr und streichelte sie einfach nur. Ich erzählte ihr alles, was ich über Katzen wusste und von meinem verzweifelten Kampf um einen Hund, den ich verloren hatte. Sie wusste mehr über mich als ich über sie.

Der Tierarzt impfte sie nach allen Regeln der Kunst und machte mir Vorwürfe, dass ich zu spät gekommen sei. Ja, Gott, was wusste er schon von meiner Zeit und sie hatte ja auch keine.

Ach, das wird schon. Zu Hause wunderte ich mich immer mehr über Mandy. Sie interessierte sich nicht für die Wohnung, spielte nicht, suchte aber ständig meine Nähe, aber immer nur für einen kurzen Moment. Das war merkwürdig und ungewöhnlich. Eines Tages brachte mich meine Frau zum Katzenklo. Zwischen dem Kot lagen kleine Plättchen, die mir bekannt vorkamen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ein Bandwurm. Blitzschnell waren mir die Symptome klar. Mandy hatte Schmerzen und war geschwächt. Wir hatten sie gegen Würmer geimpft, aber dieser Bandwurm hatte bereits Finnen abgekapselt und die wanderten durch den Körper in die Lunge, ins Gehirn. Ich hasste mich. In meiner grenzenlosen Liebe zu dem Tier hatte ich die primitivsten Dinge übersehen, hatte nicht nachgefragt, war zu spät zum Tierarzt gegangen. Tierarzt! Ich beschloss, sofort zu gehen, schnappte mir Mandy und ein paar von den Plättchen. Der Tierarzt hielt mir mit ernster Miene einen Vortrag über Bandwürmer und was man alles beachten muss, wenn man sich eine Katze anschafft. Er sollte Mandy behandeln und nicht mich.

Ich wich Mandy nicht mehr von der Seite: Nach der Arbeit setzte ich mich zu ihr, streichelte sie, gab ihr die Medikamente. Sie schnurrte fast ununterbrochen. Ich war mir sicher, dass ich dieses Tier gesund pflegte. Meine Frau mied mich in dieser Zeit, ging mir aus dem Weg. In der Schule waren meine Gedanken ständig bei Mandy, ich hatte kaum Zeit für meinen Minizoo, der gerade im Entstehen war. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause zu meiner Katze. Sie wurde immer apathischer. Eines Tages kam ich nach Hause. Meine Frau empfing mich traurig. „Mandy ist gestorben.“ In mir krampfte sich alles zusammen. „Sie hat die ganze Wohnung nach dir abgesucht und ist zu ihrer Decke zurückgekommen. Ich habe sie in den Arm genommen und sie ist gestorben.“

Mandy lag auf ihrer Decke, als würde sie schlafen. Ihr Fell war so weich. Ich hatte sie auf dem Gewissen, meine verdammte Liebe hatte sie nicht beschützt, sondern getötet. In mir brach es. Ich bin studierter Biologe, habe meine Diplomarbeit über Kleintiere geschrieben und bei ihr jämmerlich versagt. Ich stellte mein Herz über mein Wissen und ließ sie zu spät behandeln. Ich fühlte mich elend, nahm das tote Tier und begrub es allein. Meine Frau sagte, ich sei drei Stunden unterwegs gewesen. Ich wusste es nicht und wollte den Tag ausradieren. Noch heute sehe ich sie deutlich vor mir, ihre mandelförmigen Augen, ihr samtweiches Fell. Da ich gerade dabei war, einen Minizoo aufzubauen, schwor ich mir, mich mehr auf mein Wissen als auf mein Gefühl zu verlassen, was bei so vielen Tieren sowieso nicht möglich war. Da wusste ich noch nicht, dass auch mein Wissen versagen kann, aber das ist eine andere Geschichte. Die von Mia, einer sehr jungen Katze, die mich viel Kraft und Tränen gekostet hat.

Wasserwechsel, ich bereite alles vor, Schlauch, Eimer, das Übliche. Tausend Mal probiert, nie ist was passiert. Routine. Ich hebe den Deckel ab, er klemmt, ich ziehe links, ich ziehe rechts, ich werde ärgerlich, mache einen Schritt und stehe im Eimer, ausgerechnet das 5l-Ding. Er hängt am Fuß. Ich nehme den Deckel ab und eine Lampe fällt raus, zu ruckartig. Ich versuche jetzt methodisch und ruhig vorzugehen. Der Schlauch ist weg. Wo ist der verdammte Schlauch? Eine meiner Katzen hat ihn beim Spiel entdeckt. Ich hasse Katzen. Ich nehme den Schlauch. Marlow (der eine Kater) spielt wieder mit dem Ende, ich will gleichzeitig saugen und schreien, habe das Fischwasser im Mund, verschlucke mich. Nochmal, endlich ist ein Eimer fast voll. Milow (der andere Kater) interessiert sich für das kreisende Wasser, will es fangen will es fangen, springt in den Eimer, Eimer kippt um, Teppich nass, auch meine Strümpfe auch, Katze sieht jämmerlich aus, ist nass und ich kenne kein Mitleid, jetzt nicht. Ich versuche, das Wasser aufzuwischen, verliere das Gleichgewicht. Es reicht, der Hintern ist auch nass. Ich hole neues Wasser, will es hineinschütten, habe es satt, weiter zu wechseln. Der Schwung muss etwas zu groß sein sein, das Wasser läuft zur Hälfte außen am Aquarium vorbei, trifft die noch trockene Katze, die sich quer über den Tisch aus dem Staub macht, nicht ohne Tischdecke, Vase und diverse andere Gegenstände. Ich brauche eine Weile die nasse Katze auf meinen Papieren im Arbeitszimmer und trocknet. Die Papiere und Fotos kann ich vergessen.  In zwei Wochen mache ich einen Wasserwechsel, ohne Katzen, die werden ausgesperrt.  Jetzt ist Couchzeit, sprecht mich nicht an.

 

Thriller

Es war in den letzten Monaten dieses schrecklichen Krieges. Ganze Städte wurden in Schutt und Asche gelegt und die entmenschte Erde röchelte aus ihren Wunden. Schlimmer als jedes Raubtier zerfetzte der Mensch sich selbst und bearbeitete mit einer seltsamen bestialischen Freude seine eigenen Artgenossen. Gegen sich selbst aber war der Mensch nackt und hilflos. – Und doch gab es immer wieder Lichtgestalten, die ihr menschliches Antlitz beibehielten.

Nahe dem Dorfe L. wurde im Februar 1945 ein versprengter Trupp faschistischer SS aufgerieben.

Die sowjetischen Soldaten, die durch den erbitterten Widerstand der SS erhebliche Verluste erlitten, machten nur zwei lebende Gefangene.

Einer der Gefangenen war, der in dieser Gegend als berüchtigter „Totengräber“ bekannt; Oberscharführer Ernst H. Der Andere, ein eher schmächtiges Bürschlein, ein heruntergekommener Gefreiter, schlotterte vor Angst, brachte kaum mehr als ein Stammeln heraus.

Im Quartier des sowjetischen Stabes bereitete ein Sergeant gerade die bei dem gefangenen faschistischen Offizier gefundenen Bilder aus, als Martha B. den Unterstand betrat.

Sie hatte die vor dem Zelt wartenden Gefangenen kaum eines Blickes gewürdigt und bemerkte deshalb auch nicht die verächtlichen Züge des Oberscharführers. 1938 war sie in die Sowjetunion emigriert, nachdem die Gestapo ihren gerade erst 18-jährigen Sohn verhaften ließ und folterte. Einmal sah sie ihn noch ganz kurz und in ihr prägte sich sein geschwollenes, blutunterlaufenes Gesicht ein. Einige Tage später erklärte ihr ein pausbäckiges Beamtengesicht höhnisch, ihr Sohn sei auf der Flucht erschossen worden sei. Marthas Entschluss stand in diesem Moment fest und auf gefahrvollen Wegen gelang ihr die Flucht nach Russland. Dort meldete sie sich bald darauf bei der Roten Armee und sorgte fortan als Krankenschwester für die Verwundeten. Sie hatte die übelsten Wunden gesehen und sehnte sich nach ihrer Heimat, ihrer hoffentlich noch lebenden Familie.

 

„Grauenhaft“, sagte Sergeant Pawel Petrowitsch gerade.

„Was ist grauenhaft?“, fragte Martha besorgt, auf Russisch, einer Sprache, die sie inzwischen perfekt beherrschte.

„Alles, was wir um uns herum an Leiden sehen, aber das hier …“, Pawel Petrowitsch tippte energisch auf die Fotos, „…das hier besonders.“

Martha kam näher und betrachtete die Bilder aufmerksam. Plötzlich ging in der Frau eine seltsame Veränderung vor sich. Die ansonsten vitale, stolz aufgerichtete Frau, sackte regelrecht in sich zusammen, ihre Lippen pressten sich zu einem schmalen Spalt fest aufeinander, sodass mit einem Mal alles Blut aus ihnen wich. Martha B. wurde blass und ihre Hände begannen fast unmerklich fast zu zittern. Pawel Petrowitsch konnte im letzten Moment die wankende Frau auffangen: “Masha, was ist mit dir, ist dir nicht gut.“ Er versuchte ihr die Bilder wegzunehmen, doch Martha klammerte sich daran fest und schrie den helfenden Sergeanten an: „Lass mich in Ruhe.“ Sie riss sich los und setze sich auf einen Stuhl, um die Bilder noch einmal zu betrachten. Schweigend blieb Pawel Petrowitsch neben ihr stehen. Dieser Mann, der in Schlachten mutig vorne wegstürmte, der mit bloßer Faust einen Mann töten konnte, dieser Mann war angesichts der kleinen kauernden Frau verwirrt und völlig hilflos.

Die Bilder waren in einem KZ gemacht worden. Sie zeigten einen jungen SS-Mann, eben jenen Oberscharführer, der lächelnd mit der MPI in der Hand vor einer Reihe nackter Frauen und Kinder stand. Das nächste Bild zeigte den Moment der Exekution. Eine Frau sank zu Boden, verzweifelt gestützt von dem kleinen Mädchen neben ihr. Die danebenstehende Frau umklammerte ein Stoffbündel. Das dritte Bild zeigte die Folterung einer jungen Frau; an den Brustwarzen waren mit Nadeln dünne Drähte befestigt. Sie schien entsetzlich zu schreien, die Augen waren irr verdreht. Es waren entsetzliche Bilder von Vergewaltigungen, Erhängen und der ganzen Palette menschlicher Leiden, die selbst die Hölle sich nicht ausdenken könnte. Das Schlimmste aber war, das auf jedem Bild der lächelnde junge Mann zu sehen war.

Martha betrachtete immer und immer wieder die Bilder. In ein Foto vertiefte sie sich besonders.

Es zeigte den jungen Mann vor der Leiche einer schwangeren Frau, den Fuß auf den angeschwollenen Bauch gesetzt. Tränen rannen über Marthas Gesicht. Plötzlich stand sie ruckartig auf, ging auf Pawel Petrowitsch zu, „Von wem sind die Bilder?“, sie blickte den Sergeanten fragend an. „Von dem Gefangenen, dem Oberscharführer. Er ist der Offizier auf den Bildern.“ Für einen Moment schloss Martha die Augen, sank auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Pawel Petrowitsch beugte sich zu der schluchzenden Frau hinunter und flüsterte betroffen ihren Spitznamen: “Manuschka, Manuschka.“ Als Martha in endlich anschaute, prallte er unwillkürlich zurück, ihr Gesicht war um Jahre gealtert und ihre ohnehin schon grauen Haare schienen weiß wie Schnee. Martha erhob sich schwer und ging stumm aus dem Unterstand in ihr Zelt. Dort ergriff sie ruhig ihre MPI, die sie inmitten der Verwundeten nur wenig brauchte. Mit langsamen Bewegungen lud sie die Waffe und hängte sie sich um. „Ich muss ihn vernichten. Das bin ich IHM schuldig“, murmelte sie in deutschen Worten vor sich hin.

 

In der Ecke des Gefangenenbunkers kauerte Oberscharführer Ernst H. Er wusste, dass er eigentlich tot war und klammerte sich doch an ein klein wenig Hoffnung. Seine Heimat erschien ihm wie ein fernes Märchenland, von dem er einst hörte, aber nie kennengelernt hatte. Als die alte Frau eintrat, rutschte er auf Knien, seinem letzten bisschen Würde, zu ihr und umklammerte angstvoll wimmernd ihre Beine. Angeekelt schüttelte sie dieses schlotternde Bündel Menschlein von sich. Unbewegt stand Martha in dem Erdbunker und betrachtete starr die vor sich zusammengekrümmte, wimmernde Kreatur. Vor ihren Augen entstand das Bild des desselben Mannes mit der Leiche der schwangeren Frau. „Steh auf“, forderte sie tonlos. Zitternd stand Ernst H. auf. Sie sah ihn durchdringend an. ‚Er erkennt mich nicht‘, dachte sie. ‚Er hat Angst, weiß er auch warum?‘. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Martha B. umklammerte fester ihre MPI.

 

Der Oberscharführer bemerkte dies und sein Gesicht verzog sich weinerlich. „Bitte nicht schießen, ich habe doch nur für mein Land gekämpft.“ Unbeschreibliche Angst machte sich in dem knabenhaften Gesicht breit. „Ich vergebe dir“, murmelte Martha und krümmte den Finger. Die Garben zerfetzten den Körper des Oberscharführers, der sich wie in Ekstase ein letztes Mal aufbäumte und schüttelte. Dann ließ sie die Waffe fallen, kniete neben dem zerschossenen Körper nieder und schickte sich an, die blutverschmierte schwarze Uniform von der Leiche abzureißen. Martha arbeitete wie besessen, bis der fast nackte Leichnam mit zahlreichen Einschusslöchern vor ihr lag. Jetzt packte sie den Leichnam unter die Arme und zerrte ihn ächzend ins Freie. Dort standen schon neugierig einige Sowjetsoldaten mit Pawel Petrowitsch. Er sah sie schweigend und durchdringend an. „Ich bin nicht verrückt“, sagte sie erst deutsch und wiederholte es auf Russisch. „Es ist mein Sohn.“ Pawel Petrowitsch hatte in seinem Kriegsleben viel gesehen, noch mehr gehört und nichts schien diesen Mann noch erschüttern zu können, doch plötzlich fühlte er für einen kurzen Moment  einen Schauer über seinen Rücken laufen  Ungläubig schaute er auf den leblosen Körper, aus dem noch frisches Blut floss. „Der Gefangene – dein Sohn?“, fragte er ungläubig. „Nein, nein“, Martha B. schüttelte energisch den Kopf, „Der Gefangene war ein Mörder. Er hat den Tod verdient. Das hier …“, und sie berührte fast zärtlich das unverletzte Gesicht, „…das ist mein Sohn – und der wurde einst von der Gestapo ermordet. Ich werde ihn eigenhändig begraben.“ Sie beugte sich nieder und drückte ihren Sohn die Augen zu. Pawel Petrowitsch hatte noch nie die Grausamkeit des gesamten Krieges an einem einzigen Ort gesehen.

Raimond war es gewohnt, abends auf dem Sofa zu liegen und Zeitung zu lesen. Was sollte er sonst tun, er hatte den ganzen Tag am Computer gearbeitet. Der Fernseher lief, es war Krimizeit, seine Frau stand in der Küche und bereitete das gemeinsame Abendessen vor. Ab und zu las Raimond ihr einen interessanten Artikel vor, man übte sich im abendlichen Smalltalk über dies und das. Mit den Jahren waren beide ihrer jugendlichen Figur etwas entwachsen, was Raimond zwar bedauerte, aber sein Bewegungsdrang war nicht der allergrößte. Seine Frau war inzwischen fertig, brachte das Abendessen und setzte sich. Beide achteten sorgfältig darauf, sich nicht unnötig zu berühren, wie sie es wohl schon seit vielen Jahren taten. Aber Raimond brauchte das tägliche abendliche Ritual, um mit jemandem sprechen zu können. Das war so und würde so bleiben, bis der Tod sie beide in seine stummen Arme nahm. Raimond hatte alles, was das Leben an Geld und anderen Dingen zu bieten hatte, er war zivilisationssatt.  Und doch schlummerte tief in ihm eine Sehnsucht nach mehr, eine Sehnsucht nach Berührung, eine Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die es hier zwischen Zeitungslesen, Abendessen und Small Talk nie gab. Seine Frau plauderte munter vor sich hin, erzählte von ihren Kollegen, deren Namen Raimond schon lange kannte. Amüsiert dachte er plötzlich an ihren Nachttisch, wo er zufällig zwei Dildos gefunden hatte. Er beneidete sie um diese Möglichkeit der Befriedigung, die ihm so gänzlich verwehrt blieb, da er durch die lange Entwöhnung nichts mehr mit seinem besten Stück anzufangen wusste. Man hatte ihm gesagt, dass regelmäßiges Training ihm helfen könnte, seine Schwellkörper wieder zu aktivieren, aber er war nicht der Typ, der sich „runterholen“ ließ. Er mochte eher das Sinnliche, das Sanfte, das Langsame, diesen Tantra-Effekt, bei dem das beste Stück eine sanfte Behandlung erfährt. Das konnte er sich nicht leisten. Er hatte es nur zweimal in seinem Leben erlebt. Es war, wie bei anderen, eine Massage des Rückens und des Bauches, aber da es sich um einen besonderen Teil des menschlichen Körpers handelte, konnte er niemanden finden, der ihm diesen „unanständigen“ Wunsch erfüllen konnte. Das wurde sofort mit Sex in Verbindung gebracht, obwohl jedes Lehrbuch etwas anderes sagen würde. Seine Frau hatte das schon in ihren erotischen Zeiten nicht verstanden, und er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand diesen Wunsch überhaupt verstand. Eher konnte man rumhuren, ins Bordell gehen, das war nicht so pervers wie seine Wünsche.

Längst hatten die beiden aufgehört, sich mit solch obszönen Gedanken zu beschäftigen. Sexuell waren sie geschlechtslose Disneyfiguren oder bestenfalls Schlümpfe. Oft wälzte er sich im Bett und war zutiefst betrübt über seinen berührungslosen Zustand. Raimond konnte seine Frau nicht mehr berühren, seit sie ihn eines Tages brüsk aus dem Bett verjagte, vertrieben hatte, weil er etwas ausprobieren wollte. Es war an ihrem Geburtstag, als er mit einem Sektfrühstück in ihr Herz und zugegebenermaßen auch in ihr schönes Geschlecht schleichen wollte. Doch der zaghaft geäußerte Wunsch nach etwas Oralverkehr und die Berührung an der falschen Stelle führte zu einem lebenslangen Totalausfall ihres Liebeslebens. Natürlich hatte er sich bei Prostituierten versucht, aber auch das war eher peinlich und führte zu nichts. Er war nicht der Typ dafür, er mochte eine Art von Berührung und Zärtlichkeit, die ihm diese Frauen nicht geben konnten und wollten. Im Gegenteil, er machte sich lächerlich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dieses Ritual aus Zeitung, Abendessen und Fernsehen am Abend zu wiederholen. Das stürzte ihn oft in tiefe Depressionen.

“Hast du dir schon einen Film ausgesucht?“, fragte seine Frau, und bevor er antworten konnte, nahm sie die Fernbedienung und wählte sich selbst einen Film aus. Es war einer dieser Liebesfilme, die er sowieso nicht mochte, weil sie ihm zeigten, wie schön die Liebe sein konnte, an der er nicht mehr nicht mehr teilhaben konnte. Während der Bettszenen vertiefte er sich in seine Zeitung.
„Guck mal, den würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen“, provozierte sie.
„Schön für dich.“
„Das Mädchen ist auch hübsch. Hat nur einen kleinen Busen.“
„Sehr interessant.“
„Du liest nur, vom Film bekommst du nichts mit.“
„Vom Leben bekomme ich auch nichts mit.“
„Was soll das heißen?“
„Es ist schön zu sehen, wie es zwei machen.“
„Du willst nicht mehr.“
„Um wieder aus dem Bett geworfen zu werden?“
„Das ist altmodisch. Außerdem war dein Wunsch eklig.“
„Ich habe immer Oralsex mit dir gemacht und du hast es geliebt.“
„Das ist was anderes, aber so ein Schwanz ist eklig.“
„Haut, nichts als empfindliche Haut.“
„Wir leben gut.“
„Ja, wir leben. Aber es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe.“
„Ach, du mit deinem Sex, Entschuldigung Eroootik. Das war schon zu viel.“
„Was zu viel? Ich dachte, es hat dir gefallen?“
„Ich habe dir zuliebe nichts gesagt. Aber ich hab rumgemacht. Ich hatte auch meine Fantasien.“
„Ach so, welche denn?“
“Na ja, so wie in dem Film “Fifty Shades of gray”. Das war prickelnd, oder mal so richtig genommen zu werden, ohne Gedichte, ohne die Kerzenflut und ohne Sektfrühstück.“
„Das haut mich um, du hast nie was gesagt.“
„Das konntest du doch gar nicht, mit deinem Gefühlsquatsch. Du wolltest doch nur mit der Zunge an die Muschi ran.“
„Aber, aber ich dachte …“
„Ist doch egal, so was brauchen wir nicht mehr, das ist was für die Jugend. Und du hast ja deine Pornos.“
„Was für Pornos?“
„Naja, ich habe gesehen, wie du dir so was angeschaut hast. Da war ganz groß eine offene Muschi auf dem Bildschirm. Das ist doch eklig.“
„Ich hab ein bisschen recherchiert.“
„Recherchiert nennt man das? Haha. Ja, ich weiß, für deine Prostituierten. Oder meinst du, ich weiß nicht, dass du beim Bordell geparkt hast, des Öfteren.“
„Ich? Beim Bordell geparkt? Du spinnst doch. Ich hatte in der Nähe etwas zu erledigen.“
„Klar. Ist doch logisch.“
„Verdammt, ich war bei keiner Prostituierten, das kann ich nicht.“
„Klar, das sagen alle Männer. Was denn sonst. Guck du doch deine Pornos, ich will das nicht sehen. Das finde ich pervers in deinem Alter. Recherche, klar, du hast damals bei mir recherchiert, das war für mich schon unerträglich.“
„Was redest du da? Du hast es gewollt, es hat dir gefallen. Warte mal.“

Raimond kochte, in seinem Kopf drehte sich ein Karussell der schlimmsten Art. Was redete sie da für einen Unsinn? Er holte eine Mappe mit Briefen und blätterte sie durch. Dann las er vor: „Es war eine wunderschöne Nacht mit dir. Die vielen Kerzen und dann noch die Gedichte. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liebe dich dafür.“ Er kramte und fand ein neues Blatt: „Ich weiß, wie hungrig du bist, wenn du in die Ferien kommst. Dass du dann so schön an mir knabberst und dir auch unter rum viel Zeit nimmst, gefällt mir sehr. Das tut gut, bitte mehr davon und alles schöööön langsam. Das hast du mir selbst geschrieben.“ „Hör auf, Raimond, ich will das nicht mehr hören, das ist fast 40 Jahre her. Ich war jung, du hattest Geld, da bietet man sich an. So ist das. Aber mir hat der Kick gefehlt, den du nie wolltest, der starke Mann, das bist du nicht. So was Weiches will keine Frau auf Dauer. Ja, am Anfang war es auch schön, aber heute würde ich darüber lachen. Wirf das Zeug weg, das ist nur noch Müll. Ich will nicht mehr darüber reden.“
„Aber im Film…?“
„Du hast deine Pornos, ich habe meine schönen Filme.“

Raimond saß mit gesenktem Kopf da. Sein Leben, seine Liebe waren soeben zerstört worden. Er schob den Ordner zurück in sein verstaubtes Regal, strich mit der Hand darüber und Tränen rannen ihm aus den Augen. Das war es, was ihm am Ende seines Lebens geblieben war? Er wollte schreien, heulte hemmungslos, und in seinem Kopf hämmerte der Satz: „So etwas Weiches will keine Frau auf Dauer.“ Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte, dann setzte er sich auf die Couch und las weiter in der Zeitung. „Du hast recht, wir sollten nicht mehr über so einen Quatsch reden“, sagte er noch, und seine Frau nickte. Er hatte wohl verstanden.

Wolter schielte aus dem Fenster. Er hatte gerade Mittagsschlaf gehalten, als er die Sirenen des Krankenwagens und des Polizeiautos hörte. Was war bei den Nachbarn los? Er kannte Raimond schon lange und nie war etwas passiert. Ein blauer BMW fuhr vor und die Schranke öffnete sich. Ein grauhaariger Mann stieg aus und musterte die Umgebung. Wie zufällig blickte er in Wolters Richtung, der sich ertappt fühlte und sich schnell vom Fenster entfernte. Wolter ahnte, dass es sich um einen Kriminalbeamten handelte. Was war mit Raimond los?

Manuel, von Beruf Kriminalpolizist, musterte die Umgebung. Es war eine normale kleine Siedlung, unauffällig und gediegen. Nichts Besonderes. Er war hierher gerufen worden, wegen eines unnatürlichen Todes. Noch wusste er nicht, was passiert war. Überall liefen Leute von der Spurensicherung herum. Manuel verschaffte sich einen Überblick und betrat die Wohnung. Ein Beamter führt ihn ins Schlafzimmer. Was er sieht, erstaunt ihn. Das ganze Zimmer war voll mit kleinen Teelichtern, die zum Teil noch brannten. Auf dem Bett lag eine nackte, korpulente männliche Leiche, aus deren Mund Papierfetzen quollen. Das Gesicht war tränenverschmiert. In den verkrampften Händen befand sich beschriebenes Papier. Um seinen Penis war ein rotes Band gebunden, an dem ein Geschenkzettel mit einem Kussmund und einer Hand hing. Auf dem einen Oberschenkel stand mit Permanentmarker „Was ist passiert?“, auf dem anderen „Berührungslos“. Eine Frau in einem weißen Kittel untersuchte die Leiche. Sie bemerkt Manuel, der fragend auf den Toten zeigt. „Seltsam. Der Typ ist erstickt, weil er Unmengen von Papier in sich hineingestopft hat. Es sind Liebesbriefe, Tagebuchaufzeichnungen, die er vor über 40 Jahren an seine Frau geschrieben hat oder die sie ihm geschrieben hat. Was die Sätze bedeuten und die komische Schleife und die vielen Kerzen, das muss man die Frau fragen. Es sieht fast romantisch aus. Ich weiß es auch nicht. Die Frau sitzt im Wohnzimmer und versteht die Welt nicht mehr. Fremdeinwirkung kann ich ausschließen, eher ein unfreiwilliger Selbstmord. Mehr nach der Obduktion.“ Irgendwie schien die ganze Sache sexueller Natur zu sein, irgendwie aber auch nicht, dachte der Kommissar. Er hob mit einer Pinzette ein Stück Papier vom Boden auf und las. Seine Augenbraue zuckte erstaunt nach oben. „Wo ist seine Frau?“, fragte er den Beamten, der gerade an ihm vorbeigehen wollte. „Kommen Sie mit“, wies ihm der Beamte den Weg.

Raimonds Frau saß zusammengekauert und in Gedanken versunken im Wohnzimmer und schüttelte immer wieder den Kopf. Ihr Gesicht war von Verwunderung geprägt. „Sind Sie die Frau des Mannes im Schlafzimmer?“, fragte Raimond etwas unbeholfen. „Ja, ich verstehe nicht. Wir haben uns doch gestern gar nicht gestritten. Was hat er denn gemacht? Das ist alles so merkwürdig!“ Manuel sah die Frau schief an. „Er ist erstickt, an diesen Zetteln oder Briefen“, er hielt der Frau den Brief hin, den er mitgenommen hatte. Die Frau legte den Kopf schief und las, denn Manuel verbot ihr, den Zettel anzufassen. Dabei beobachtete er die Frau genau: „Es war eine wunderschöne Nacht mit dir. Die vielen Kerzen und dann noch die Gedichte. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich liebe dich dafür.“ „Meint er sie damit?“, fragte er etwas streng. „Ja, aber das ist vierzig Jahre her, und es war nicht mehr“, stotterte sie.

„Nun, gute Frau, Ihr Mann scheint vor vierzig Jahren an der Liebe erstickt zu sein. Wahrscheinlich wollte er Ihnen mit seinem Geschenk mit der roten Schleife etwas sagen“, meinte Manuel sarkastisch. „Wenigstens haben Sie ein schönes Haus. Das ist doch was am Ende des Lebens, oder?“  Die Frau antwortete nicht, sondern sah ihn nur verständnislos an. Sie konnte immer noch nicht begreifen, was passiert war, warum er sie beide so unerwartet und auf so merkwürdige Weise aus ihrem Alltag herausgerissen hatte. Das war doch nicht nötig.

Tilo war in den letzten Wochen sehr in sich gekehrt. Seine 10 Kollegen im weiträumigen Büro bemerkten dies sehr schnell und sprachen ihn auch darauf an. Er antwortete ausweichend oder vertiefte sich wortlos in seine Arbeit. Zu den Pausengesprächen in der Kantine kam er kaum noch. Seiner Kollegin Franziska, die ihm gegenübersaß, fiel darüber hinaus seine zunehmende Aggressivität auf, die sich in der Kommunikation mit ihr zeigte. Sein Lachen wurde immer seltener, seine Bartstoppeln immer mehr. Irgendetwas an ihm beunruhigte sie. Er hatte keinen Sinn mehr für ihre Kleider, die sich an sie schmiegten und immer sehr ausgesucht waren. Für ihr großzügiges Dekolleté verschwendet er ebenfalls keinen Blick mehr, obwohl er früher gern danach schielte.  Sie hatte eigentlich nichts mit ihm, schließlich war er seit vier Monaten glücklich verheiratet, aber sie mochte es, wenn Männeraugen ihren Körper streichelten. Schließlich war sie in erster Linie Frau und keine Feministin und wusste schon, wen sie wann und warum in die Schranken wies. Das musste auch Bernd in der Cafeteria erfahren, dem sie eine Cola ins Gesicht schüttete, weil er dachte, ihr Hintern sei für seine Hand bestimmt.

Tilo war kein besonders attraktiver Mann, aber einen interessierten Blick war er schon wert. Irgendetwas ging in ihm vor. Natürlich fragte Franziska ihn ohne Umschweife, ob er über etwas reden wolle. Er wollte nicht und brachte das auch unmissverständlich zum Ausdruck, in einer Art und Weise, die sie schlicht verärgerte. Es war eine Mischung aus bösartigem Sarkasmus und Ablehnung. Irgendwie hatte sie zunehmend das Gefühl, dass sich die Stimmung an ihrem Arbeitsplatz verdüsterte. Das mochte sie gar nicht. Eigentlich hatte sein Missmut mit Mario angefangen, der sich vor zwei Wochen aus dem siebenten Stock stürzte. Niemand wusste warum. Keine Schulden, keine Freundin, hohes Gehalt, schickes Auto und viele Freunde. Nichts, aber auch gar nichts konnte diesen Selbstmord erklären. Die Polizei glaubte schon an einen Unfall, obwohl das unwahrscheinlich war, es sei denn er war an diesem Tag unter die Fensterputzer gegangen. Außerdem stand er kurz vor der Beförderung zum CEO und war als bodenständiger Typ bekannt.  Tilo und Mario kannten sich nur vom Sehen, hatten nur selten in Dienstbesprechungen miteinander zu tun. Marios Tod war traurig, berührte Tilo aber kaum. Im Gegenteil, er war erstaunt, dass Herr M., wie er ihn immer nannte, weil ihm der Vorname nie einfiel, sich ohne Grund in den Tod stürzte. Doch zwei Tage später begann wie aus dem Nichts die allmähliche Verwandlung Tilos, wie Franziska es insgeheim für sich nannte. Zuerst dachte sie, dass vielleicht Tilos Frau der Grund dafür sein könnte. Sie kannte Tina, eine sehr nette und herzliche Frau, die sich auch schon mal mit ihr unterhielt, wenn sie Tilo aus dem Büro abholte. Im Prinzip hatte niemand etwas dagegen, brachte sie hin und wieder den Büroleuten etwas mit. Franziska hatte oft etwas später Feierabend und konnte von ihrem Fenster aus die traute Zweisamkeit von Tilo und Tina beobachten, wenn sie ins Auto stiegen.
Eigentlich passte seine Fröhlichkeit und Herzlichkeit  mit seiner Frau nicht mit seinem Verhalten im Büro zusammen. Er schien mit ihr ein ganz anderer Mensch zu sein. Tina war aber auch  eine Schönheit. Ihre langen schwarzen Haare reichten bis zu ihrem wohlgeformten Po, ihr ganzer Körper hatte etwas von einem Model. Auch ihre Brüste zogen die Blicke auf sich. Die kleine Narbe, die manchmal in ihrem Dekolleté zu sehen war, schien ihre Attraktivität noch zu steigern. Tilo sprach früher dann von ihrem ungeschickten Fleisch. Franziska kannte eigentlich die Männer und war kein Kind von Traurigkeit, aber Tilos seltsames Verhalten, quasi aus dem Nichts, ohne tieferen Grund, war ihr ein Rätsel. Arm war er auch nicht, er verdiente hier genug, um sich drei Frauen halten zu können. Franziska lächelte, ein Dreier wäre wohl nicht abzulehnen.

Jetzt musste sie über diese obskuren Gedanken laut lachen. Tilo sah sie erstaunt an und runzelte die Stirn: „Darf ich fragen, was hier so lustig ist?“, brummte er. „Man, komm mal runter. Was ist nur los mit dir? Das ist doch scheiße. Wenn du reden willst, dann rede!“, herrschte sie ihn etwas zu laut an. Plötzlich war es still in dem weitläufigen Büro. Franziskas Ausbruch überraschte alle. „Habt ihr nichts zu tun?“, rief Tilo drohend in die Runde und sah Franziska dann wütend an. „Und du hältst dich raus. Sonst…“, seine Augen funkelten. Franziska stand auf, lehnte sich über den Schreibtisch und sah ihm tief in die Augen. „Sonst?“ Thilo beugte sich über die Tastatur. „Wirst schon sehen…“, rief er. „Stiesel“, schrie sie laut, so dass es wieder jeder hören konnte. Thilo reagierte nicht und vertiefte sich in seine Arbeit.

Kommissar Redlich blickte Brommel streng an. „Was ist denn los in Ihrer Abteilung? Warum springen jetzt alle aus dem siebenten Stock? Soll das eine Tradition werden?“ Natürlich wusste Redlich, dass er jetzt etwas übertrieb, aber der feiste Abteilungsleiter mit dem hochroten Gesicht provozierte ihn einfach, auch ohne etwas zu tun. Brommel tupfte sich mit einem Taschentuch das verschwitzte Gesicht ab. „Warum alle, es waren doch nur …“, er kam nicht mehr dazu, sein Gestammel zu beenden, denn der Kommissar fiel ihm streng ins Wort. „Nur? Mensch, zwei von zehn Mitarbeitern hier in der Abteilung, das ist schon eine Hausnummer.“, sagte er etwas zu streng. Brommel war sichtlich konsterniert. „Ich weiß auch nicht, aber der Herr Mertens vorige Woche war nicht aus meiner Abteilung, der stand weit über uns und war einer CEOs.“ „Umso schlimmer, dann stimmt etwas nicht in diesem Haus“, fuhr er Brommel an. Redlich senkte die Stimme. Er merkte, dass sein Gegenüber sichtlich überfordert war. Der Kerl konnte keiner Fliege etwas zuleide tun und schließlich hatte darüber hinaus ein wasserdichtes Alibi. Es klopfte an der Tür. Redlich rief wie selbstverständlich „Herein“. Die Tür öffnete sich und ein Mann in mittleren Jahren trat ein. „Kommen Sie rein! Sind Sie Herr Theißen?“ Tilo nickte wortlos. Er kannte sein Gegenüber nicht, merkte aber sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Abteilungsleiter wischte sich immer noch vergeblich über das verschwitzte Gesicht. Tilo war verwirrt, im ganzen Haus stimmte etwas nicht. Alle schauten Tilo heute Morgen im Büro seltsam an und es herrschte eine unheimliche Stille. Niemand arbeitete wirklich, einige starrten vor sich hin. „Ich glaube, Sie sind gerade erst gekommen!?“, fragte Redlich streng. „Vielleicht sollte ich mich vorstellen. Mein Name ist Redlich, Kriminalhauptkommissar in dieser schönen Stadt.“  Tilo starrte Redlich an und übersah die ausgestreckte Hand. Plötzlich dämmerte es ihm. Die Polizeiautos vor dem Haupteingang, die Stille im Büro, kein Laut, keine Arbeit. Er stand irgendwie immer noch neben sich und erinnerte sich an den schrecklichen Fund nach seinem Aufstehen.

Nach dem Aufstehen fand er seinen toten Hund unter dem Wohnzimmertisch. Das überforderte ihn fast und er fand auch keine einzige Verletzung. Das Tier fühlte sich nur merkwürdig an, als er es in das Tiefkühlfach legte. Seine Frau schien nichts bemerkt zu haben. Sie war sehr früh aufgestanden und zur Arbeit gegangen. Gestern Abend war es spät, als sie nach Hause kam, sodass sie wohl am Morgen zu lange schlief und in Eile war. Er hatte umsonst ein tolles Abendessen gezaubert und nur ihr Kommen nebenbei beim Einschlafen bemerkt.

„Mordkommission? Was ist denn passiert?“, fragte er Redlich verwirrt. „Frau Daun ist beim Eisessen vom Dach gesprungen“, sagte Redlich trocken. Er trat dabei auf Tilo zu, der sich unwillkürlich leicht nach hinten lehnte. „Franziska, Franziska Daun? Meine Kollegin? Aber warum…? Wieso beim Eisessen?“, Tilo sah den Kommissar an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Der sprach jetzt ganz leise: „Warum? Da könnten Sie vielleicht helfen. Und Eis essen? Nun, sie hatte auf dem Dach ein Eis in einem Becher gegessen. Offenbar ist sie gestolpert, hingefallen und hat sich mit dem Löffel ins Auge gestochen. Vor Schmerzen taumelte sie herum und fiel vom Dach“. Tilo schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe gestern noch mit ihr gesprochen. Das ist ja furchtbar“, in seinem Kopf begann es zu hämmern, wie schon sooft in den letzten Monaten.  Redlich kniff die Augen zusammen: „Sie haben nicht mit ihr gesprochen, Du hast mit ihr gestritten.“

Dieser plötzliche Wechsel vom „Sie“ zum „Du“ wirkte auf Tilo sehr bedrohlich. Seine Gedanken begannen zu kreisen. Er hatte das Büro, wie die anderen Mitarbeiter noch vor Franziska verlassen und unten auf dem Parkplatz seine Frau Tina getroffen. Er fuhr mit ihr einkaufen und setzte sie kurz darauf beim Arzt in der Nähe seines Dienstortes ab. Im Auto unterhielten sie sich über Belangloses und er erzählte ihr von dem Streit mit Franziska. „Wahrscheinlich hat sie dich verdächtigt., sagte er belustigt. in Richtung seiner Frau. „Verdächtigt?“, fragte Tina. „Na, Sie meint ich habe schlechte Laune. Hab ich aber nicht, nur viel Arbeit. Sie fragte mal, ob zwischen uns was nicht stimmt.“  Für einen kurzen Moment verfinsterte sich Tinas Gesicht: „Und stimmt was nicht?“ „Quatsch, sie reimt sich etwas zusammen. Ich rede nicht über uns.“ “Besser so. Sie fragt zuviel”, bemerkte Tina, und die Sache war vergessen. Tilo maß ihr auch keine Bedeutung bei.

 

Sie kam sehr spät nach Hause. Tilo wusste, dass es Probleme mit ihrer Schnittwunde am Arm gab, die sie sich vor kurzem bei der Gartenarbeit zugezogen hatte. Tina war ein Einzelkind und sehr verhätschelt von ihren verstorbenen Eltern. Sie hatte einfach kein Händchen für Messer oder gar Werkzeuge. So zog sie sich schon einige Narben an Armen und Beinen zu. Er nahm ihr deshalb jede „gefährliche Arbeit“ ab, selbst das Gemüseschneiden betrachtete er als gefährlich. Eine besonders schöne Narbe war auf ihrer Brust. Aber die hatte sie sich schon als Teenager zugezogen, lange bevor sie sich kennenlernten. Tilo lächelte unwillkürlich, versteinerte aber sofort, als er das verdutzte Gesicht des Kommissars sah. „Es war also ein lustiger Streit?“, fragte Redlich, der keine Gedanken lesen konnte. „Nein, nein“, erschrak Tilo und schilderte Redlich den Ablauf des Vortages nach seinem Verlassen des Büros und auch vom angeblichen Streit mit Franziska.

 

„Warum bleibt Frau Daun eigentlich immer länger?“, fragte Redlich den Büroleiter. Der hob die Hände: „Sie mag es nicht, wenn Arbeit liegen bleibt, da ist… da war sie wohl etwas pedantisch. Und immer blieb sie auch nicht länger als andere.“ Tilo nickte und starrte vor sich hin. Redlich wanderte nachdenklich durch den Raum. Plötzlich wurde die Tür unsanft aufgerissen. Ein in weiß gekleideter Mitarbeiter der KTU kam auf Redlich zu und reichte ihm eine Tüte mit undefinierbarem Inhalt, der irgendwie wie flüssiger Schleim aussah. Redlichs Gesicht zeigte pure Verwunderung. Er nahm die Tüte, wedelte damit vor Tilo hin und her und fragte: „Wissen Sie, was das ist?“ Tilo schüttelte den Kopf und blickte hilfesuchend zu seinem Büroleiter, der nun seinen Schweiß völlig vergessen hatte und die Tüte anstarrte. „Das ist geschmolzenes Vanilleeis von Ihrem Schreibtisch, an dem Sie sitzen Tag für Tag.“  Tilo taumelte zurück und wurde vom Schreibtisch des Büroleiters aufgehalten. Brommel zuckte erschrocken zusammen. „Aber… aber ich esse doch gar kein Vanilleeis …“ „Dann haben Sie eben Frau Daun dieses Eis gegeben und sie zu einem Eis Tete-a-Tete aufs Dach gelockt“, fuhr Redlich Tilo an. „Nein“, Tilo war verzweifelt, „Franziska aß niemals Eis, weil ihr die Zähne dabei wehtaten. Sie war da sehr empfindlich.“ Redlichs Handy klingelte. Er hörte ohne ein Wort zu sagen zu und seine Augen wurden groß. „Herr Theißen, wir durchsuchen gerade ihr Haus. Man hat einen toten Hund in der Tiefkühltruhe gefunden. In dem Tier steckt ein Messer tief drin, dass man es auf dem ersten Blick übersah. Das Messer ist aus ihrer Küche und der Hund völlig ausgeblutet. Ach ja, und ihnen fehlt jetzt auch ein Löffel, der steckt im Auge von Frau Daun.“  Tilos Kopf begann zu schmerzen, es war wie ein Stich. Er verstand im ersten Moment nicht, was los war. Seit drei Monaten litt er unter seltsamen Kopfschmerzen, die sogar zu kleinen Aussetzern führten. Aber das hier überstieg seine Vorstellungskraft und verursachte augenblicklich einen Anfall. Kalte Wut stieg in ihm auf und entlud sich plötzlich explosionsartig. Mit einem Schrei stürzte er sich auf den Kommissar, der ihn im letzten Moment mit einem gezielten Faustschlag niederstreckte.“Sie sind vorläufig festgenommen.“, zischte Redlich. „Ich war es nicht.“, stöhnte Tilo.

„Wir müssen reden.“, meinte Tina. Tilo nickte und legte seinen Kopf auf die Rücklehne seiner Couch. Eigentlich hatte er in den letzten zwei Wochen schon genug geredet. Endlose Verhöre, die ihn mürbe machten, aber letztendlich musste man feststellen, dass er kein Motiv hatte und zum Zeitpunkt des Sturzes von Franziska Daun mit seinem Hund spazieren ging. Seine Frau war nachweislich beim Arzt. Die Alibis waren stimmig. Auch die Tötung des Hundes konnte man Tilo nicht nachweisen. Man fand von dem ausgebluteten Tier keinen einzigen Bluttropfen in seiner Wohnung, was sehr merkwürdig war. Nur an dem Messer war sein Fingerabdruck, aber das war eigentlich klar, da er jeden Tag irgendein Messer aus der Küche benutzte. Schließlich musste man ihn freilassen, aus Mangel an Beweisen, durch Mangel an Motiven. Der Fall war ein Rätsel. Tilo war völlig fertig. Er konnte sich die ganze Sache auch nicht so recht erklären Wo war er da nur rein geraten? Ihm ging es in letzter Zeit auch zunehmend schlechter. Er war von einer seltsamen Depression befallen, die er so nicht kannte. Manchmal hatte er Aussetzer und konnte sich an die letzten paar Minuten nicht erinnern. Manchmal glaubte er schon tatsächlich seinen Hund getötet zu  oder Franziska vom Dach geworfen zu haben. Unbeherrschte Wutanfälle auf Arbeit waren keine Seltenheit. Man hatte ihm nahegelegt seinen Arbeitsplatz zu wechseln und wollte eigentlich nur den Makel, der auf der Firma lastete, loswerden. Tilo wollte eigentlich nur noch seine Ruhe. Er nickte zwar zu Tinas Vorschlag hatte, aber eigentlich keine Lust auf Reden. Tina stellte ihm sein Bier hing, wie jeden Abend, seitdem sie heirateten. Es waren 0,33 l, also konnte von Alkoholmissbrauch keine Rede sein, versicherte Tina.

 

„Du bist in letzter Zeit sehr still.“
„Naja, kein Wunder nachdem was alles vorgefallen ist.“
„Der Redlich kann ganz schön nervig sein.“
„Der glaubt immer noch, dass ich was zu damit zu tun habe.“
„Du hättest nicht aggressiv werden sollen.“
„Ich weiß nicht, woher das kommt, es ist erst seit…“

„Seit?“
„Hm, seitdem wir geheiratet haben.“
„Dann bin ich daran schuld!?“
„Nein, das hab ich nicht so gesagt.“
„Redlich hat mir das so fast unterstellt.“
„Er braucht Motive, egal wo er sie herzaubert.“, Tilo fühlte sich ausgelaugt. Redlich hatte natürlich auch Tina befragt. Seine Frau konnte aber kein verändertes Verhalten von Tilo ausmachen. Medikamente nahm er auch nicht zu sich. Tina rückte näher an ihren Mann heran.

„Er wird nicht locker lassen.“

„Ich weiß, hab es hautnah zwei Wochen lang erlebt. Ich versteh das alles nicht. Das mit Franziska und mit Bommel erst recht nicht. Ausgeblutet, wieso war der ausgeblutet?“
„War schon komisch mit dem Hund, aber ich hab ihn eigentlich nicht so richtig gemocht. Er rieb immer an meinem Bein.“
„Quatsch, der machte Männchen, freute sich einfach nur.“

„Na ich weiß nicht, der war doch krank. Deine Franziska wohl auch.“
„Franziska krank? Wo hast du den Unsinn her? Die war lebenslustig. Ein bisschen irre, aber sympathisch irre. Das war ein Unfall, aber das Eis irritiert mich.“
„Ich fand sie auch immer ein bisschen komisch, wer weiß welche Leichen sie im Keller hatte.“
Es klingelte. Tilo ging zur Tür. Vor ihm stand eine junge Frau vom Pizzadienst. Im ersten Moment kam ihm das Gesicht bekannt vor, aber er verwarf den Gedanken. Sie hatte einen Verband um den rechten Arm, genau an derselben Stelle wie seine Frau. ‚Frauen‘, dachte er, ‚ungeschicktes Fleisch lässt grüßen.‘ Tina, hast du Pizza bestellt?“, rief Tilo ins Wohnzimmer. „Ach ja, warte ich komme. Geh ins Wohnzimmer, ich mach das schon.“ Tilo war froh sich wieder setzen zu können. Er fühlte sich schlapp und nahm noch einen Schluck vom Tee, den seine Frau ihm abends immer zubereitete. Er hörte die beiden Frauen noch tuscheln und wunderte sich, wie man sich so lange über eine Pizza unterhalten kann. Dann klappte zweimal die Tür, was auch seltsam war. Tina stellte die Pizza auf den Tisch und brachte ein Messer und Teller mit. „Das Messer übernehme ich“, lachte Tilo, „sonst hast du noch eine Narbe.“ Er zerschnitt die Pizza fachgerecht in kleinere Teile und beide ließen es sich schmecken. Tilo lehnte sich zufrieden zurück und fühlte eine Müdigkeit über sich kommen. Er schaute an die Decke und beobachtete eine kleine Fliege. Plötzlich blitzte es vor seinem Auge auf und eine mächtige Messerklinge stieß auf ihn zu. Noch bevor realisieren konnte, was geschah, fühlte er einen brennenden Schmerz in seinem Auge und seinem Kopf für den Bruchteil einer Sekunde. Dann umfing ihn weißes Licht und er war aus der Welt geschafft. Es gab ihn schlicht nicht mehr.

Tina hielt den Kopf schief und betrachtete Tilo. In seinem erschrockenen Gesicht steckte tief im Auge das Messer und Blut lief an ihm herunter. Zufrieden lächelte sie. „Du kannst kommen“, rief sie. Die Pizzabotin kam, schaute kurz auf den toten Mann und nickte. Dann nahm sie das Filetiermesser aus ihrer Tasche. „Bist du bereit?“, fragte sie. Tina nickte, „Natürlich wie immer.“

Kriminalkommissar Redlich stand ein wenig ratlos neben der Leiche. „Frau Theißen, sie haben schreckliches erlebt. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“ Die im Sessel zusammengekauerte, schluchzende Frau nickte. Ein Sanitäter verband ihr gerade den linken Arm, in dem eine Schnittwunde klaffte. Ihr Blut war deutlich am Sessel zu sehen. Der Sanitäter schaute auf Redlich. „Bitte nicht so lange. Wir schaffen sie erst ins Krankenhaus.“
„Ihr Mann ist einfach nur so auf sie losgestürzt.“, begann Redlich.
„Ja, er hatte die Pizza geschnitten. Plötzlich schrie er, dass ich wohl die falsche Pizza aufgetaut und zubereitet hätte und fuchtelte plötzlich mit einem Filetiermesser herum.“ „Woher hatte er das?“ „Ich nehme an aus der Küche.  Ich hab gerade unsere Teller aus dem Stubenschrank geholt. Da sind unsere Pizzateller und zu groß für die Küchenschränke“, sie schluchzte auf. „Und was war dann?“, fragte leise Redlich. „Er ging auf mich los, schrie was von unfähig und das sowas nicht in die Welt gehört. Zuerst warf er die Pizza nach mir und versuchte dann auf mich einzustechen. Ich hatte Todesangst. Plötzlich war das große Messer in meiner Hand und dann weiß ich nicht mehr so richtig. Er saß plötzlich da, mit dem Messer im…“, sie fing an hemmungslos zu heulen. Redlich bemerkte Reste der Pizza in ihrem Haar. „Wir nehmen sie jetzt mit“, sagte der Sanitäter, „Sie müssen sie später befragen.“ Redlich nickte und sah sich um. Tilos Leiche hatte noch immer das Filetmesser in der Hand und das große Messer im Auge. Eine kleine Blutspur verlief von der Couch zum Sessel, in dem eben noch die verzweifelte Frau saß. Der Tisch war umgeworfen. Es sah schon nach einem Kampf aus, ein Pizzateller zerbrochen und Teile der Pizza befanden sich auf dem Boden.

 

Redlich klappte den Ordner zu. „Sie schließen den Fall ab?“, fragte sein Assistent. „Ja, nach drei Monaten Ermittlungen ist doch alles geklärt. Tina Theißen hat aus Notwehr gehandelt, Franziska Daun hatte einen Unfall, ihr Tilo Theißen war ein Psychopath. Trotzdem habe ich das Gefühl, irgendwas stimmt an der Sache nicht. Wir haben etwas übersehen!“

„Hm, alle Spuren deuteten auf einen Kampf hin. In seinem Körper wurden Spuren eines Barbiturats gefunden. Vielleicht hatte er eine Beziehung zu der verunfallten Franziska Daun und wurde deshalb depressiv oder aggressiv.“ „Trotzdem, wie passt der Hund darein, oder das Eis. Frau Daun aß kein Eis, das bestätigten mir sogar einige Männerbekanntschaften von ihr. Trotzdem fand man im Mund Reste.“ „Vielleicht hat er sich am Hund ausprobiert, vielleicht auch an Frau Daun oder er kam zurück und man hat weitergestritten.“, versuchte der Assistent eine Theorie. „Geübt an einem Hund? Das Ausbluten? Das ergibt keinen Sinn.“, entgegnete Redlich. „Vielleicht…“, hob der Assistent zu einem neuen Versuch an. Redlich unterbrach ihn. „Das sind mir zu viele „Vielleichts“ und zu wenig Fakten. „Und da ist noch der Mario, der sich vor Frau Daun aus dem Fenster stürzte.“, sinnierte Redlich. Der Assistent protestierte: „Ich denke das hat nun gar nichts mit dem Daun oder Theißen-Fall zu tun. Das ist doch wohl hinlänglich bewiesen.“ Redlich schaute den Assistenten an: „Ist es das?“  Redlich nahm seinen Mantel und seine Tasche. „Na wie dem auch sei. Ich geh dann heute mal früher.“, sagte er grinsend. Der Assistent grinste zurück: „Ah, die Frau mit den schwarzen Haaren ist wohl ihr Date. Sie hat einen Gehfehler, oder?“ Redlich sah sein Gegenüber streng an: „Das geht sie zwar nichts an, aber Sie haben richtig gespannt. Ist ein Jagdunfall in ihrer Jugend gewesen. Aber sie kann gut mit Hunden. Passen sie auf, dass sie nicht eines Tages einen auf Sie hetzt.“ Der Assistent blieb bei seinem Grinsen und schloss die Tür hinter Redlich.

 

Die beiden Frauen im Liegestuhl am Hotel ließen es sich gut gehen.  Beide hatten einen Tisch neben sich stehen. Palmen spendeten Schatten. Ein Besucher der zufällig an ihnen vorbeigegangen wär, hätte gesehen, dass beide am rechten Arm einen kleinen Verband an derselben Stelle trugen. Ein Blick ins Gesicht der beiden wäre genügend gewesen, um zu erkennen, dass es sich um Zwillinge handelte. Es gab aber einen kleinen Unterschied, den man aber nur bemerken konnte, wenn die beiden irgendwo hingingen. Dann wäre bei einer der Frauen ein kleiner Gehfehler durch eine Verkürzung der Achillessehne aufgefallen. Aber wer sollte sie hier in den Alpen an diesem Pool mit Palmen schon kennen.
„Dein letzter Job als Pizzabäckerin war Klasse.“, sagte Tamaris, die Frau mit dem Gehfehler.
„Ach was, bin ja kaum in Erscheinung getreten, habe dir nur das Filetiermesser und die Pizza gebracht.“
„War doch lustig, die eine ein Löffelchen im Auge, der andere ein Messer.“, Tamaris kicherte vor sich hin. „Vermisst Tina ihren Tilo?“ „Tilo? Um Gottes Willen, nein. Er war nur unsere Urlaubskasse. Die drei Monate mit ihm waren langweilig.“ „Na, wenn die liebe Tina, äh Sybille, ihm diese Mittelchen aus Brasilien in den Tee rührst, ist es doch klar. Aber dadurch wurde Tilo willenloser und depressiver und unsere Tina schneller Witwe mit einer Menge Geld. „Erwähne hier nicht den Namen Tina, die gibt es nicht mehr.“, zischte Sybille Tamaris eindringlich an. Die nickte verstehend.

„Ja, die Drogen waren von Guillermo, dem Brasilianer, der kannte jede Droge. Warte, der war… Moment… diese Narbe.“ Sybille zeigte auf ihren Oberschenkel.“ Tamaris widersprach sofort: „Nee das war Klaus vor drei Jahren, Guillermo war das hier.“ Sie tippte auf den linken Arm in Höhe ihrer Schulter. „Ach ja, stimmt, hier also“ sagte Tamaris und tippte sich auf eine Narbe an gleicher Stelle bei sich selbst. „Vermisst du etwa Mario?“, fragte ihrerseits Sybille. „Auf keinen Fall.“, entgegnete Tamaris. „Der war auch langweilig. Seine Mutprobe war auf jeden Fall Klasse. Er stellte sich ins Fenster seines Büros und hatte dann zufällig einen freien Fall. So’n Pech, musste fast nichts tun, nur ein wenig in seinen Bauch mit dem Finger piksen Gut, dass er die Macke hatte, seinen Tresor- schlüssel immer im Aktenkoffer zu tragen. Zwei Wochen nach dem Unfall“, sie machte mit den Fingern Anführungszeichen, „sprach ich, also eigentlich du, wieder mal mit ihr. Da wurde sie aufdringlich und fragte dauernd was mit Tilo los sei. Sie wurde lästig.“ Ja, sie musste weg“, erinnerte sich Sybille. „Als ich damals mit Tilo zum Arzt fuhr, wegen unserer Narbe, habe ich dich ja gleich angerufen. „Richtig. Ich bin dann zum Büro, die Trulla arbeitete noch“, meinte Tamaris „Die hat immer noch gedacht ich bin du.“
„Warst du ja auch. Gott, ist das verwirrend. Hat sie dir eigentlich abgenommen, dass du was vergessen hattest?“
„Klar doch, Tilo sagte mir, wo das blaue Heftchen war, das ich am Anfang ihm schenkte. Er hatte es immer im Büro bei sich.“
„Ach das, wo ich stundenlang Liebeschwüre reinmalte.“, beide lachten wieder laut auf.
„Nur dass sie kein Eis aß war doof, aber sie konnte nochmal die schöne Aussicht mit mir vom Dach genießen. Da oben wollte ich schon immer tatsächlich hin. Sie vertraute mir und nahm mich mit, die dumme Kuh. War ja keiner mehr da.“, Tamaris rekelte sich zufrieden.
„Danach war sie auf einem Auge blind, durch einen Löffel geblendet.“, bemerkte Sybille zufrieden.
„Wieso hast du es mit dem Löffel getan? Ein Stilett wurde von dir sonst stets benutzt.“

Tamaris lachte und erzählte: “Als ich mal auf Mario wartete, lauschte ich zufällig bei einer Blondine und einem älteren Mann, die hinter mir auf der Eckbank im Park saßen. Er meinte, dass sie wohl am liebsten unfreundliche Menschen mit einem Messer oder gar Machete umbringen wolle. Daraufhin entgegnete die Blondine, dass sie dafür lieber einen Löffel nehmen würde, weil es mehr Schmerzen mache. Die fanden das beide lustig. Ich setze also nur die Fantasie andere Leute um. Hatte ja gerade durch das Eis einen Löffel zur Hand. Leider fiel unsere Tussi zu schnell vom Dach und konnte den Schmerz nicht mal richtig auskosten. Schön das ich einen zweiten Löffel hund ihre Büroschlüssel hatte. So konnte ich das Eis noch essen und verschwinden.“ „Gut, dass niemand unsere richtigen Namen kennt“, sinnierte Sybille.
„…und auch nie kennenlernen wird. Ich mochte Susi und Sonja nie.“ meinte Tamaris.
„Darum haben wir auch unsere besondere Narbe zusammen hier.“, grinsten beide und tippten auf die Narbe zwischen ihren Busen, der diesen besonders attraktiv aussehen ließ. „So ist unsere Mutter noch immer ein Hingucker“, wieder kicherten beide. „Gott sei Dank haben wir von ihr das Erbe besonders schmerzfrei zu sein. Diese Analgie ist für uns ein Segen. Wir können unsere Narben und Wunden ohne Schmerzen klonen. Wie sehen wir wohl in 30 Jahren aus?“, fragte grübelnd Sybille.
„Ach die einen haben Tattoos mit Geschichten, die anderen Narben mit Geschichten. Bis jetzt sind es nur 9 Narben, plus Mutter.“ Tamaris war jetzt nachdenklich. „Ich bin froh, dass wir Zwillinge sind. Das Leben ist schön. Mario dachte, er könnte die Frau seines Büroangestellten vernaschen. Es war manchmal mühsam mit ihm, aber auf der anderen Seite war seine extreme Vorsicht für uns gut.“ Es entstand eine Pause, die von Tamaris unterbrochen wurde.
„Was machen wir mit dem eingefrorenen Hundeblut?“, fragte sie. „Schließlich habe ich das Vieh nachts über Stunden ausbluten lassen, während ihr geschlafen habt. Gut das es nur ein kleiner Spitz war.“ Sybille flüsterte jetzt: „Das wird ein besonderer Streich. Da kannst du deine Schmink- und Verwandlungskunst wieder voll ausspielen. Keiner wird wissen, wer wer oder gar was ist.“ Sybille kicherte kurz. „Stell dir vor, man findet einen ausgebluteten Mann über eine Blutlache hängend. Aus seinem aufgeschlitzten Bauch tropft, na …?  Richtig Hundeblut.“ Tamaris kicherte: „Ganz schön psychopathisch.“ „Das nehm ich als Kompliment. Ich hab dem Kerl geschrieben, natürlich in deinem Namen. Wir, also du, als etwas Behinderte treffen uns in zwei Wochen auf Usedom, da hat er frei?“ „Ach den meinst du, na gut, das aber ist jetzt ein Stück Rache, oder?“, fragte Tamaris. „Genau“, Sybille war zufrieden mit dem Gedanken an ihre nächste Arbeit. „Hoffentlich steht er auf Behinderte?“, überlegte Tamaris. „Keine Sorge, wenn du nackt bist, hat er nur Augen für die Weiblichkeit. Außerdem ist es nur ein wenig humpeln, da musst du nicht mal trainieren. Überlege lieber wie du dein Gesicht so schminkst, dass er nicht die Tina wieder erkennt.“, Sybille genoss ihre Gedanken und schloss die Augen. „Krieg ich spielend hin, wie immer.“, murmelte Tamaris noch und schlief ebenfalls ein

Redlich schloss seinen Briefkasten auf. Er nahm die Zeitung heraus und eine Ansichtskarte von Halle fiel heraus. Er drehte die Karte herum und las: „Viele Grüße aus meiner Heimatstadt. Ich freu mich riesig auf unseren Urlaub in zwei Wochen auf Usedom. Bei schönem Wetter können wir an dem FKK-Strand gehen, wenn es dir nichts ausmacht. Deine Mandy.“ Ein Kussmund zierte die Unterschrift. ‚Endlich mal kein Blut, Mord und Totschlag, keine Psychopathen, sondern nur eine schöne Frau. FKK, klingt gut.“ Redlich grinste und freute sich riesig auf seinen Urlaub.

Reiseberichte

Ach, wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal an der Rappbodetalsperre oder gar am Regenstein war. In manchen Erinnerungen schwingt auch viel Wehmut mit. Also nehmen wir uns vor, diese Erinnerungen auf den neuesten Stand zu bringen. Im Computer geht das blitzschnell. Ein Knopfdruck und die Sache ist erledigt. Meistens jedenfalls, wenn er nicht abstürzt. Auf jeden Fall wollen wir die Aktualisierung genießen und sie darf ruhig ein wenig dauern. Das tut sie auch, denn zunächst haben wir eine Fahrt ohne besondere Vorkommnisse vor uns.

Bald haben wir viel Landschaft im Vorbeifahren genossen und finden uns auf dem großen Parkplatz an der Staumauer wieder. Dieses riesige Betonbauwerk wurde von 1952 bis 1959 errichtet und zum 10. Jahrestag der DDR eingeweiht bzw. eröffnet. Hier steht also noch ein echtes sozialistisches Bauwerk, und das sehr monumental. Aber vor dem Genuss kommt die Verwirrung und die findet noch auf dem Parkplatz statt. Wir mussten kein Ticket ziehen, das war gut. Schlecht war, dass wir keine Erklärung dafür fanden, dass wir am Ende für die Parkzeit bezahlen mussten. Woher wissen die Betreiber, wie lange wir da sind? Nicht nur wir sind verwirrt, sondern anscheinend auch andere Besucher des Parkplatzes. Wir beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen, schultern unsere Rucksäcke und lösen ein Ticket für die Titanbrücke. Was mich dort erwartet, ist die Hölle. Ich bin nicht schwindelfrei und diese riesige Brücke, die das Tal überspannt, zerrt an meinen Nerven. Ich konnte es nicht ertragen, wenn Sylvia über die Brücke ging und so tat, als wäre diese verdammte Höhe das Normalste der Welt. Den Blick starr geradeaus gerichtet, mit beiden Händen links und rechts das Geländer festhaltend, gehe ich stur an den Leuten vorbei, so schnell ich kann. Naturgenuss Fehlanzeige, mein Magen überlegte, ob er mich nicht einfach verlassen wollte. Schlimm war es, mit einer Hand an den Leuten vorbeizugehen. Manche blieben mitten auf dem Weg stehen. Da war guter Rat teuer. Dazu kam das Vibrieren. Ich sah schon den Überschlag vor mir und mich ins Wasser stürzen. Ich wünschte den Konstrukteuren die Pest an den Hals und Sylvia plapperte hinter mir fröhlich etwas von der schönen Aussicht. Von wegen Aussicht, mein Blick klebte am Ende der Brücke und dieses Ende schien kaum näher zu kommen, meins schon. Am Ende der Brücke stand ich wieder aufrecht und fotografierte selbstbewusst die Gegend und Sylvia, die weit hinter mir immer noch auf der Brücke stand und permanent vor sich hin lächelte. War doch nicht so schlimm, dachte ich selbstbewusst, aber noch einmal über dieses Ungetüm? Nein, um nichts in der Welt.

Ich schickte meiner besten Freundin ein paar Fotos von der Seilrutsche, wo sich die Verrückten in eine Art fliegende Schlafkoje zwängen und von einem Turm am Anfang der Brücke mit Höllengeschwindigkeit über das Wasser gleiten. Ich hatte Mitleid mit ihnen und freute mich schon darauf, ihre Schreie zu hören, wenn sie das Video sahen. Warum sollte ich leiden? Mittlerweile war Sylvia bei mir und mein Puls hatte sich wieder normalisiert. Ich brauchte einen Milchshake und einen Keks, um die Hölle zu vergessen. Am liebsten wäre ich über die Brücke zurückgegangen. Aber da ich in meinem Alter nicht zu den Adrenalin-Junkies gehöre, hätte mich keine Macht der Welt noch einmal darüber gejagt.

Gott sei Dank war der Rückweg wegen Corona nicht möglich und wir schlenderten gemütlich über die Staumauer zurück. Endlich war die Natur wieder da und ich hatte Zeit, mich dem Fotografieren hinzugeben. Wie friedlich und sicher dieser Weg war. Ich fotografierte die Titanbrücke, deren höllischen Weg ich aus meinem Gedächtnis streichen wollte.

Da war nur noch die Sache mit dem Parkplatz. Also, wie war das nochmal, kein Ticket, aber nach Parkdauer bezahlen. Also auf zum Automaten. Ein hagerer älterer Herr versuchte verzweifelt Münzen in den Schlitz zu stecken. Irgendwie funktionierte es nicht. Wir gaben ihm gut gemeinte Ratschläge, die ihn aber nur noch wütender zu machen schienen. Schließlich gab er auf: Dann versuch’s doch”, sagte er mürrisch zu mir und ging. Mit der mir eigenen Gelassenheit versuchte ich, dem Geheimnis des Automaten auf die Spur zu kommen. Aha, wir mussten unser Autokennzeichen eingeben und Sylvia hatte gleich noch eine Eingabe: „Die haben uns gescannt“. An unserem Auto lüfteten wir das Geheimnis. Bei der Einfahrt wurden wir von einer sehr großen Säule links vom Auto gefilmt, aber das hatten wir übersehen, weil wir uns auf den Parkplatz rechts konzentriert hatten.

Erst bei der Ausfahrt achteten wir besser darauf, hatten unser AHA-Erlebnis und fuhren weiter zum Regenstein. Jedenfalls sollte dies die mit Abstand ungefährlichste Etappe werden.

Nur die Leute am Regenstein wussten noch nicht, was sie dort von mir zu erwarten hatten. Auf dem Regenstein wartete Geschichte und ein aufgeregter dichtender Micha. Noch war es ruhig auf dem Felsen.

Tag 1 Einschiffung

„Ich wünsche euch viel Erholung, macht euch keine Sorgen, ich schaffe das schon. Ich hab euch lieb“, der Facebook-Eintrag von unserer Katzenpflegemutter Nicki ist ganz ehrlich, aber sie kann noch nicht wissen, dass die Erholung erst einmal mit Stress beginnt, weil der Bus am Samstag nicht um 5.30 Uhr kommt. So warten wir etwa eine halbe Stunde, in der meine beginnende Erholung und gute Laune auf den Nullpunkt sinkt. Wir sind vergessen und ich sehe mich schon jammernd den Rest des Urlaubs auf Balkonien verbringen. Gott sei Dank taucht ein Bus unserer Reisegesellschaft auf, der uns zwar nicht mitnimmt, aber dessen Reiseleiter sich um uns kümmert. Dann geht alles ganz schnell. Ein Taxi wird bestellt, das uns 30 km weiter zum wartenden Bus bringt. Unsere Papiere hatten die falsche Uhrzeit. Die Reiseleiterin war aus irgendeinem Grund froh, uns doch noch im Bus zu haben. Irgendwie hatten wir nicht nur falsche Unterlagen, sondern die Reiseleiterin hatte auch falsche Telefonnummern von uns. So begann die Reise mit einer kleinen Aufregung und unsere Nicki hatte recht, die Erholung konnte beginnen. Wir sitzen im Bus, die Sonne scheint, es geht nach Warnemünde zur Costa Fortuna und dann in die norwegischen Fjorde. Erholung pur, Nicki wir lieben dich auch und unsere beiden Kater hoffentlich auch. Ich bin zufrieden, höre Pink Floyd und schalte ab. Klack. Ich denke an nichts mehr…

Um 11 Uhr kommen wir in Warnemünde an, viel zu früh, um 13 Uhr ist Einschiffung. Wir beschließen, uns ein wenig in der Stadt umzusehen, was mit dem Handgepäck gar nicht so einfach ist. Es lässt sich nicht schultern, enthält meine Technik und ist sehr schwer. Wir finden keinen Platz, wo wir es abstellen können, und so muss ich es schleppen, was meiner Laune nicht gerade zuträglich ist. Also versuchen wir erst einmal, den ess- und trinkbaren Inhalt zu reduzieren, haben aber nicht den richtigen Hunger. Dafür hat meine Kamera umso mehr Hunger und ich bin schon auf der Jagd nach Motiven für meinen Reisebericht. Eine Gruppe von Punkmusikern ist ein anachronistisches Detail inmitten der doch so maritimen Umgebung. Überhaupt laufen hier viele Typen aus der Szene herum, deren Outfit interessant, aber irgendwie abgerissen wirkt. Mir fällt eine Frau mit Kind an der Hand und Mann dazu auf, eigentlich nichts Besonderes, wäre da nicht ihr T-Shirt. „Gesocks und Assi aus…“, wahrscheinlich aus ihrem Heimatdorf. Die Kleidung ist dunkelschwarz bis blau, die Haare seltsam bunt und der Mann hat eine Seite komplett abrasiert und wirft die überdimensionale Strähne vom Scheitel nach hinten. Alles wirkt ein wenig lächerlich, aber irgendwie glücklich. Der Kanal hinter dem Bahnhof ist voll von Imbissbuden aller Art, und an den Kais hängen alte Schiffe in den Tauen. Motive gibt es genug. Nach den vielen Fotoshootings zu Hause mit den Mädels ist das eine willkommene Abwechslung.

Zum Abendbrot bekommen wir einen Tisch mit unserer Reisegruppe. Leider sind die uns zugeordneten Leute nicht nur alt, sondern auch mundfaul. Endlich aber kommt noch ein Ehepaar, die mitteilungsbedürftiger sind und schon bald haben wir ein gemeinsames Thema; Katzen. Na bitte, geht doch. Ich sehe meine Katzenpflegemutter zu Hause auf dem Boden krauchen auf der Suche nach unserem ängstlichen schwarzen Katers und muss unwillkürlich über das Bild lachen.

Der Tag war doch sehr stressig und so fallen wir schon um 21:00 Uhr ins Bett und schlafen sofort ein.

2. Tag – Kopenhagen

Kopenhagen hat sich in einen Wolkenmantel gehüllt und wir stehen schon früh an der Reling, um die Ankunft zu filmen. Im Frühstücksraum ist ein riesiges Gedränge, heute stehen Ausflüge in und um Kopenhagen auf dem Programm. Wir selbst haben uns vorgenommen, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden, denn auf der Fahrt nach St. Petersburg haben wir bereits an einer Stadtführung teilgenommen. Doch noch hängen wir beim Frühstück unseren Gedanken nach und ich lausche dem Stimmengewirr, aus dem ich ein paar Fetzen aufschnappe. „Gott sei Dank, das Schiff schaukelt nicht…“, „Du musst nicht dauernd ein Getränk bestellen, das ist teuer…“, „Die Kellner können kein Deutsch, das kann ich nicht leiden…“, „Walter, kannst du mir bitte ein Stück Kuchen holen, ja und die Gabel ist nicht sauber, ich brauche eine neue und vielleicht etwas Wasser, ein Brötchen wäre auch schön…“. Walter blieb bei jedem Befehl stehen und nickte, ich sah ihn nie wieder, wir waren früher fertig.
Ein Shuttlebus für 20 Euro, den wir erst nach langem Suchen (und nur dank unserer Englischkenntnisse) fanden, brachte uns in die Innenstadt von Kopenhagen zu einem von Kanälen durchzogenen Platz. Wir hatten kein Geld gewechselt, wollten nichts essen, sondern begaben uns auf Fototour. Auffallend waren die alten Hansehäuser, die unzähligen Fahrräder und die roten Briefkästen. Mit Hilfe eines Stadtplans und unseres Navigators machten wir eine Sightseeing-Tour, besuchten die Amalienburg, den Botanischen Garten und einen anderen schönen Park, in dem einige Obdachlose schliefen. Dort hatte eine Gruppe Jugendlicher eine mobile Musikstation, aus der laute Technoklänge dröhnten. Ich konnte nicht widerstehen und tanzte ein paar Rhythmen mit, sehr zur Belustigung der Gruppe, die mir zuwinkte. Manchmal ist man jünger als man denkt. Was wussten sie schon von meiner Discozeit, wo ich stundenlang auf der Tanzfläche stand, damals noch mit längeren Haaren und ohne Bauch.
Die Fotos machten sich von selbst, denn die Stadt bot genug Motive. Nach zweieinhalb Stunden waren wir todmüde und fuhren mit dem Shuttle zurück, um nach einem ausgiebigen Mittagessen in die Kabine zu gehen und ein Nickerchen zu machen.

Nach der Pause beschloss ich, in die Bibliothek zu gehen und meinen Reisebericht zu schreiben. Obwohl der Raum sehr schön eingerichtet war, mit einem Globus und anderen maritimen Dingen, gab es zum Bedauern meiner Frau keinen Blick auf das Meer oder den Hafen. Also suchten wir uns einen anderen Platz, den wir auch schnell fanden. Kaum ein Mensch war zu sehen und das bei über dreitausend Menschen an Bord. Ich startete meinen Computer, der sich sofort beschwerte, dass seine Batterie zu schwach sei und zack, war er auch schon unten. Was für eine Pleite, ich war stinksauer. Schließlich musste ich lesen, dazu hörte ich Musik von Pink Floyd (nach über 20 Jahren endlich mal wieder), was meine Laune allmählich besserte. Meine Frau atmete auf, sie wusste, wie anstrengend ich sein konnte, wenn etwas nicht so klappte, wie ich es geplant hatte. 200 Seiten und einen Latte Macchiato später war es Zeit für das Abendessen, die Zeit verging wie im Flug und das Schiff war so ruhig wie nie zuvor. Obwohl es erst der zweite Tag an Bord war, tauschten wir schon Fotos mit der Familie aus. Die Frau fand unsere Katzen ganz entzückend, der Mann interessierte sich mehr für die Konsistenz seines Essens. Der Abend klang mit einer Show im dreistöckigen Rex Theater aus. Musikalisch und in sehr schönen Kostümen durchstreiften die Sänger und Tänzer die Jahrhunderte, von den Tieren der Savanne bis zum Biedermeier. Es gab seichte Melodien und schöne Frauen, Unterhaltung pur. Müde fielen wir ins Bett, nachdem ich noch ein paar Nachtaufnahmen vom Schiff gemacht hatte. Ich dachte kurz an meine Katzen und ihre beiden Pflegeeltern, die eine 76, die andere 16 Jahre alt, die eine pflegeerfahren, die andere gewissermaßen Auszubildende, beide gute Freundinnen von uns. Gute Nacht Kater Marlowe, gute Nacht Kater Milow, gute Nacht Nicki, gute Nacht Christa, gute Nacht Sylvia und Klack, ich dachte an nichts mehr…

3. Tag – Tag auf See

Eigentlich könnten wir heute ausschlafen, es ist ein Tag auf See. Aber Sylvia hat genug vom Frühstücksrummel und lässt sich lieber bedienen, als inmitten einer ständig plaudernden Menge am Buffet zu stehen. Ich bedaure es ein wenig, denn ich beobachte die Menschen um mich herum sehr gerne, aber eigentlich nervt mich das Gewusel doch ein wenig. Im Restaurant, das schon um 7 Uhr morgens öffnet (daher das frühe Aufstehen), ist es ruhiger und die Stimmung viel besser. Für einen Moment scheint es mehr Kellner als Gäste zu geben, doch nach und nach füllt es sich ohne Hektik. Dass ich morgens nur Milch trinke, ist für die Kellner etwas verwirrend. Irgendwie können sie nicht glauben, dass es solche männlichen Exoten gibt. Nachdem ich in bestem Englisch nachdrücklich meine Milch einfordere und kurz nach dem ersten Glas ein zweites bestelle, gibt mir der entnervte Kellner nach der dritten Bestellung prompt drei Gläser. Na bitte. Der Blick aufs Meer und ein Frühstück mit Ei und Schinken, was will man mehr? Es ist gar nicht so schwer, den Tag an Bord eines riesigen Luxusliners zu verbringen, wenn man weiß, was man will. Nach dem Frühstück ging es in den elften Stock auf eine Sonnenliege. Es war kühl, aber mit zwei Decken und blauem Himmel ließ es sich gut liegen. Dass kurz darauf Musik ertönte, war ja noch ok, aber als die Animateure anfingen, ihren Gymnastikwahnsinn vorzuführen, war es für mich genug. Sylvia blieb an Deck und ich brachte mich und meinen Bauch in Sicherheit. Wir beschlossen beide, uns ein ruhiges Plätzchen zu suchen und den Reisebericht zu schreiben, außerdem hatte ich noch ein paar Geschichten offen und wollte noch das Drehbuch für unseren Filmdreh in der Saline in Halle schreiben. Ich hatte also genug zu tun!

„Can I get one Cappuccino?“, fragte ich den Kellner, gab ihm meine Bordkarte und erhielt nach Abbuchung von 2,50 € und der Servicegebühr von 15 % (0,38 €) sofort das Glas. Die zusätzliche Servicegebühr auf alle Getränke war mir neu und ich hielt es für eine übertriebene Abzocke. Jeden Tag wurden uns schon 14 € Servicegebühr (früher Trinkgeld) ganz selbstverständlich abgezogen, und jetzt noch auf die Getränke, ein Bier kostet so schon 4,75 €, ein Drink in der Regel 6,75 € plus die piratenhafte Servicegebühr. Trotzdem schmeckte der Cappuccino und ich schrieb meine erotische Geschichte, eine Geschichte, die ich wieder niemandem erzählen kann. Wenn man keinen Namen hat und einen riesigen Roman mit mindestens 10 Seiten Erotik schreibt, ist alles, was man in dieser Richtung fabriziert, Schweinerei. Selbst die Nacktfotos meiner Modelle stoßen auf Unverständnis, oh, was der alles sieht, hat er wohl, hat er nicht, muss das sein, was sagt die Frau dazu. Ich habe ein unverkrampftes Verhältnis zu Erotik und Nacktheit, das nennt man Ästhetik, und wenn meine Bilder sogar Frauen erreichen, dann scheine ich etwas richtig zu machen. Und übrigens, nein, das hat er nie gemacht und würde er nie machen, denn das wäre das Gegenteil von Ästhetik. Die erotische Geschichte ist die eines Mannes, der in einer Kneipe eine Begegnung der besonderen Art hat, bei der es gar nicht um Körperlichkeit geht, sondern um Sprache und Fantasie. Feuchtgebiete im Kopf, wobei das Ende der Geschichte doch etwas merkwürdig ist.

So sitze ich an einem großen Tisch, schreibe meine Texte, genieße die ruhige See, der Horizont ist mit riesigen Wolkenbänken bedeckt, schwach erkennt man das Land – Norwegen. Über uns blauer Himmel, in den Ohren die harten Rhythmen eines Hardrock-Titels, der so gar nicht passen will: „Sabbath Bloody Sabbath“. Ich bin zufrieden, höre auf zu schreiben, schaue aufs Meer, lege die Beine hoch und träume vor mich hin. Schön ist das Leben.

Irgendwann ist Mittagszeit. Im Restaurant sitzt ein Ehepaar, das schon mehrere Kreuzfahrten gemacht hat. Wir schwelgen in Erinnerungen und Erfahrungen. Irgendwann erfahren sie von meiner Lehrtätigkeit und scheinen von meinen Ansichten über das Schulsystem nicht unbedingt begeistert zu sein. Außerdem haben sie noch nie einen Lehrer getroffen, der seinen Beruf liebt. Das Gespräch plätschert in der Computersprache vor sich hin. Ich bin froh, wieder einmal provoziert zu haben und bereue nichts. Es ist sowieso Zeit für ein Mittagsschläfchen, meine Seele beruhigt sich, ich denke gar nicht mehr an die Katzen.

Eine Lautsprecherdurchsage, die in allen möglichen Sprachen zum Bingo aufruft, weckt uns; Kaffeezeit und ein Schock. Meine Servicekarte, das wichtigste Dokument an Bord, ist weg. Der Wecker funktioniert nicht. Wir stellen das Zimmer auf den Kopf, reflektieren die letzten Minuten und rechnen die Euros hoch, die ein Ersatz kosten würde. Nach dem Mittagessen drehen wir noch Szenen für meinen Film „Ich habe keinen Bock“, die ich später als Schnitte in den Film einbaue. Unter anderem bin ich gut hundert Meter durch den Flur vor unserer Tür gesprintet und vermute, dass ich dort die Karte verloren habe. Über den Fernseher kontrollieren wir, ob es in den letzten zwei Stunden eine illegale Buchung gegeben hat. Gott sei Dank nicht. Also auf zur Rezeption und hoffen, dass das Ganze nicht zu teuer wird. Der Steward an der Rezeption macht ein ernstes Gesicht und sagt auf Englisch: „Dann müssen Sie leider im nächsten Hafen von Bord gehen“. Ich bin fassungslos, Sylvia hat kein Wort verstanden. Mein Gesichtsausdruck muss so dumm gewesen sein, dass er lächelnd hinzufügt: „Das war ein Scherz. “Kein Problem, Sir, wir sperren die alte Karte und Sie bekommen eine neue. Das kostet hundert Euro.“ Mir fällt zum zweiten Mal die Kinnlade herunter und meine Frau hat es immer noch nicht verstanden. „Das war auch ein Witz.“ Der Witzbold versteht es, einem das Herz stehen zu lassen. Noch ganz aus dem Häuschen, suche ich mir einen Platz zum Schreiben. Vorher kommen wir noch am Kaffeestand vorbei, der eigentlich eine lange Theke mit Kuchen, harten Brötchen, Tee und Kaffee ist, an der die Menschenmassen hin und her wuseln. Es ist mehr los, als mir lieb ist. Ich schnappe mir meine Milch und suche mir ein ruhigeres Plätzchen. Da fällt mir ein schmaler Mann auf, der mitten auf dem Weg abrupt abbiegt. Er weiß etwas. Denn sein Weg führt eine Treppe hinauf, die kaum jemand sieht, und wir sind ein Stockwerk höher, wo kaum jemand ist. Ein idealer Ort zum Schreiben…

Eine Stunde später drängt meine Frau. Kapitänsempfang. Wir müssen runter in den 2. Stock, ca. 250 m den Flur entlang, uns in Schale werfen, heute ist Gala, und wenig später stehen wir mit unserem Begrüßungssekt im Theater Rex. Auf das Foto mit dem Kapitän haben wir verzichtet, aber auf dem Weg zum Theater wurden wir von einer Fotografin fast zum Posieren gezwungen. Normalerweise gebe ich bei meinen Modellen das Kommando, aber hier hat uns die Fotografin wie eine Knetpuppe in alle Richtungen gebogen. Ich machte mir einen Spaß daraus, mich immer wieder anders zu positionieren, die Posen zu übertreiben, aber sie war geduldig und lachte ständig über meine Späße. Im Theater begann die Vorstellung. Der Kapitän, ein junger Mann, unrasiert, begrüßte die Gäste in allen Sprachen, stellte seine Mannschaft vor, erhob das Glas und war kurz darauf verschwunden. Das Ankleiden und der Weg hatten länger gedauert. Immerhin, jeder von uns hat zwei Gläser Sekt getrunken. Ein kurzer Blick über die Reling und schon geht es zum Abendessen. Das fällt bei mir eher spartanisch aus. Ich bin einfach satt, eine Vorspeise und als Hauptgang Ente. Zu mehr kann ich mich nicht überwinden, den Hauptgang rühre ich später kaum noch an. Genug ist genug. Mit dem gekauften Getränkepaket müssen wir jeden Tag eine Flasche Wein und ein Wasser kaufen, damit es sich rechnet. Das Bier ist ein für mich ungenießbares Pils, was andere nicht davon abhält, ein Vielfaches davon zu trinken. Ich habe es satt und will mich nur noch ausruhen. Es ist 20:00 Uhr. Ich werde alt. Sylvia geht allein ins Theater, ich schaue mir den Film „Der Vorleser“ an, der mich fesselt und tief beeindruckt. Es ist dumm und etwas exotisch, auf einer Kreuzfahrt so früh einen Film in der Kabine zu sehen, während das Schiff noch vor Aktivität bebt, aber dieser Film belohnt mich reichlich, auch wenn er schwer verdaulich ist.
Bald kommt Sylvia und wir beide machen uns bettfertig. Gute Nacht Marlowe, gute Nacht Milow, gute Nacht Christa und Nicki, gute Nacht Sylvia, gute Nacht Micha und Klack, die Nacht nimmt mich gefangen.

4. Tag – Flam

Flam (sprich: Flom) ist ein winziger Ort inmitten der norwegischen Fjorde mit nur etwa 300 Einwohnern und 700.000 Touristen im Jahr. Trotzdem hat es einen beeindruckenden Hafen, in dem sogar unser Riesenpott, die Costa Fortuna, anlegen kann. Immerhin ist sie das größte Schiff der 26 Schiffe umfassenden Costa-Flotte. Von außen wirkt es wie ein gigantischer Fremdkörper mitten im Ort. Doch noch stehen wir auf dem obersten 12. Deck und blicken hinunter auf ein kleines, aus Holz gebautes Hotel. Auf dem Balkon steht ein Ehepaar und schaut mit gesenkten Köpfen zu uns herüber. Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen und würde gerne wissen, was sie jetzt denken. Für tiefgründige Gedanken bleibt mir keine Zeit, das Klicken der Kameras ruft auch mich auf den Plan und so tue ich, was jeder Kameraträger tut, knipsen was das Zeug hält, in der Hoffnung, dass sich dieser schöne Augenblick, diese atemberaubende Kulisse von himmelwärts strebenden Felsen tief einprägt und noch eine Weile nachklingt. Dann hat man seine Fotos; “Weißt du noch…”, “Guck mal, was ist das…”, “Wo war das noch mal…”. Ich sehe schon den Spazierstock in der Hand ….

Unser erster Ausflug startet gleich nach dem Frühstück. Er ist mit 69,- Euro der günstigste und für uns auch der interessanteste, da wir mit dem Schiff durch die Fjorde fahren. Es gibt aber auch Ausflüge für 134,- Euro und sogar Buchungen für über 390,- Euro für Individualreisen. Natürlich kann man auch ohne Ausflug vom Schiff aus starten, aber Flam ist sehr überschaubar und reicht für einen 30-minütigen Spaziergang. Wir werden in Busse verladen und unser Reiseleiter erklärt uns auf der folgenden dreiviertelstündigen Fahrt ausreichend die Geschichte und Wirtschaft Norwegens. Endlich verstehe ich, warum Norwegen nicht der EU beigetreten ist. Öl ist ihr dominierender Wirtschaftsfaktor, ein Rohstoff, der sogar die astronomischen Alkoholpreise (Bier 10,- Euro, Wein ab 70,- Euro in der Kneipe) diktiert, weil diese Industrie die Arbeitslöhne unnatürlich in die Höhe treibt. Sogar die Wirtschaft ist durch ein Konsortium für eine gewisse Zeit nach dem Ausbluten der Ölfelder gesichert. Beeindruckend dieses Zukunftsdenken, die deutschen Politiker sollten hier ein Zwangspraktikum machen, vor allem im Bildungssystem, wo Norwegen am meisten von der DDR-Bildung profitiert und die Rosinen einfach kopiert und weiterentwickelt hat. Gut, ich bin im Urlaub und solche Gedanken sind der gesuchten inneren Ruhe eher abträglich, aber der Reiseführer lenkte die Gedanken dorthin, bis wir in Stalheim ankamen. Ein malerischer Ort mit einem Hotel hoch oben auf dem Berg, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf das Fjordtal hatte. Bei einem Tee atmeten wir tief durch, blinzelten in die Sonne und ließen die Seele baumeln. Im Souvenirladen dachte ich an unseren Hausmeister in der Schule und kaufte ihm einen Flaschenöffner. Ich steckte einen 10-Euro-Schein ein, bekam 25 Kronen zurück und Sylvia quittierte das Geschäft mit einem langen Vortrag, warum ich nicht auf sie gewartet hätte, sie hätte Kleingeld, wir bräuchten die Kronen nicht, warum ich nicht nachdenke… und so weiter. Ich konnte all ihren Wenn und Aber, Hätte und Sollte nicht wirklich folgen, weil es mir einfach egal war. Froh, wieder im Bus zu sein und das Thema für den Moment abgehakt zu haben, fuhren wir plötzlich steile Serpentinen hinauf. 18% Steigung und die Gäste ganz hinten waren 2,50m höher als wir ganz vorne. Wir blickten hautnah auf die steil abfallenden Hänge, der Bus schlängelte sich am äußersten Rand nach Thale, so dass Teile davon schon über den Abgrund ragten. Der Reiseleiter versicherte uns, dass Busse (so hieß der schwedische Fahrer wirklich) nach diesem bestandenen Test seinen Führerschein bekommen würde. Haha, sehr lustig.

Nach der zwölften Kurve und einem kurzen Stopp an zwei regenbogenfarbenen Wasserfällen, bei dem die Kameras einfach rechts und links getauscht wurden, weil wir den Bus nicht verlassen konnten, kamen wir wohlbehalten unten an und konnten wenig später an Bord gehen. Ein kleiner Katamaran steuerte uns durch die Fjorde, die jemand mit denen der Donauüberquerung am Eisernen Vorhang verglich. Sicher, auf den ersten Blick konnte man darauf kommen, aber diese Berge waren anders, die Fjorde breiter, von den Felsen flossen unendlich viele Bäche, manchmal sogar breite Wasserfälle. Das kleinste Dorf bestand aus einem einzigen Haus, das nur über eine Leiter zu erreichen war. Es dauerte 40 Jahre, bis es fertiggestellt war und stand dort, wo nicht einmal Gott sich seinen Wohnsitz gebaut hätte. Andere Dörfer waren nur im Sommer bewohnt und nur über einen Trampelpfad zu erreichen. Was treibt die Menschen in diese Einsamkeit?

Zwei Stunden später hatten sich unsere Augen an die Naturpracht gewöhnt, manchmal gab es Robben- und Schweinswalalarm, aber ich konnte keines der Tiere sehen. In der Kabine saßen tatsächlich Menschen, die die ganze Fahrt verschlafen hatten. Diese Ignoranz hat mich fassungslos gemacht. Ich würde doch nicht so viel Geld ausgeben, um die schönsten Momente zu verschlafen. In der Ferne tauchte die Costa auf, ein riesiger Stachel im Fleisch der Natur und gerade deshalb besonders beeindruckend. Ein paar Fotomomente später waren wir an Land, klapperten die Souvenirläden ab und ich lenkte Sylvia auf einen niedlichen Troll: „Für unseren Balkon, kostet nur 25 Kronen“. „Oh ja“, jubelte sie und übersah geflissentlich mein teuflisches Grinsen, endlich die 25 Kronen losgeworden zu sein. Mit manchen Gegnern hat man es eben leicht.

Schnell noch ein kleines Mittagessen mit viel Obst und dann ein kurzes Nickerchen, bevor uns die Kaffeezeit wieder an Deck lockt. Vorher noch etwas Stress, weil mein MP3-Player nicht auffindbar war. Nach dem Karten-Desaster wieder etwas verloren. Aber auch diesmal ging es glimpflich aus. Ich hatte ihn aus unerfindlichen Gründen in meinen Anzug für den Galaabend gestopft, obwohl es völlig sinnlos war. „Deshalb konnte ich mich nicht daran erinnern“, argumentierte ich vorsichtig.

Der gleiche Ort, fast die gleiche Zeit, der Blick in die wildromantische Natur, ich schreibe auf, was mich bewegt, was ich sehe und warte auf das, was kommt.

Das Abendessen fällt für mich ungewöhnlich kurz aus. Ich verabschiede mich bald, das ewige “Gegesse” hat mir auf den Magen geschlagen, ich fühle mich elend. Sylvia muss wieder allein ins Theater, ich brauche meine Ruhe und döse vor mich hin. Etwas regt sich in mir und ich beschließe, morgen vorsichtiger zu sein. Wir schlafen früh ein, es knallt schneller als ich dachte.

5. Tag – Bergen

Hallo Marlowe, hallo Milowe, Nicki lasse ich hier, sie ist 16 und hat Ferien, sieben Uhr ist noch zu früh, hallo Christa, hallo Syl…. aha, sie ist schon aufgestanden und geduscht, in einer Stunde geht unsere Tour los, Zeit zum Duschen, Frühstücken und fertig machen für die Tour. Obwohl es verboten ist, Getränke mit an Bord zu nehmen, da man 0,35 l für 2,75 € selbst verkaufen möchte, nehmen wir unsere Flasche Wasser aus dem Getränkepaket mit. Schließlich haben wir es schon bezahlt.

Bus Nummer 7 bringt uns mit einem Troll durch Bergen zur Seilbahn. Der Troll ist unser Reiseleiter, der durch eine dreiteilige Knubbelnase auffällt, die er zwar nicht tragen kann, aber ich bin im Urlaub und muss meine Sensibilität nicht herauskehren, zumal ich es nur denke. Immerhin ist der Troll alt und freundlich, spricht gut Deutsch und unterhält uns bestens. So erfahre ich viel über die Hansezeit Bergens, was mich als Mittelalterfilmer natürlich besonders interessiert. Bis zu 1000 deutsche Männer, und nur Männer, waren hier in hölzernen Behausungen, in denen kein Feuer gemacht werden durfte. Man schlief zu dritt in einem Bett, wegen der Wärme. Wenn ein Deutscher mit einer Norwegerin ein Kind zeugte, musste er zur „Strafe“ 100 Liter Bier bezahlen. Das war nach Meinung der Zeitgenossen zu wenig. Verständlich im Winter und mit drei Männern im Bett. Der Troll zeigte uns die engen Gassen und die nachgebauten Holzhäuser, man bekommt nur eine dunkle Ahnung von den Verhältnissen, es fehlt der Dreck und der Gestank, es wurde hauptsächlich mit Fisch gehandelt. Fließendes Wasser und Toiletten waren bis 1950 in der Innenstadt unbekannt.

Wir besuchen ein Museum, dessen Inhalt wir durch die Glasscheiben betrachten können. Mit gesenkten Gesichtern, die Hände schützend vor die Augen gelegt, lauschen einige den Ausführungen unseres Trolls, der sich alle Mühe gibt, das Museum quasi von außen zu führen. Das spart den Eintritt, den wir hoffentlich noch nicht bezahlt haben. Dann geht es durch geschichtsträchtiges Gelände zur Bergbahn, wo wir geduldig warten und brav im Takt der fahrenden Züge gehen, bis wir einsteigen dürfen. Ich versuche im Waggon zu fotografieren, kann mich aber kaum drehen, das Objektiv ist voll und ich gebe das Unterfangen entnervt auf. Oben auf dem Berg gibt es vor lauter Menschen kaum ein Kamerafenster, trotzdem gelingt mir ein Panoramafoto, bei dem ich zu Hause die 10 oder 20 Leute noch retuschieren muss. Aber die Aussicht ist atemberaubend. Bergen liegt uns zu Füßen und gibt mit Hilfe der Erklärungen unseres Trolls noch ein paar Geheimnisse preis. Interessant ist die Geschichte von dem Schiff, das in die Luft gesprungen ist. Gemeint ist natürlich ein gesprengtes Schiff nach dem Zweiten Weltkrieg, das fast die Hälfte der Insel zerstörte. Es war ein Unfall, sagt man heute. Kaum haben wir die Schönheit des Ausblicks begriffen, marschiert der Troll zur Seilbahn, die uns hinunterbringt.

Kaum verschnauft, sitzen wir schon wieder im Bus und besichtigen die Stavkirche aus dem 10. Jahrhundert, die sich bei näherem Hinsehen als Nachbau aus dem 20. herausstellt, weil ein Satanist meinte, sie anzünden zu müssen. Trotzdem wurde sie originalgetreu wieder aufgebaut. Geduldig warten wir fast 30 Minuten, bis wir auf das Gelände und in die enge Kirche gelassen werden. Mehr als die erlaubten 60 Personen passen nicht hinein, wir sind 45 und drängen uns schon ein wenig. Stav bedeutet Stamm, und tatsächlich ist die Kirche auf vier mächtigen Stämmen gebaut, und auch im Inneren tragen Stämme, die mit Wurzelbögen verbunden sind, die ganze Konstruktion. Die Leprakranken, von denen es in Norwegen und Island viele gab (der letzte starb 1955 in Bergen), hatten draußen einen Gang um die Kirche herum und konnten durch ein winziges Fenster den Worten des Pfarrers lauschen. Die Kirche hatte auch ein hölzernes Dach, in dessen Mitte ein Turm stand. Natürlich war auch die abgebrannte Vorgängerkirche nicht original, sondern eigens hierher versetzt worden, weil die Eigentümergemeinde die Stavkirche abreißen wollte. Nach Originalfotos stand der Turm noch außen. Da aber die meisten Stavkirchen einen Turm in der Mitte hatten, ließ der ausführende Architekt den Umbau durchführen und zerstörte damit die Einzigartigkeit gerade dieser Kirche. Künstlerische Freiheit, Historizität oder Kulturvandalismus, immerhin hat er dazu beigetragen, dass eines der 30 noch existierenden Exemplare gerettet wurde und uns Costa-Urlaubern einen schnellen Durchgang ermöglicht. Jedenfalls habe ich mehr Fotos gemacht, als ich anschauen konnte.

Die Rückfahrt verlief ohne große Überraschungen. Wir hielten am Schiff an und konnten uns nicht einigen, wie es weitergehen sollte. Ich wäre gerne in der Stadt geblieben, Sylvi wollte im Restaurant essen. Ich hatte keine Lust auf die Wartezeiten im Restaurant, das sie als gemütlich bezeichnete, sie hatte keine Lust auf die Selbstbedienung, weil sie das Schweinefleisch nicht mochte. Nach einem kurzen Wortgefecht, im Volksmund auch leichter Ehekrach genannt, einigten wir uns auf ein Schnellrestaurant mit eigener Ecke und anschließendem Landgang zum berühmten Fischmarkt.

Eine knappe Dreiviertelstunde später ging es durch die alte Festung Bergens in Richtung Altstadt. Wir besuchten einige Souvenirläden und stockten den Atem bei den Preisen für norwegische Pullover. 150,- € war die Kategorie Ausverkauf. Der Fischmarkt war bombastisch, Walfleisch, Krabben in allen Größen und Formen, Brötchen ab 6,- €, Mittagessen, Bratfisch mit Pommes 20,- €. Wir probierten Walfleisch, das eine sehr dunkle Farbe hatte und für uns nach nichts schmeckte, auch nicht nach Fisch. Endlich konnten wir uns dazu durchringen, Kaviar zu kaufen; 6 Gläschen mit rotem, schwarzem und weißem Kaviar für 40,- €, wobei wir den weißen Kaviar zuerst probierten, er hatte nicht den bekannten Salzgeschmack, war also milder und ganz nach dem Geschmack meiner Frau. Der Hafen war voller Schiffe und Menschen und wuselte mit einer Geschäftigkeit um uns herum, die etwas nervös machte. Bergen platzt aus allen Nähten, die Häuser kriechen die Berge hinauf, immer auf der Suche nach neuen Plätzen. Es wird eng in den Bergen und in den Wäldern. Den Bäumen geht die Luft aus.

Zurück an Bord verzichten wir entgegen unserer Gewohnheit auf das Mittagsschläfchen, genehmigen uns zwei Getränke für 15,99 €, setzen die Kopfhörer auf. Bei mittelalterlicher Musik sitze ich über meinem Reisebericht und lutsche genüsslich den Drink aus Rum, Wodka, Lemon, Ice Tea.

Es ist wieder Essenszeit, das lange Sitzen an fremden Tischen mit Menschen, die man einmal trifft und dann nie wieder. Man unterhält sich unverbindlich, ist höflich und dann ist die Reise zu Ende, ohne dass man sich weiter umeinander kümmert. So ist das Leben. Ich unterhalte mich gerne, aber manchmal möchte ich auch allein sein, während Sylvia die Geselligkeit liebt und diese Abende sehr genießt. Der Abend neigt sich dem Ende zu und wir beschließen, noch ein bisschen zu bummeln und einen Remy Martin zu trinken. So sitzen wir nach dem Abendessen noch eine Weile in einer Bar und ich beobachte die wuselnden Kellner. Es ist wie in einem Ameisenhaufen. 8 Kellner in blauen Jacken schütteln, rühren und mixen, sprinten zur Bar, geben die Quittungen und obwohl es im ersten Moment so aussieht, als wäre das Chaos ausgebrochen, scheint sich nach einer Weile doch eine gewisse Struktur einzustellen. Die Müdigkeit kommt heute erst spät, gegen 23:00 Uhr. Ich wälze mich noch eine Weile im Bett, Gute Nacht Marlowe, Gute Nacht Milow, Gute Nacht Nicki, Gute Nacht Christa, Gute Nacht Sylvi und Klack, aber irgendwie klackt es erst eine ganze Weile später. Ich denke an dies und das und stelle mich auf ein langes Wachbleiben ein… Aber da klopft schon Morpheus an meine Tür.

6. Tag – Stavanger

Der Morgen und das Aufstehen sind früh. Zu früh für mich, ich bin wohl zu spät eingeschlafen. Trotzdem lasse ich die übliche Prozedur über mich ergehen, duschen, rasieren, Zähne putzen, anziehen, warten, bis Sylvia endlich fertig ist. Nach dem Frühstück sind wir mit vielen anderen Ausflüglern auf einem Katamaran und mit 28 Knoten geht es in die Fjorde. Was uns dort erwartet, fordert alle Sinne heraus. Schroffe, steil abfallende Felsen im Lysjefjord, der seinen Namen dem hellen Gestein verdankt (Lysje=hell/Licht). An jeder Attraktion hält das Schiff ein paar Minuten und kommt den Wasserfällen so nahe, dass man die Gischt im Gesicht spürt, wenn man einen Platz ganz vorne ergattert hat. Auf einem mit Gras bewachsenen Felsvorsprung grasen 3 Ziegen. Der Katamaran nähert sich und lässt den Steg herunter. Ein Besatzungsmitglied und ein kleiner Junge füttern die Ziegen unter dem Beifall der Menge mit Brot. Plötzlich springt der Ziegenbock, ein stattlicher Kerl mit riesigen Hörnern, an Bord und rennt auf die Menschen zu. Panik. Schreie. Ich springe dazwischen und packe den Bock zusammen mit dem Besatzungsmitglied an den Hörnern. Der Bock ist ganz lieb, lässt sich streicheln und auch dirigieren. Am liebsten würde er weiter auf das Schiff laufen, aber das können wir mit etwas Kraft verhindern. Das Schiff wird etwas zurückgedrängt, muss neu manövrieren und wir können den Bock durch gemeinsames Ziehen und Schieben wieder an Land hieven. Ich rieche bis zum Schluss nach Ziegenbock, grinse aber zufrieden über das Erlebnis, das Sylvia genüsslich filmt. Der Himmel ist von Regenwolken bedeckt, durch die hier und da das Licht wie riesige Scheinwerfer bricht. Für die Kamera ergeben sich grandiose Landschafts- und Stimmungsbilder. Wir fahren vorbei an einsamen Landschaften, wo hin und wieder ein Bauernhof oder ein Haus steht, und man fragt sich unwillkürlich, wie die das Material herbekommen haben, wie sie die Scheiben auf den Berg geschleppt haben und warum gerade diese Gegend, wo oft kilometerweit nichts ist. Wir fahren an der Kanzel vorbei, passieren bei schöner Musik einen Felseinschnitt und lauschen den Geschichten von Liebe, Leid und Leidenschaft, die uns der Kapitän erzählt und die Landschaft mit dem Leben verbindet. Wir erinnern uns noch an den armen Heinrich, der, weil er verbotenerweise Alkohol braute, seine Sikke verlassen musste, in seine Heimat abgeschoben wurde und arm bis zu seinem Tod in den weiten Felsen wartete, aber schon sind wir wieder im Hafen. Die Kamera hat viele Bilder für uns in ihren Speicher gebrannt, und zu Hause machen wir uns auf den Weg nach Sikke, um ihr ein spätes Denkmal zu setzen. Schöne neue Welt.

Ich habe Sylvia versprochen, im Restaurant zu Mittag zu essen, und ich halte mein Versprechen, sehr zu meinem Leidwesen, denn wir sitzen an einem ungünstigen Platz und außerdem sind unsere Tischnachbarn Italiener. Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber es scheint einen Generationskonflikt zwischen Mutter und Tochter mit Sonnenbrille zu geben. Der Vater mischt sich nicht ein, will sich mit uns unterhalten, scheitert aber an seinem mangelnden Englisch, das eigentlich gar nicht vorhanden ist. Wir tauschen ein paar Städtenamen aus und beenden das Gespräch.

Bis auf die Tatsache, dass ich mein Mittagessen doppelt bekomme, passiert nichts weiter und wir können uns zur gewohnten Mittagsruhe begeben.

Um 16:00 Uhr erwartet uns im Theater eine Informationsveranstaltung über das Schiff und seine Besatzung. Es ist schon fast unheimlich, wie diese riesige Stadt funktioniert, was alles im Verborgenen abläuft. 8-9 Monate ist das Bordpersonal an Bord, arbeitet sieben Tage die Woche, ohne freien Tag oder Urlaub. Jeden Tag Wäsche waschen, Zwiebeln schneiden, Betten machen, Arbeiten, die kein Harz 4 Empfänger freiwillig machen würde. Die Deutschen sind ein faules, bequemes Volk geworden. Das ist Fluch und Segen zugleich. Natürlich kann man mir sofort die Kreuzfahrt entgegenhalten, aber im Alter des Personals (zumindest einiger) habe ich auch in der Halberstädter Würstchenbude stupide Arbeiten verrichtet und immerhin zwei Berufe erlernt, bevor ich das gute Geld unseres verkorksten Bildungssystems einstreichen durfte. Ich bin gerne Lehrer, das sei ausdrücklich betont, aber das Bildungssystem ist doch marode und verkommt zur bloßen Beherbergung von mehr oder weniger willenlosen Schülern. Bildung findet längst woanders statt. Ich reiße mich aus meinen trüben Gedanken, ich habe Urlaub. Wir gehen Kaffee trinken und finden unseren gewohnten ruhigen Platz, an dem ich bis zum Abendessen in aller Ruhe meinen Reisebericht schreiben kann. Die norwegische Küste zieht an uns vorbei, wir sind auf dem Weg nach Oslo, 320 Seemeilen entfernt, der letzten Station unserer Reise. Wie es wohl Marlowe und Milow geht?

Nach dem Abendessen und dem üblichen Smalltalk geht es wieder in die Einkaufspassage. Wie auf jedem Schiff finde ich wieder eine Uhr, diesmal von Fossil. Die wollte ich schon immer unbedingt haben. Nach kurzer Diskussion mit Sylvia über das Design wähle ich eine besonders schöne mit blauem Zifferblatt, weißen Zeigern und schwarzem Metallarmband. Der Preis ist moderat und akzeptabel und ich bin glücklich. Auf das Abendprogramm, ein Konzert, verzichten wir, nicht aber auf zwei Glennfiddich und zwei Remy Martin, das gibt die nötige Bettschwere. Gute Nacht Marl…, das war ein Whisky zu viel, es macht klack.

7. Tag Oslo

Regenschwere Wolken hängen über der Ostsee und Tropfen bilden immer wieder neue kleine Wellenringe, unendlich viele hier im Hafen von Oslo. Das Frühstück schmeckt trotz des Regens, es ist der letzte Tag unserer Reise, morgen gehen wir in Warnemünde von Bord. Dann geht es nach Hause, die Schäden unserer Katzen begutachten, eventuell die Asche wegräumen, manchmal hat man schon komische Gedanken, alles geht gut. Ich vertraue Nicki, unserer Katzenmama Nummer eins, obwohl ein Lehrer keinem Schüler seiner Schule trauen sollte, das ist ein ehernes Gesetz. Aber sie ist in der Mittelaltergruppe, mit der ich arbeite, meine Hauptdarstellerin und eigentlich etwas ganz Besonderes. Sie hat mich und uns noch nie enttäuscht, ich kenne ihre Eltern und eigentlich ist sie ein ganz liebes Mädchen, fast zu lieb, was wiederum misstrauisch macht. Sogar Sylvia hat sie ins Herz geschlossen, was an sich schon ein Wunder ist. Christa, 76 Jahre, ist eine Witwe mit einem bewegten Leben und kümmert sich seit Jahren um unsere Tiere. Ihr Herz macht manchmal Probleme und dann muss der Notarzt kommen, deshalb habe ich Nicki mit ins Boot geholt. Na ja, man macht sich so seine Gedanken und ich gehöre zur Kategorie „sehr sensibel“.

Heute gönne ich mir zwei Eier, obwohl ich das mehr oder weniger die ganze Woche mache, denn es gibt Rühreier, Omeletts und andere Eierspeisen, denen ich kaum oder gar nicht widerstehen kann.

Da unsere Führung mangels Beteiligung abgesagt wurde, haben wir uns entschlossen, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Das Schiff ist so groß, dass wir das Schloss gegenüber gut sehen können und auf eine Besichtigung verzichten. Es wird viel fotografiert und schon haben wir den ersten Ausflug hinter uns, ohne uns groß zu bewegen. Das ist toll. Oslo ist eine moderne Stadt, so dass die wenigen Sehenswürdigkeiten schnell umrundet sind. beeindruckend ist das riesige Rathaus, besonders bemerkenswert die alte riesige goldene Uhr. Überall begegnen wir Denkmälern von Persönlichkeiten, Politikern, Dichtern, Komponisten, Ibsen ist für die Deutschen immer noch einer der bekanntesten. Wir besichtigen den Königspalast und seinen Park und freuen uns, die Wachen in Bewegung zu sehen. Ich ernte böse Blicke von Sylvia, als ich den heiligen Park entweihe, wo es doch keine Toiletten gibt!

Bald haben wir unseren kleinen Stadtplan abgearbeitet und sind anderthalb Stunden später wieder im Hafen, bewundern die Segelschiffe, die auch für Passagiere bereit liegen. Unsere Costa Fortuna überragt alles bei weitem. Inzwischen habe ich sie von allen Seiten fotografiert, auch von innen sind die meisten Winkel fotografiert. Bisher habe ich 1200 Bilder gemacht. Nur die wenigsten werden für eine Diashow in Frage kommen. Aber diesmal habe ich viel Wert darauf gelegt, aus verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren und nicht nur zu schießen. Die Bilder, die ein Fotograf von Sylvia und mir gemacht hat, waren so gestellt, dass man sich fast schämen musste. Dieses blöde Kopf an Kopf lehnen, die Füße unnatürlich gedreht, die Hände komisch übereinander gelegt, da wurde ein komisches Paar fotografiert, das nichts mit uns zu tun hatte. Wenn man Menschen fotografiert, sollte man ihre Seele fotografieren und nicht nur Hochglanzfotos machen, wo der halbe Anzug noch zerknittert ist von den seltsamen Posen. Die Bilder, sieben an der Zahl, hervorragend belichtet, waren ihren Preis von 29,99 € bei weitem nicht wert, hätte man das Geld dafür ausgegeben, könnte man sie als Lehrbeispiel für schlechte Fotografie verwenden. Ich will nicht überheblich sein, aber Sylvia und ich waren uns einig, wir können es besser.

An Deck der Fortuna gehen wir auf Menschenjagd. Ich versuche, ungewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Posen zu fotografieren, da ist die hübsche Schwarze in der Reihe mit den Möwen, da ist der Glatzkopf, den ich von oben fotografiere, da ist der junge Mann, der in Decken gehüllt auf der Liege liegt, obwohl die Sonne durchbricht. Da ist der Pfeife rauchende Mann, ganz nachdenklich, die dicke alte Frau, die so einsam auf einer Bank sitzt, da ist der kleine Junge, der den ganzen Pool für sich hat, der Page, der mit den Decken der Gäste kämpft, es sind so viele Details, so viele Geschichten, die ich in Sekundenbruchteilen einfange. In der Diashow wird sie nur für diesen Bruchteil sichtbar sein und fast gesichtslos wieder in ihrer Geschichte und in ihrem Leben verschwinden. Was wissen wir schon, was weiß ich schon?

Irgendwann ruft das Mittagessen, ich muss nicht ins Restaurant, ich kann an der Theke auswählen. Sylvia schmeckt es nicht, heute ist selbst mir das Fleisch zu trocken, wir entschädigen uns mit Eis und einer großen Portion Garnelen, für mich gibt es noch Muscheln und Tintenfischbabys. Lecker. Sylvia verzieht das Gesicht und bestellt ein zweites Glas Wein. Nach dem Mittagsschlaf bereiten wir uns schon auf den Abschied von der Costa vor. Im Theater werden wir in den Ablauf der Ausschiffung eingewiesen. Eigentlich nichts Neues für uns. Wir sind schon fast zu Hause. Marlowe, Milow wir kommen. Noch sind wir unterwegs, die See wird leicht stürmisch, das Schiff schaukelt, was uns kaum stört. Ich sitze und schreibe in einem bequemen Sessel, Sylvia hat es sich auf der Couch gemütlich gemacht und lauscht ihrem MP3-Player, der Raum vor uns ist mäßig gefüllt. Wir sind noch im Urlaub.